Schneeräumung
An Spitzentagen müssen in St. Anton rund 3.000 Kubikmeter Schnee aus dem Ort transportiert werden – das entspricht etwa 200 Lkw-Fahrten. Pro Tag
© Gemeinde St. Anton

Winterdienst in hochalpinen Gemeinden

Wenn im Winter aus einer beschaulichen Alpengemeinde eine Kleinstadt wird, steigen die Herausforderungen exponentiell. St. Anton am Arlberg stemmt eine logistische Meisterleistung – und kämpft dabei nicht nur gegen Schnee und Eis, sondern auch gegen Bürger, die den frisch geräumten Schnee zurück auf die Straße schaufeln. Ein Einblick in die Realität hochalpiner Gemeinden, zwischen Klimawandel, Haftungsfragen und herkulischen Umweltauflagen.

Helmut Mall ist seit 15 Jahren Bürgermeister von St. Anton am Arlberg. In dieser Zeit hat er erlebt, wie sich der Winterdienst grundlegend verändert hat – nicht nur technisch, sondern auch klimatisch und rechtlich. Die Gemeinde auf 1.300 Metern Seehöhe gilt als eine der schneesichersten Regionen der Alpen. Doch auch hier zeigt sich: Die Winter werden anders.

Weniger Schnee, mehr Regen

Helmut Mall
„Letztens kämpfen wir fast mehr mit Niederschlägen und Muren.“ Helmut Mall, Bürgermeister von St. Anton am Arlberg

„Relativ konträr“, fasst Mall die Entwicklung zusammen. „Mal mit viel Schnee, mal mit weniger Schnee. Die letzten drei Jahre waren relativ schneearm.“ Was früher undenkbar war, ist heute Realität: „Es gibt deutlich mehr Regen im Winter als Schneefall – das war früher überhaupt nicht so, auch nicht bei uns auf 1.300 Metern.“ Die Temperaturschwankungen fordern die Gemeinde heraus, stets alles im Griff zu haben – Eisbildung wird zum größeren Problem als früher.

Paradoxerweise hat der Klimawandel auch eine positive Seite: „Die letzten Jahre war die Lawine überhaupt kein Thema“, berichtet der Bürgermeister. Die Lawinenkommission hatte in den vergangenen drei Jahren kaum mehr Sitzungen, abgesehen von der obligatorischen konstituierenden Sitzung zu Winterbeginn. Dafür nimmt eine andere Naturgefahr zu: „Letztens kämpfen wir eigentlich fast mehr mit Niederschlägen und Muren.“

Am 16. August vergangenen Jahres zeigte sich die Wucht dieser Veränderung: Zwei gewaltige Muren gingen nieder, über 100 Liter Wasser pro Quadratmeter fielen in kürzester Zeit am Berg. „Da hat man gesehen, was die Natur binnen zwei Stunden anrichten kann“, erinnert sich Mall.

Mure in St. Anton
Zwei gewaltige Muren gingen nieder, über 100 Liter Wasser pro Quadratmeter fielen in kürzester Zeit am Berg. 

Eine Kleinstadt auf Zeit

Die größte Herausforderung für St. Anton liegt aber in der extremen Bevölkerungsschwankung. Im Sommer leben 2.400 Menschen in der Gemeinde – im Winter werden es bis zu 17.000. Eine Versiebenfachung der Bevölkerung, die die gesamte Infrastruktur an ihre Grenzen bringt. Wie stemmt man das?

„Jahrelange Erfahrung“, sagt Mall pragmatisch. „St. Anton ist ein gewachsenes Dorf, wir haben uns kontinuierlich entwickelt und mussten mit der Zeit gehen.“ Über die Jahre wurden die großen Infrastrukturprojekte realisiert: Kanalisierung, Abwasser, Reinigungsanlagen, Müll, Wertstoffhof – und natürlich die Schneeräumung. „Eigentlich sind wir relativ gut aufgestellt und up to date.“

Die Zahlen zeigen das Ausmaß der Aufgabe: 32 Kilometer Gemeindestraßen müssen betreut werden, dazu kommen Parkplätze und Plätze. „Insgesamt 170.000 Quadratmeter Fläche müssen wir räumen“, hat der Bauhofchef ausgerechnet. „Das sind über 17 Hektar.“ An Spitzentagen müssen rund 3.000 Kubikmeter Schnee aus dem Ort transportiert werden – das entspricht etwa 200 Lkw-Fahrten. Pro Tag.

Keine Kooperation beim Winterdienst

Als Obmann von Regio L, dem Abwasser- und Planungsverband Stanzertal, kennt Mall die Vorteile interkommunaler Zusammenarbeit. Beim Winterdienst funktioniert das aber nicht: „Überhaupt nicht. Jede Gemeinde im Tal macht die Schneeräumung selber.“ 

Der Grund ist simpel: Bei extremem Schneefall sind alle mit sich selbst beschäftigt. „Wir sind mit allen Mannschaften und Gerätschaften ausgelastet und brauchen ja auch fremde Lkw-Firmen dazu. Wenn es viel Schnee hat, kommst du aus der Nummer nicht raus.“

Eine Kooperation sei auch nicht geplant: „Wir haben nicht die Kapazität, dass wir uns gemeinsam aufs Tal konzentrieren. Wir sind da voll eingedeckt.“

Von Kies zu Salz – eine Erleichterung

Seit zwei Jahren setzt St. Anton verstärkt auf Salzstreuung. „Wir streuen ca. 400 Tonnen Salz im Winter und 200 Tonnen Kies“, erklärt Mall. Die Hauptdurchzugsstraßen und Gemeindestraßen werden gesalzt, auf Nebenstraßen und in Seitentälern kommt noch Kies zum Einsatz. Der Wechsel zum Salz hat eine erhebliche Arbeitserleichterung gebracht: Früher musste die Gemeinde im Frühjahr mit Riesenaufwand den Kies von den Wiesen wieder herauskehren, nachdem man mit den Grundbesitzern vereinbart hatte, Schnee auf deren Flächen zu fräsen. „Da haben wir jetzt weniger Arbeit gekriegt, das hat uns fest entspannt.“

Das Salz wird mittlerweile selbst beschafft, in zwei eigenen Silos gelagert. „Eine Zeit lang haben wir von der ASFINAG bezogen, aber mittlerweile kaufen wir das selber.“ Die Preise vergleiche man schon, betont der Bürgermeister: „Blauäugig bestellt man das sicher nicht.“

Die herkulische Aufgabe: Das Schneeräumkonzept

Schneeräumung
Im durchschnittlichen Winter fallen in St. Anton etwa 1.600 Stunden Schneeräumung und 640 Stunden Lkw-Fahrten an – insgesamt 2.300 Stunden.

Was Mall als „relativ herkulische Aufgabe“ bezeichnet, dürfte für viele Tiroler Gemeinden von Interesse sein: St. Anton musste ein detailliertes Schneeräumkonzept ­erstellen. Der Hintergrund: „Alte Übung war früher: Aller Schnee in den Bach.“ Das galt für sauberen Schnee, nicht für mit Salz oder Kies verschmutzten. Doch dann gab es Anzeigen von unterliegenden Kraftwerksbesitzern.

Die Lösung ist komplex: Die Gemeinde muss nun bestimmte Flächen – öffentliche oder private – als Schneedeponien ausweisen. „Erst wenn diese Deponien zu 75 Prozent voll sind, dürfen wir Schnee in den Bach bringen – aber nur sauberen Schnee, der innerhalb von 24 Stunden gefallen ist.“ Und es gibt eine weitere Auflage: „25 Prozent von diesen ganzen Flächen müssen freigehalten werden für verschmutzten Schnee, also mit Kies oder Ähnlichem.“

Das Ganze wird auch kontrolliert. „Wir sind da ziemlich eingezwängt worden“, sagt Mall diplomatisch. „Das war eine relativ herkulische Aufgabe mit Naturschutz, Gewässerschutz und so weiter. Aber da sind wir jetzt safe.“

Vandalismus und Volkssport

1.300 Schneestangen stellt die Gemeinde jedes Jahr auf. Rund 500 davon fallen Vandalismus und Bruch zum Opfer. „Man würde das nicht glauben, oder?“, sagt Mall kopfschüttelnd. Manche Leute machen sich sogar einen Spaß daraus, die Schneestangen schon im Herbst beim Aufstellen wieder auszureißen.

Doch das ist nicht die einzige Herausforderung im Umgang mit den Bürgern. Ein Thema treibt den Bürgermeister besonders um: „Der Bürger nimmt keine Rücksicht mehr auf die geltende Schneeräumordnung. Diese besagt im Kern, dass nach der erfolgten Schneeräumung kein Schnee mehr auf die Straßen aufgebracht werden darf, bis zur nächsten Schneeräumung – und die ist meistens einen Tag später.“

Die Realität sieht anders aus: „Ohne Gnade. Wir räumen und machen sauber, und nachher kommen wieder einige Hausbesitzer und Hausmeister und schütten den Schnee auf die frisch geräumte Straße.“ Das Unverständnis auf Seiten der Gemeinde und der Bauhofmitarbeiter ist groß. „Oft denke ich mir, manche Bürger wollen die Gemeinde ärgern und tun den Schnee gerade aus Fleiß hinaus.“ Mall spricht vom „Volkssport Nummer eins“. Die Gemeinde droht zwar an, die Mehrkosten zu verrechnen, „aber das tust ja nachher trotzdem auch wieder nicht“.

Die EWA-Lösung: Outsourcing mit Gemeindekontrolle

Eine ungewöhnliche Lösung hat St. Anton 2005 für den Bauhof gefunden. Die Gemeinde gründete die EWA GmbH – die Energie- und Wirtschaftsbetriebe GmbH der Gemeinde St. Anton am Arlberg. Diese GmbH gehört zu 100 Prozent der Gemeinde, produziert Strom aus eigenen Wasserkraftwerken („wir sind fast zu 100 Prozent stromautark“) und betreibt Handel und Installation.

An diese GmbH wurden 2005 Wasser, Kanal, Müll, Wertstoffhof und der Bauhof ausgelagert. Der Clou: „Die verrechnen das der ­Gemeinde nach Marktpreisen. Das heißt, alles was die Schneeräumung betrifft, wird ­stundenmäßig verrechnet.“ Im durchschnittlichen Winter fallen etwa 1.600 Stunden Schneeräumung und 640 Stunden Lkw-Fahrten an – insgesamt 2.300 Stunden, die wie einem normalen Kunden in Rechnung gestellt werden.

„Hat Vor- und Nachteile“, räumt Mall ein. Der große Vorteil: „Wir beschäftigen bei dieser GmbH circa 75 Leute ganzjährig. Das ist ein absolut super Konstrukt.“ Und der Bürgermeister behält die Kontrolle: „Der Bürgermeister hat noch das Sagen, obwohl es einen Geschäftsführer gibt – das ist wirtschaftlich getrennt, aber wir fahren seit 2005 einen recht guten Weg.“

Modernste Technik – mit Grenzen

Der Bauhof verfügt über drei Radlader, drei Unimog (jeweils mit Pflug, Fräse und Streugeräten) und ein Schmalspurgerät für die Gehsteige. Dazu kommen vier bis fünf Sub-Unternehmen, darunter auch Landwirte mit ihren Traktoren, die Bereiche in den Ortsteilen übernehmen. „Die haben Pflüge, teilweise auch Schneefräsen dazugekauft. Ganz alleine würden wir das nicht schaffen.“

GPS-gesteuerte Technik oder Sensoren zur Früherkennung von Eisbildung hat St. Anton noch nicht. Was aber bereits funktioniert: die lückenlose Dokumentation der Salzstreuung. „Die muss genau dokumentiert werden: Was wird bei welchen Temperaturen an Salz abgegeben? Das sind Haftungsfragen.“ Ein wesentlicher Punkt, denn: „Es haftet ja nachher die Gemeinde, wenn es nicht gestreut ist.“

Die Dokumentation zahlt sich aus. Zwar gebe es einige Gerichtsverfahren, „aber die gehen meistens relativ gut aus für uns, weil man es nachweisen kann“. Bei 17.000 Menschen im Winter müsse man eben auf der Hut sein.

Die Rechnung: 700.000 Euro

Ein Tag volle Schneeräumung bei 50 Zentimeter Neuschnee kostet die Gemeinde etwa 15.000 Euro. Im Budget sind jährlich 700.000 Euro für Schneeräumkosten vorgesehen. Dazu kommen die indirekten Kosten – etwa für die Schneestangen oder die Verwaltung der Schneedeponien.

Die größte Veränderung der letzten Jahre fasst Mall so zusammen: „90 Prozent des Schnees müssen wir mit Lkw abführen. Früher hattest du ganze Straßenzüge, da hast du in die Felder hineinfräsen können – das ist alles nicht mehr erlaubt und die lassen dich teilweise auch nicht mehr. Das hat sich komplett geändert.“

Ein Vorbild?

Trotz aller Herausforderungen ist Mall stolz auf das Erreichte: „Wir sind tipptopp aufgestellt, was Schneeräumung betrifft.“ Die Gemeinde bekomme oft hohes Lob, wenn Besucher sehen, wie schnell die Straßen wieder frei sind. „Die Schneeräumung kann man bei uns herzeigen – das ist wirklich sehenswert“, sagt der Bürgermeister.

Interessierte Gemeinden können sich beim Bauhof oder direkt beim Bürgermeister melden und sich vor Ort ein Bild machen. Nach 15 Jahren im Amt und zwei Jahrzehnten Erfahrung im Gemeinderat weiß Helmut Mall: Der Winterdienst in hochalpinen Lagen ist eine Daueraufgabe, die ständige Anpassung erfordert – an das Klima, an neue Umweltauflagen und an die Erwartungen von 17.000 Menschen, die sicher durch den Winter kommen wollen. 

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