Kelsens Fundament steht seit dem 10. November 1920
Österreichs Städte und Gemeinden blicken auf eine langjährige, von vielen Fortschritten und Rückschlägen geprägte Verfassungsgeschichte zurück. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde das Provisorische Gemeindegesetz, RGBl 170/1850 erlassen, in dem sich die Grundzüge der heutigen Gemeindestrukturen und Aufgaben deutlich erkennen lassen. Dessen oft zitierter erster Artikel bestimmte: „Die Grundfeste des freien Staates ist die freie Gemeinde.“ Der Beschluss über die erste Verfassung der Republik Österreich jährt sich heuer zum 100. Mal.
Der Weg zur Bundesverfassung
Die am 16. Februar 1919 gewählte konstituierende Nationalversammlung beschloss als erstes durch freie und gleiche Wahlen gebildetes Parlament der österreichischen Geschichte das Gesetz vom 1. Oktober 1920, womit die Republik Österreich als Bundesstaat eingerichtet wurde (Bundes-Verfassungsgesetz).
Nur wenige Wochen später, am 10. November 1920, wurde die Nationalversammlung durch den Nationalrat und den Bundesrat abgelöst, aus der Staatsregierung wurde die Bundesregierung und der Staatskanzler zum Bundeskanzler.
Das Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) wurde am 5. Oktober 1920 im Staatsgesetzblatt unter Nr. 450 kundgemacht, mit dem Übergang vom Staatsgesetzblatt zum Bundesgesetzblatt wurde die Kundmachung am 10. November 1920 mit der Nr. 1 im neuen Bundesgesetzblatt wiederholt - damit hatte die junge Verfassung auch ihren heute noch geltenden Titel - B-VG 1920, BGBl 1/1920. Über vieles – aber bei Weitem nicht alles - herrschte damals in der jungen Republik politische Einigkeit.
Die Stellung der Gemeinden in der Bundesverfassung
Kein wirklich abschließender Konsens konnte hinsichtlich der Stellung der Gemeinden als Selbstverwaltungskörper und ihre Rolle im Bundesstaat erzielt werden. Wie auch in der heutigen Bundesverfassung fanden die gemeinderelevanten Bestimmungen ihre Heimat in den Art 115 bis 120 B-VG. Die rechtliche Stellung, welche die Verfassungsarchitekten – allen voran der Rechtspositivist und Verfassungsrichter Hans Kelsen – den Gemeinden zugeordnet hätten, ist jedoch mit der heutigen verfassungsrechtlichen Stellung in mehrfacher Hinsicht nur sehr eingeschränkt vergleichbar.
Eine wesentliche Rolle wurde damals den Gebietsgemeinden zugedacht, die in der heutigen Bundesverfassung im Art 120 B-VG nicht einmal mehr ein Mauerblümchendasein führen.
Die Ortsgemeinden waren den Gebietsgemeinden untergeordnet und diese wiederum den Ländern (Art 116 Abs 2 B-VG idF BGBl 1/1920). Ortsgemeinden mit mehr als 20.000 Einwohnern hatten das Recht, zu Gebietsgemeinden erklärt zu werden, dann wären Gebiets- und Gemeindeverwaltung zusammengefallen. Wenigstens hätte – allerdings noch weit entfernt von der starken verfassungsrechtlichen Bedeutung, die dem eigenen Wirkungsbereich der Gemeinden durch die B-VG-Novelle 1962 eingeräumt wurde – die Verfassung von 1920 den Ortsgemeinden bestimmte behördliche Aufgaben in erster Instanz vorbehalten, die sich auch im heute geltenden Verfassungstext wiederfinden:
- die Obsorge für die Sicherheit der Person und des Eigentums (örtliche Sicherheitspolizei),
- das Hilfs- und Rettungswesen,
- die Sorge für die Erhaltung der Straßen, Wege, Plätze und Brücken der Gemeinde,
- die örtliche Straßenpolizei,
- Flurschutz und Flurpolizei,
- die Markt- und Lebensmittelpolizei,
- die Gesundheitspolizei sowie schließlich
- die Bau- und Feuerpolizei.
Ihre gedachte Position als selbstständiger Wirtschaftskörper findet sich in der heutigen Verfassung nahezu wortgleich wieder: Orts- und Gebietsgemeinden wurde das Recht eingeräumt, Vermögen aller Art zu besitzen und zu erwerben und innerhalb der Schranken der Bundes- und Landesgesetze darüber zu verfügen, wirtschaftliche Unternehmungen zu betreiben, ihren Haushalt selbstständig zu führen und Abgaben einzuheben.
Ein weiteres Kernstück bildete Art 119 B-VG idF 1/1920: Organe der Ortsgemeinde sollten die Ortsgemeindevertretung und das Ortsgemeindeamt, die Organe der Gebietsgemeinde die Gebietsgemeindevertretung und das Gebietsgemeindeamt sein.
Die Wahlen in die Orts- bzw. Gebietsgemeindevertretungen sollten auf Grund des gleichen, unmittelbaren, geheimen und persönlichen Verhältniswahlrechts aller Bundesbürger stattfinden, die im Bereich der zu wählenden Vertretung ihren ordentlichen Wohnsitz hatten. Für die Wahlen in die Gebietsgemeindevertretungen wurde der Gerichtsbezirk als Wahlkreis bestimmt, die Zahl der Abgeordneten war auf die Wahlkreise im Verhältnis der Bürgerzahl zu verteilen.
Sozialpartnerschaft meets Gemeindeorganisation
Eine weitere Besonderheit stellten die sogenannten Verwaltungsausschüsse dar: Die Orts- bzw. Gebietsgemeindevertretungen konnten aus ihrer Mitte besondere Verwaltungsausschüsse bestellen, die nicht nur aus Mitgliedern der Gemeindevertretung bestanden, sondern auch durch die Heranziehung von Vertretern bestimmter Berufs- oder Interessentengruppen erweitert werden konnten.
Sozialpartnerschaft meets Gemeindeorganisation, verkürzt ausgedrückt.
Die anfängliche Einigung über die ersten Grundzüge der Gemeindeverfassung zwischen den Parlamentsparteien, Bund und Ländern scheiterte daran, dass jenes Verfassungsgesetz, mit welchem die weiteren Grundsätze für die „Organisation der allgemeinen staatlichen Verwaltung in den Ländern nach den Artikeln 115 bis 119 B-VG“ hätten festgelegt werden sollen, nicht erlassen wurde.
Pech für Städte und Gemeinden oder vielleicht sogar ein Glücksfall für die Kommunen?
Jedenfalls wurde über die endgültige Ausgestaltung der Gemeindeautonomie mehr als vier Jahrzehnte gerungen. 1962 wurden die Grundsätze der kommunalen Selbstverwaltung – diesmal unter maßgeblicher Mitwirkung der kommunalen Interessenvertretungen Gemeindebund und Städtebund – neu gefasst und deutlich stärker verankert..
Der Vergleich zwischen der Rechtslage 1920 und jener von 1962 zeigt klar, dass im Format des B-VG von 1920 die Gemeindeautonomie nur auf wackeligen Beinen gestanden wäre. Die Gemeinden hätten 1920 als Untereinheiten der Länder das vierte Glied einer Verwaltungskette mit überschaubaren Kompetenzen und wenig ausgeprägter Eigenverantwortung gebildet
Erst 1962 wurde dem Parlament durch zwei überzeugte Kommunalpolitiker – Franz Jonas und Ernst Grundemann-Falkenberg – der Entwurf einer Gemeindeverfassung überreicht, durch welche die österreichischen Gemeinden gegenüber Bund und Ländern staatsrechtlich auf Augenhöhe gestellt wurden. Dennoch kann – auch aus Gemeindesicht – der Stellenwert der Bundesverfassung von 1920 nicht hoch genug geschätzt und gewürdigt werden: letztlich steht dieser Verfassungstext am Anfang von allem, worauf nachfolgende Generationen das Haus Österreich errichtet haben.
Zur Person
Der Jurist Hans Kelsen wurde 1881 in Prag geboren und wuchs in Wien in einer deutschsprachigen jüdischen Familie auf. Sein Vater, ein Lusterfabrikant, gestaltete unter anderem die Beleuchtung in Wiener Synagogen. Nach dem Zusammenbruch der Monarchie wurde Kelsen von Staatskanzler Karl Renner mit der Arbeit an einer Bundesstaatsverfassung für die junge Republik beauftragt. Er entwickelte das – später so bezeichnete – österreichische Modell der Verfassungsgerichtsbarkeit, das weltweit Nachahmung fand.
Kelsen, der von 1918 bis 1930 Professor an der Universität Wien war, erlangte vor allem für seine Beiträge zur Rechtstheorie und zur politischen Theorie internationale Bekanntheit. Für seine innovativen Ansätze wurde er – im zunehmend antisemitischen Klima der Zeit – angefeindet. Bereits 1930 verließ Kelsen Wien, über mehrere Stationen in Europa emigrierte er 1940 schließlich in die USA, wo er bis zu seinem Tod 1973 lebte. Er gilt heute als einer der bedeutendsten Rechtsgelehrten des 20. Jahrhunderts.