Walter Leiss: „Virologen sagen, dass für einen sinnvollen Einsatz eines Handy-Trackings 60 Pro-zent der Bevölkerung mitmachen müssten. Das wird freiwillig schwer zu schaffen sein.“

Ist unser Rechtssystem krisentauglich?

Wir befinden uns mitten in einer Pandemie – der Corona-Krise. Den Höhepunkt haben wir hoffentlich schon überschritten und sind in der „neuen Normalität“ angekommen. Ob dies zutrifft, kann zum Zeitpunkt der Verfassung des Artikels nur gehofft werden. Rückschläge sind ja nicht ausgeschlossen.

Die österreichische Bundesregierung – und Gott sei Dank haben wir eine gewählte Bundesregierung im Amt - hat frühzeitig Maßnahmen gesetzt, die unser aller Leben völlig verändert haben: das Herunterfahren der Wirtschaft, Ausgangsbeschränkungen, das Schließen von Universitäten, Schulen und Kindergärten, das soziale Leben eingeschränkt auf das Notwendigste.

Die Regierung hat Anleihe genommen bei einigen asiatischen Staaten, die mit vielleicht noch drastischeren Mitteln die Verbreitung des Virus vorerst erfolgreich eingedämmt und bekämpft haben. Immer mit dem Ziel, das Gesundheitssystem nicht zu überlasten und damit die Zahl der Toten möglichst gering zu halten. Mit der Maxime, das Allgemeininteresse vor das Einzelinteresse oder Gesundheitsinteressen vor Wirtschaftsinteressen zu stellen. Zweifellos eine Gratwanderung, da auch Milliarden an staatlicher Unterstützung bereitgestellt und damit auch bisherige Budgetvorgaben über Bord geworfen wurden.

Aber Rechenbeispiele (etwa im „Kurier“ vom 8. 4. 2020) zeigen deutlich, was durch diese Maßnahmen verhindert wurde: Wäre demnach der Anstieg an Fällen in den 23 Tagen vor dem 8. April in ähnlicher Weise weitergegangen wie zu Beginn der Krise, hätten wir zu diesem Zeitpunkt rund 750.000 (!) Infizierte gehabt. Wo wir dann  liegen würden, mag ich mir gar nicht vorstellen. Damit wurden aber auch viele vor dem Tod bewahrt: Bei 750.000 erkrankten Menschen wären laut einigen Berechnungen 14.250 Personen verstorben.

Manche tun diese Berechnungen als Spekulation ab. Einige Staaten in Europa und Amerika wollten auch einen anderen Weg gehen und sind damit kläglich gescheitert.

Andere Staaten mussten ihre Corona-Strategie wechseln

Großbritannien oder Schweden setzten anfangs auf die sogenannte Herdenimmunisierung: Würden sich genügend Menschen infizieren und damit immunisieren, dann könnte die Situation auch ohne Beschränkungen bewältigt werden. Die grauenvollen Bilder aus Italien und Spanien, die Situation in den Spitälern und die Meldungen über die vielen Todesfälle haben schnell die Risiken einer derartigen Vorgangsweise aufgezeigt und rasch zum Umschwenken und zu einer Änderung der Strategie nach asiatischem und österreichischem Vorbild geführt. Selbst Großbritannien, die Vereinigten Staaten und auch Brasilien haben unter Druck und im Angesicht der Folgen einen Strategiewechsel vollzogen.

Maßnahmen müssen auf Basis von Gesetzen gesetzt werden

Die Maßnahmen, die die österreichische Bundesregierung getroffen hat, von der Quasi-Schließung der Schulen und Universitäten, der meisten Betriebe, der Gastronomie und Hotellerie bis zu den Ausgangsbeschränkungen, brauchen alle ihre rechtlichen Grundlagen.

Was in China und anderen asiatischen Staaten längst gängige Praxis ist – wie die elektronische Überwachung der Bewegungsprofile – oder in Russland per Anordnung des Präsidenten erfolgt (Betriebssperren für einen Monat bei vollen Bezügen), muss bei uns der Verfassung und den Gesetzen und Verordnungen entsprechen. Vieles ist dabei auch gar nicht möglich, weil damit ein Eingriff in Grund- und Freiheitsrechte verbunden wäre.

Im Parlament sind Videokonferenzen nicht vorgesehen

Gott sei Dank ist das Parlament noch handlungsfähig. Einige Abgeordnete mussten wegen positiver Testung auf das Coronavirus zwar schon den Sitzungen fernbleiben, aber noch sind die Anwesenheits- und Beschlusserfordernisse erfüllbar. Man ist auch schon dazu übergegangen, dass nur mehr dem Stärkeverhältnis entsprechend die Hälfte der Abgeordneten zu den Sitzungen erscheint, um damit einerseits Infektionsmöglichkeiten hintanzuhalten und andererseits im Bedarfsfall auf „gesunde“ Abgeordnete zurückgreifen zu können.

Wären aber die Infektionszahlen höher, was dann? Videokonferenzen und elektronische Abstimmung von zu Hause sind nicht vorgesehen. Auch nicht für die Landtage, die in landesgesetzlichen Materien Beschlüsse zu fassen haben.

Politik hat schnell reagiert

Für Gemeinden musste die Bundesverfassung schnell geändert werden, damit auch Gemeinderäte Beschlüsse im Umlaufweg oder per Videokonferenz fassen können. Das Prinzip der Öffentlichkeit bei Gemeinderatssitzungen wurde dabei kurzerhand außer Kraft gesetzt – oder vielleicht doch nicht, wie jüngste Auskünfte aus dem Verfassungsdienst des Bundeskanzleramts befürchten lassen. 

Unzählige andere Gesetze mussten geändert werden, um Fristen zu verlängern, Fälligkeiten zu verschieben und Ansprüche neu zu regeln. Alle Förderungen mussten angepasst werden und alles sollte dabei auch schnell und unbürokratisch vollzogen werden. Die Legistikabteilungen in den Ministerien haben derzeit Hochbetrieb.

Natürlich gibt es auch schon kritische Stimmen. Bei den Förderungen und Entschädigungen, z.B. bei den Zivildienern, deren Dienst verlängert wurde, und bei denen, die sich freiwillig gemeldet haben, wurde mangelnde Gleichstellung kritisiert und schon mit Klage gedroht. Die verordneten Ausgangssperren wurden als Blaupause für einen Staatsstreich bezeichnet (Prof. Eisenberger in der „ZIB 2“ am 6. 4.), Grundrechte würden verletzt und ein Hausarrest verfügt werden.

Bürgermeister erhalten jetzt Informationen über Corona-Infizierte

Ein besonderes Kapitel ist der Datenschutz. Vor 2016 wurden noch die Gemeinden über Krankheiten nach dem Epidemiegesetz informiert, doch diese Bestimmung wurde wohl zugunsten des Datenschutzes aufgehoben.

Nach langen Verhandlungen ist es gelungen, dass die Anzahl der von Covid-19 betroffenen Personen den Bürgermeistern gemeldet werden darf, später, dass sie gemeldet werden muss. Im nächsten Schritt wurden die Bezirksverwaltungsbehörden ermächtigt, unter bestimmten Voraussetzungen personenbezogene Daten an die Bürgermeister zu liefern. Aber alles nach strenger Prüfung, denn wer sind denn die Bürgermeister und wozu brauchen sie denn das? Da würde ja nur der Dorftratsch beflügelt.

Ist ein Handy-Tracking machbar?

Wie notwendig ein Tracking per Handy wäre, um die Verbreitung des Virus einzudämmen, vor allem dann, wenn die Beschränkungen gelockert werden, sei nur am Rande bemerkt.

Virologen sagen, dass für einen sinnvollen Einsatz 60 Prozent der Bevölkerung mitmachen müssten. Das wird freiwillig schwer zu schaffen sein. Zur Not gibt es halt dann wieder einen „Shutdown“, so wie derzeit in Singapur. Einzelinteressen vor Allgemeininteressen. Wirtschaftsinteressen vor Gesundheitsinteressen? Schwierige Fragen, die im demokratischen Willensbildungsprozess beantwortet werden müssen.

Unzählige Verfahren werden noch die Behörden und Gerichte beschäftigen und da oder dort wird es auch zu Verordnungs- oder Gesetzesprüfungen und auch Aufhebungen kommen.

Aber Faktum ist, dass uns die von der Regierung getroffenen Maßnahmen einstweilen vor den schlimmsten gesundheitlichen Folgen bewahrt haben. Und das alles im demokratischen Rahmen, obwohl der Rechtsstaat sicherlich an seine Grenzen gestoßen ist. Ob das auch in anderen Krisensituationen so funktionieren würde – denken wir etwa an einen Atomunfall im Nachbarland –, darf bezweifelt werden.