
Das Wahlverhalten hat weniger mit einem ökonomische Niedergang ländlicher Regionen zu tun, als mit einem Gefühl der Vernachlässigung.
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Politik
Stadt vs. Land. „Die“ neue Konfliktlinie?
Der Gegensatz von Stadt und Land hat lange nur wenige interessiert. Heute steht er jedoch wieder im Zentrum von gesellschaftlichen, politischen und sozialwissenschaftlichen Diskussionen. Das geschieht oft sehr schlagwortartig:
Viele finden im ländlichen Lebensentwurf, wie auch immer definiert, das Ideal eines authentischen, gewachsenen, kooperativen, nachhaltigen, natürlichen, schlicht eines guten Lebens. Die Stadt dagegen repräsentiere Fehlentwicklungen der Moderne: Ihr werden entfremdete Lebensmodelle, abgekoppelte Nischengesellschaften, soziale Vereinzelung angekreidet.
Die Städte halten dagegen: Sie verstehen sich gleichermaßen idealtypisch als Zentren einer fortschrittlichen und vielfältigen Gesellschaft, Politik und Wirtschaft. Und genau dieses Lebensmodell sehen sie direkt bedroht durch das Land, durch unterschiedliche Biografien, verschiedene und verschieden erfolgreiche Entwürfe lokalen Wirtschaftens, durch andere, oft gegensätzliche Präferenzen und Wertesysteme und nicht zuletzt durch das Wahlverhalten.
Eingängige Schlagworte dieser Diskussionen sind „Stadt, Land, Frust“ (Haffert 2022), „Die Rache der Dörfer“ (Kaschuba 2016), „ländliche Revolte“ (Monnat und Brown 2017) oder „Die Revanche der Orte, die nicht zählen“ (Rodríguez-Pose 2018).
Gesellschaftliche Konflikte und politisches Verhalten
In der sozialwissenschaftlichen Forschung wird die Vogelperspektive auf diese Gegensätze durch die Theorie politischer Konfliktlinien abgesteckt. Das weiterhin sehr einflussreiche historische Raster von Stein Rokkan und Seymour Martin Lipset (1967) skizziert ein System von zwei funktionalen (Arbeit vs Kapital, Staat vs Kirche) und zwei territorialen Konfliktlinien (Stadt vs Land und Zentrum vs Peripherie).
Folgende Beiträge haben dieses System um den Gegensatz von Materialisten und Postmaterialisten erweitert. Schließlich haben neuere Revisionen auch die ökonomischen und politischen Folgen der Globalisierung hinzugenommen und mit dem Stadt-Land-Konflikt kausal verbunden: Publizistik und Wissenschaft vermuten die Gewinner der Globalisierung, mit ihren fortschrittlichen Präferenzen für offene Gesellschaften, in der Stadt und die Verlierer der Globalisierung, mit einer Vorliebe für tradierte Werte und stärker abgeschlossene (oder: abgeschirmte?) Politik und Wirtschaft, auf dem Land.
In diesem Beitrag prüfe ich schlaglichtartig, ob empirische Daten zu Territorium und Wahlverhalten diese Zuschreibungen und diesen Zusammenhang für österreichische Nationalratswahlen unterstützen oder widerlegen.
Mit Blick auf konzeptionelle Grundentscheidungen können diese Thesen durch die Makroperspektive landesweiter Zufallssamples österreichischer Wahlberechtigter nur bedingt nachgezeichnet werden. Diese Methode leuchtete weite Teil des Landes nicht hinreichend aus, und die Einbindung von Wählern in ihre regionalen Kontexte bleibt oft unbeachtet.
Für einige Schlaglichter auf den Ausgang der vergangenen Nationalratswahlen vom September 2024 benutzen wir deshalb aggregierte Wahldaten von 2092 österreichischen Gemeinden und den 23 Wiener Gemeindebezirken. Abbildung 1 zeigt eine Darstellung, die viele bereits aus der Presse kennen: Wir malen diese Gebiete in einer politisch-geografischen Karte jeweils in der Farbe der stärksten Partei aus. Dabei ist klar erkennbar, dass die Wähler der sozialdemokratischen SPÖ im Wesentlichen in größeren Städten und dem Burgenland konzentriert sind. Die ländlichen Räume West- und Niederösterreichs sind schwarz eingefärbt und weiterhin von der ÖVP dominiert. Das Blau der FPÖ färbt schließlich Oberösterreich und die meisten kleinen Gemeinden Süd- und Zentralösterreichs ein.
Diese vielfach gedruckte Karte ist aber die denkbar schlechteste Darstellung des Wahlausgangs, denn sie übertreibt in einer verkürzten und verzerrten Darstellung die Erfolge der FPÖ. Besonders im ländlichen Raum. Zunächst wird die Bedeutung großer aber dünn besiedelter Räume in dieser Karte stark übertrieben. In vielen „blauen“ Gebieten wohnen und wählen oft nur wenige Menschen. Mehr noch: In einem Verhältniswahlsystem macht es keinen Sinn, nach den „Siegern“ von Wahlkreisen oder Gemeinden oder irgendwelchen Gebieten zu suchen. Der isolierte Fokus auf die (vielleicht nur knapp) stärkste Partei unterschlägt zudem die Stimmenanteile aller ihrer Wettbewerber.
Abbildung 2 zeigt den Zusammenhang von Bevölkerungsdichte (definiert als Einwohner je km2) mit den Stimmenanteilen der größeren politischen Parteien in 2115 geografischen Einheiten: Die ÖVP dominiert im ländlichen Raum, die SPÖ gewinnt ihre Wähler in den urbanen Zentren, besonders in Wien. Auch die Grünen und die NEOS können mit zunehmender Bevölkerungsdichte ihren Stimmenanteil stetig ausbauen. Im Gegensatz zu diesen überdeutlichen Stadt-Land-Bezügen war die rechtsradikale FPÖ lange sehr konstant und gleichermaßen im ländlichen Raum wie in den dicht besiedelten Wiener Gemeindebezirken erfolgreich.
Mit der Nationalratswahl 2024 hat sich dieses Bild jedoch deutlich gewandelt, und der FPÖ gelang, mindestens außerhalb Westösterreichs, ein Einbruch in viele ländliche Gemeinden. Die ÖVP erlitt deshalb schmerzliche Verluste in genau denjenigen Gebieten, die sie eigentlich durch ein dichtes Netzwerk an öffentlichen und privaten Organisationen für dauerhaft gebunden hielt.
Die Beschreibungen in Abbildung 3 zeigen das deutlich: Die FPÖ gewinnt beinah in jeder Gemeinde Stimmenanteile hinzu, und diese Erfolge sind in dünn besiedelten Gegenden besonders deutlich. Die ÖVP verliert in jeder einzelnen Gemeinde Stimmenanteile, besonders in kleinen und mittelgroßen Kommunen. Die Gewinne und Verluste der SPÖ sind dagegen kaum mit dem Stadt-Land-Konflikt verbunden: Beinah unabhängig von der Bevölkerungsdichte gewinnt oder verliert sie, einzig einige Erfolge in den dicht besiedelten Wiener Gemeindebezirken fallen besonders auf.
Letztlich konkurrieren die ehemaligen Großparteien im Grunde gar nicht mehr gegeneinander: Auf dem Land konkurriert die ÖVP mit der FPÖ, in der Stadt ist die SPÖ Gegenspielerin der Rechtsextremen.
Triebkraft im Umbruch lokaler Parteiensysteme: Erfolge der FPÖ
Die Umbrüche in den vielen lokalen Parteiensystemen folgen fraglos dem Erfolg der FPÖ: neuen und wiedergewonnenen Wählergruppen. Doch zurück zur Eingangsfrage: Ist die FPÖ tatsächlich Repräsentantin einer abgehängten Landbevölkerung? Reagieren ihre Wähler auf ökonomische Schocks durch wirtschaftliche Einbrüche und steigende Arbeitslosigkeit? Protestieren ganze Regionen gegen ihren Niedergang, ihre dauerhafte Verödung, gegen die Abwanderung von Jobs und von jungen Menschen?
Um diese Fragen beantworten zu können, untersuchen wir mit geostatistischen Modellen die Beziehungen zwischen kommunalen Wahlresultaten und den Strukturdaten der abgestimmten Erwerbsstatistik.
Die FPÖ ist weder dort besonders stark, wo Wirtschaft und Arbeitsmarkt schwach sind, noch gewinnt sie hinzu, wenn in einer Gemeinde das Einkommen sinkt und die Arbeitslosigkeit steigt. Strukturelle Zeichen eines regionalen Abstiegs können die Erfolge auch nicht erklären: In schrumpfenden oder überalterten Gemeinden gibt es viele Nichtwähler, aber nicht mehr FPÖ-Wähler als anderswo. Und es ist auch nicht richtig zu behaupten, dass der Ausländeranteil an der Wohnbevölkerung systematisch den Stimmenanteil der FPÖ herauftreibt. Ganz gleich ob es sich um EU-Ausländer handelt oder nicht.
Nicht alle plakativen Erklärungen für den abermaligen Aufstieg der FPÖ und ihre Verfestigung im ländlichen Raum sind deshalb empirisch tragfähig. Dem gegenüber bringen Argumente aus dem Bereich der traditionellen und der revidierten Theorie(en) politischer Konfliktlinien regelmäßig eine hohe Erklärungsleistung:
- Die FPÖ gewinnt in kleinen Industriegemeinden mehr hinzu als in kleinen Agrargemeinden. Die Angst vor dem (weiteren) Jobverlust im verarbeitenden Gewerbe erzeugt häufig den Wunsch nach sozialer und ökonomischer Abschottung oder gar einem „Zurück in die Vergangenheit“.
- Die FPÖ gewinnt auch dann (deutlich hinzu), wenn in einer Gemeinde wenige Akademiker leben. Höher gebildete Bürger sehen die Öffnung von Grenzen und Märkten als eine Chance, geringer gebildete als eine Bedrohung.
- Viele Bürger mögen es nicht, wenn die Regierung Infrastruktureinrichtungen wie Bürgerämter wegspart, wenn Banken oder die Post ihre Filialen schließen. Im Eindruck wahrgenommener Abwendung oder Vernachlässigung wenden sich enttäuschte Wähler in Österreich und anderswo oft der radikalen Rechten zu.
- Die FPÖ ist überall dort stark, wo weniger Menschen gegen COVID19 geimpft sind. Impfskepsis ist nicht nur ein Kernangebot im ideologischen Mix der FPÖ. Die laute und deutliche Ablehnung einer gesundheitspolitischen Maßnahme, die von der Bundesregierung nachdrücklich vertreten, wenn nicht gefordert wird, zeigt per se eine enorme Distanz zu den Präferenzen, zu den Regeln und zu den Werten des politischen Zentrums. Tendenziell liegt diese Dimension jedoch quer zu messbaren Gegensätzen von Stadt und Land, die etwa durch Bevölkerungsdichte oder die Stärke von Wirtschaftssektoren abgebildet werden: Die Impfquote ist auf dem Land nicht geringer als in der Stadt.
Tatsächlich treibt ein System aus alten und neuen politischen Konfliktlinien, die langfristig, tief und politisch organisiert sind, gegenwärtig Stadt und Land auseinander. Dabei geht die Dynamik vom Land aus.
Der Einbruch der FPÖ in den von der Volkspartei bislang stets organisierten, institutionalisierten und abgeschöpften ländlichen Raum schafft nun eine Konfliktlage, die eher mit den EU-Partnern Deutschland oder Frankreich vergleichbar ist. Und die Ursachen dieser Entwicklung sind nicht der objektive ökonomische Niedergang ländlicher Regionen, sondern ein subjektives Gefühl der Vernachlässigung.
Literatur
Haffert, Lukas (2022). Stadt, Land, Frust. München: C.H.Beck.
Kaschuba, Wolfgang (2016). Rechtspopulismus - Die Rache der Dörfer. Deutschlandfunk Kultur. (Visited on 11/19/2024)
Lipset, Seymour Martin and Stein Rokkan (1967). “Cleavage Structures, Party Systems and Voter Alignments”. In: Party Systems and Voter Alignments: Cross National Perspectives. Ed. by Seymour Martin Lipset and Stein Rokkan. New York: The Free Press, pp. 1–64.
Monnat, Shannon M. and David L. Brown (2017). “More than a Rural Revolt: Landscapes of Despair and the 2016 Presidential Election”. In: Journal of Rural Studies 55, pp. 227–236.
Rodríguez-Pose, Andrés (2018). “The Revenge of the Places That Don’t Matter (and What to Do about It)”. In: Cambridge Journal of Regions, Economy and Society 11.1, pp. 189–209.