100 Jahre Bundesverfassung
Neu ist die Verfassung, korrekt eigentlich das Bundes-Verfassungsgesetz, nicht – und damit meine ich nicht die Tatsache, dass seit ihrem In-Kraft-Treten am 10. November 1920 genau 100 Jahre vergangen sind. Nein, eigentlich meine ich die Tatsache, dass sich in der österreichischen Verfassung teils uralte Institutionen wiederfinden. So wurde der Rechnungshof – laut B-VG soll er Korruption bekämpfen und kontrollieren – im Dezember 1761 als „Rechen-Cammer“ von Maria Theresia installiert.
Die Frage lautet also: Gibt es „eine Verfassung“? Und genau genommen muss die Antwort darauf lauten: Nein, die eine Verfassung – wie in den USA – gibt es nicht.
Lesenswert zu diesem Thema ist vor allem der Beitrag von Moritz Moser in der Ausgabe 16 von „Addendum“ (der letzten Print-Ausgabe der Rechercheplattform übrigens). Er stellt eine bemerkenswerte Auflistung zusammen, zu welchen Zeitpunkten die jeweiligen Verfassungen oder die Versuche zur Installation einer Verfassung unternommen wurden. Er stellt damit auch eine interessante These auf, warum in Österreich nur sehr wenige Menschen über die Verfassung Bescheid wissen: „Die österreichische Verfassung hat wenig mit Erfolgen zu tun.“
- 1848: Die erste Verfassung war das bald beseitigte Ergebnis einer erfolglosen Revolution.
- 1867: Die Staatsgrundgesetze waren die Konsequenz des verlorenen Krieges gegen Preußen.
- 1920: Der Erste Weltkrieg war gerade verloren, die Monarchie untergegangen – der Rest, der „Österreich“ war, wurde von den wenigsten für lebensfähig gehalten.
- 1945: Als das B-VG wieder in Kraft trat, war es anfangs wenig mehr als eine ungeliebte Kompromisslösung.
Vergleicht man die Entstehung anderer Verfassungen, stellt sich ein frappierender Unterschied dar: Beispielsweise steht die amerikanische Verfassung für die schwer erkämpfte Unabhängigkeit, das deutsche Grundgesetz steht für den Aufbruch in eine neue Zeit.
Kompromisslösung?
Gut, eine wenig geliebte Kompromisslösung also. Wie unbeliebt das Thema ist, hat sich auch in der monatlichen Redaktionskonferenz von KOMMUNAL gezeigt: Als wir diese Ausgabe und die Idee zu einer Titelgeschichte über „100 Jahre Bundesverfassung“ diskutiert haben, verzogen sich einige der jüngeren Gesichter und das Wort „fad“ war zu vernehmen. Der Konter lautete: „Fad vielleicht, aber wichtig!“
Und wie zäh diese Kompromisslösung ist, wird bei der Lektüre von Mosers Beitrag klar: Seit 1920 wurde demnach die Verfassung 130-mal geändert. Rechnet man die finsteren Jahre zwischen 1934 und 1945, als die Verfassung gar nicht in Kraft war, weg, sind das laut Moser eineinhalb Änderungen pro Jahr.
Und trotzdem haben zentrale Bestimmungen der Verfassung von 1920 bis heute überdauert. Beispiel: Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus.
Kompromisse also und eine starke Stellung der Minderheiten
Die politischen Verhältnisse, das Misstrauen und der Zwang zu Kompromissen der 1920er-Jahre prägen also den einen Teil der Verfassung. Aus der Zeit rühren auch Dinge wie die im internationalen Vergleich geringen Kompetenzen der Bundesländer, die Sitzverteilung im Bundesrat oder die im Grunde starke Gemeindeautonomie.
Einen anderen Punkt beleuchtet die sehenswerte Schau des Jüdischen Museums Wien über Hans Kelsen, den Architekten des Bundes-Verfassungsgesetzes, eine „vergessene Symbolfigur“, wie die „Presse“ titelte. In dem Beitrag meinte Marlene Aigner, dass auch die Tatsache, dass Kelsen einer jüdischen Familie entstammte, der Verfassung einen besonderen Stempel aufgedrückt habe: den Willen, auf Minderheiten und Minderheitenrechte zu achten.
Jedenfalls ist es bemerkenswert, wie sehr sich die grundsätzliche Einstellung zu unserer Verfassung in diesen 100 Jahren geändert hat. Von der Kompromisslösung zur „Schönheit und Eleganz“ (Bundespräsident Alexander van der Bellen im Zusammenhang mit der Ibiza-Affäre des Jahres 2019).
Marlene Aigners Schlusssatz, dass sich „Hans Kelsen wohl selbst nicht gedacht hat, dass sein Werk genau 100 Jahre später als ‚heller Fixstern in schwierigen Zeiten‘ bezeichnet werden würde“, ist nichts hinzuzufügen.
Eine Verfassung für die Republik
Seit 1848 gab es Versuche zur Etablierung einer Verfassung. Das Staatsgrundgesetz 1867 kodifizierte die wesentlichen Grund- und Freiheitsrechte und schaffte damit die Grundlagen eines aus damaliger Sicht liberalen Rechtsstaats.
Im Herbst 1918 war es absehbar, dass der Erste Weltkrieg nicht mehr lange dauern würde und eine neue Staatenordnung in Europa im Entstehen war. Am 21. Oktober 1918 kamen die 208 verbliebenen Abgeordneten des Reichsrats, die 1911 in den deutschsprachigen Wahlbezirken gewählt worden waren, im Niederösterreichischen Landhaus in Wien zusammen. Sie wollten einen neuen, selbstständigen Staat gründen. Am 30. Oktober 1918 beschlossen sie als Provisorische Nationalversammlung das „Gesetz über die grundlegenden Einrichtungen der Staatsgewalt“. Das war das Kernstück der ersten republikanischen Verfassung Österreichs.
Nachdem Kaiser Karl am 11. November 1918 auf die Teilhabe an den Regierungsgeschäften verzichtet hatte, fasste die Provisorische Nationalversammlung am 12. November 1918 den Beschluss betreffend das „Gesetz über die Staats- und Regierungsform von Deutschösterreich“. Damit wurde auch erklärt, dass Deutschösterreich „Bestandteil der Deutschen Republik“ sein sollte. Bereits am 14. November 1918 wurde das „Gesetz betreffend die Übernahme der Staatsgewalt in den Ländern“ beschlossen. Am 22. November 1918 folgte das „Gesetz über die richterliche Gewalt“.
Am 18. Dezember 1918 gab es dann schon die erste Änderung zum „Gesetz über die grundlegenden Einrichtungen der Staatsgewalt“. Aber damit verfügte die Republik über funktionsfähige Staatsorgane. Am 25. Jänner 1919 wurde der Vorläufer des heutigen Verfassungsgerichtshofs und weltweit das erste Gericht, das diese Bezeichnung trug, ins Leben gerufen. Am 6. Februar 1919 folgte der Staatsrechnungshof. Am 14. März 1919 wurden mit dem Gesetz über die Volksvertretung und dem über die Staatsregierung die Zuständigkeiten und Rechte von Parlament und Regierung noch einmal genauer geregelt.
Am 1. Oktober 1920 beschloss die Nationalversammlung einstimmig das Bundes-Verfassungsgesetz. Vorausgegangen waren mehrtägige hitzige Diskussionen
Der Präsident der Nationalversammlung, Karl Seitz, fand nach der Annahme des Bundes-Verfassungsgesetzes dennoch versöhnliche und optimistische Worte. Er betonte, dass trotz aller politischer Differenzen die Zustimmung zum Bundes-Verfassungsgesetz einstimmig erteilt worden und der Text damit von allen Parteien, somit auch allen Teilen der Bevölkerung, gutgeheißen worden sei.
Am 17. Oktober wurde der erste Nationalrat, der Nachfolger der Konstituierenden Nationalversammlung, gewählt. Am 10. November 1920, dem Tag der ersten Sitzung des Nationalrats, trat das Bundes-Verfassungsgesetz in Kraft.
Quelle: parlament.gv.at
Wissen: Verfassungen rund um die Welt
Die älteste Verfassung der Welt ist jene der USA. Sie ist 1789 in Kraft getreten und seither nur 27 Mal geändert worden. Das liegt daran, dass sie nur in einem komplizierten und aufwendigen Verfahren ergänzt werden kann.
Weil die Verfassung so alt ist, kommt den Gerichten in den USA eine wichtige Rolle zu. In ihren Entscheidungen stellen sie fest, wie der Verfassungstext heute zu verstehen sei. Die Wahl von RichterInnen hat dementsprechend große politische Bedeutung.
Die ältesten Verfassungen Europas sind jene von Norwegen (1814), den Niederlanden (1815), Belgien (1831), Luxemburg (1842) und Dänemark (1849).
Als moderne Verfassungen gelten jene, die nach 1945 entstanden sind. Nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus stehen hier Menschenrechte, Grundprinzipien und Sicherung von Demokratie und Rechtsstaat im Mittelpunkt. Als Modell gilt das deutsche Grundgesetz 1949.
Quelle: parlament.gv.at