
Die Gewinnspannen im Lebensmittelhandel sind extrem schmal, der Wettbewerb mit Diskontern und Online-Plattformen ist massiv.
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Ländlicher Raum
Nahversorgung braucht neue Ideen
580 Gemeinden ohne Geschäft, kein Bankomat, kein Brot, kein Gespräch: Die Nahversorgung stirbt leise – und mit ihr oft auch die Seele eines Ortes. Doch neue Modelle, mutige Bürgermeister:innen und digitale Lösungen könnten die Trendwende bringen: Selbstbedienung statt Greißlerei, Container statt Kaufhaus – Österreichs ländliche Regionen denken Nahversorgung neu. Doch nicht alle dürfen mitmachen. Warum neue Wege, altes Denken und mutige Politik jetzt entscheidend sind.
Die österreichische Nahversorgung – über Jahrzehnte hinweg eine tragende Säule der Lebensqualität im ländlichen Raum – ist massiv unter Druck geraten. Rund ein Drittel aller Gemeinden in Österreich haben heute keinen vollwertigen Nahversorger mehr vor Ort. Laut Wolfgang Richter (RegioData Research) betrifft dies aktuell etwa 580 Gemeinden, in denen kein Lebensmittelgeschäft mit einem Grundsortiment an Frischwaren wie Fleisch, Milch, Brot, Obst und Gemüse mehr existiert. Damit fehlt diesen Orten nicht nur ein wirtschaftlicher Akteur, sondern auch ein sozialer und infrastruktureller Ankerpunkt.
Die Gründe sind vielschichtig – und sie haben sich über Jahre hinweg aufgebaut. „Wenn man es provokant formuliert: Hat die Versorgung ausgesorgt?“, fragte Gemeindebund-Präsident Johannes Pressl gleich zu Beginn der Konferenz zum Thema „Nahversorgung im ländlichen Raum nachhaltig sichern“, die Mitte Mai im kleinen Festsaal der Industriellenvereinigung in Wie stattfand. Und bezugnehmend auf die Ausführungen von Wolfgang Richter: „In einem Drittel der Gemeinden gibt es keine vollwertige Nahversorgung mehr. Das ist eine Realität, mit der wir uns auseinandersetzen müssen – genau so wie die Frage, ob wir künftig Tankstellen-Shops ohne Tankstelle mitten im Ort haben werden.“
Zentrales Problem Wirtschaftlichkeit
Die wirtschaftliche Tragfähigkeit von Lebensmittelgeschäften im ländlichen Raum ist an einfache Realitäten gebunden. Laut Richter liegt die betriebswirtschaftliche Untergrenze für einen funktionierenden Vollsortimenter bei etwa 1.200 Einwohnern im engeren Einzugsgebiet (oder ein „Supermarkt mit mindestens 500 m² und rund 15.000 Artikel) – bei idealer Kaufkraft und optimaler Bedarfsdeckung.
Doch diese Schwelle wird von vielen Orten nicht mehr erreicht. „Wir haben Gemeinden mit 300, 400 Einwohnern – da geht sich das wirtschaftlich einfach nicht aus“, sagte ein Teilnehmer aus einem Regionalentwicklungsbüro anonym. „Selbst wenn dort alle hundert Prozent ihrer Ausgaben im Ort tätigen würden, reicht es oft nicht.“ Vereinfacht gesagt, selbst wenn nur mehr bei kleinen Versorgern vor Ort gekauf werden würde, könnte das Geschäft nicht überleben. Oder besser: Könnte nicht überleben, wenn nicht zusätzliche Angebote aufgenommen werden würden.
Was zusätzlich drückt: stark gestiegene Betriebskosten – etwa bei Energie, Personal und Logistik. Robert Nagele (REWE/BILLA) spricht von einer Branche, „die vermutlich die am stärksten regulierte in Österreich ist“. Gleichzeitig sind die Gewinnspannen im Lebensmittelhandel extrem schmal, der Wettbewerb mit Diskontern und Online-Plattformen massiv.
Hinzu kommt ein generationsbedingter Rückzug kleiner Händler: „Wir sehen jedes Jahr, dass kleine Postpartnerbetriebe zusperren, weil es keinen Nachfolger gibt oder der Betrieb sich nicht mehr rechnet“, erklärte Walter Oblin von der Österreichischen Post. Er berichtete auch, dass auch aus diesem Grund die Selbstbedienungs-Offensive der Post in vollem Gange sei, Motto „Verdoppeln und Verdichten“.
Was gehört eigentlich zur Nahversorgung?
Das führte direkt zur nächsten Frage, dem zentrales Thema der Konferenz, was heute überhaupt unter „Nahversorgung“ zu verstehen ist – und wer sie leisten soll. Denn anders als früher, als damit fast ausschließlich der lokale Lebensmittelhändler gemeint war, ist das Spektrum heute deutlich breiter – und umstrittener.
„Die Menschen erwarten mehr als nur Milch und Brot. Sie erwarten Postdienstleistungen, Medikamente, Bankomat, ein Paketfach, einen Kaffee vielleicht“, so Pressl. „Nahversorgung ist mehr als nur das Regal mit Grundnahrungsmitteln – sie ist Teil eines funktionierenden Alltags.“
Diese Auffassung teilten viele, aber nicht alle. Ein Vertreter eines Handelsunternehmens sagte: „Wenn wir Nahversorgung zu breit definieren, verwässert der Begriff. Dann ist irgendwann auch der Friseur oder die E-Ladestation Teil davon.“ Andere wiederum plädierten gerade für ein weites Verständnis: „Für ältere Menschen im ländlichen Raum gehört die Apotheke oder der Bankomat genauso zur Grundversorgung wie der Supermarkt“, sagte eine Teilnehmerin aus dem Sozialbereich.
Einigkeit bestand immerhin darin, dass Nahversorgung mehr sei als Wirtschaft: Sie bedeutet Teilhabe, soziale Nähe und Selbstständigkeit – besonders für Menschen ohne Mobilität. Eine Bürgermeisterin brachte es auf den Punkt: „Was bringt mir das schönste Mobilitätskonzept, wenn die 83-jährige Frau Gruber für ein Packerl Butter drei Busse braucht?“
Neue Wege: Hybridmärkte, Digitalisierung und multifunktionale Orte
Angesichts dieser strukturellen Veränderungen entstehen neue, teils unkonventionelle Modelle der Nahversorgung, die auf Digitalisierung, Automatisierung und Multifunktionalität setzen.
Ein zentraler Trend sind sogenannte „hybride Märkte“ – Verkaufsstellen, die nur zu bestimmten Zeiten personalbesetzt sind und darüber hinaus durch digitale Zutrittssysteme rund um die Uhr zugänglich sind. Besonders kleinere Händler setzen zunehmend auf diese Technologie. „Wir haben inzwischen mehr als 50 Standorte mit Hybrid-Systemen ausgestattet“, berichtet Elmar Ruth von Nah & Frisch (Kastner Gruppe).
Auch größere Händler wie REWE und SPAR experimentieren mit vollautonomen Mini-Stores und digitalen Boxenlösungen. Diese könnten zukünftig dort zum Einsatz kommen, wo klassische Märkte nicht mehr wirtschaftlich tragfähig sind.

Selbstbedienung und multifunktionale Angebote
Die Österreichische Post plant, ihr Netz an SB-Stationen massiv auszubauen – auf bis zu 4.000 Stationen österreichweit. Die Idee: Paketannahme, Bankdienstleistung und Einzelhandel unter einem Dach.
Spannend ist auch die Idee, verschiedene Dienstleistungen zu bündeln – etwa Lebensmittelausgabe, Post, Lotto, Apothekenservice und Gastronomie. „Ein multifunktionales Haus, das nicht nur verkauft, sondern verbindet – das ist das Modell der Zukunft“, betonte Christian Rosenwirth vom Landwirtschaftsministerium.
Einige Gemeinden binden die Bürgerinnen und Bürger bereits direkt ein. In Rheinsberg (NÖ) oder St. Kolomann (Sbg) etwa wurden Vereine oder Genossenschaften gegründet, die gemeinsam einen Laden betreiben – getragen von Gemeinsinn statt Gewinninteresse.
Sonntagsöffnung: Symbolpolitik oder Schlüssel zur Lösung?
Ein besonders umstrittenes Thema war die mögliche Sonntagsöffnung von Nahversorgungsbetrieben. Die Positionen dazu waren teils leidenschaftlich, teils grundsätzlich: „Wenn wir hybride oder digitale Läden haben, stellt sich die Frage: Warum dürfen die sonntags nicht offen sein – auch wenn kein Personal im Geschäft ist?“, fragte Robert Nagele von REWE. Die aktuelle Rechtslage verbietet dies aber, mit dem Verweis auf das Öffnungszeitengesetz, das Sonntage klar ausklammert.
Christian Prauchner, Spartenobmann Lebensmittelhandel in der Wirtschaftskammer, meinte, dass „wir uns öffnen müssen und uns von Monopol-Verwaltung verabschieden sollten.“
Gleichzeitig äußerten viele Sorge, dass eine allgemeine Sonntagsöffnung – wenn sie unkontrolliert käme – kleine, traditionelle Händler unter noch größeren Druck setzen würde. „Wenn wir die Schleusen öffnen, profitieren die Großen – und die Letzten im Ort sperren endgültig zu“, warnte ein Gemeindevertreter aus dem Innviertel. Auch würden die Preise allein durch höhere Löhne für die Sonntagsarbeit steigen – und der „Montag wäre für den Handel tot“.
Kirchliche Vertreter und Sozialorganisationen sehen darin überdies eine Gefahr für soziale Strukturen und den gemeinsamen Ruhetag.
Der Tenor: Differenzierte Lösungen wären denkbar – etwa eine Sonderregelung für digitale oder teilautonome Läden in Gemeinden ohne regulären Nahversorger. Doch dazu bräuchte es Mut zur politischen Differenzierung, denn „was in Linz oder Wien gilt, muss nicht für eine Lungauer Berggemeinde gelten.“
Oder wie es Christian Haider von der NÖ Dorf- und Stadterneuerung formulierte: „Um die Nahversorgung zu sichern, gibt es kein Patentrezept. Was in der Gemeinde A funktioniert, muss nicht unbedingt für die Gemeinde B passen.
Wir in der Dorf- und Stadterneuerung forcieren vor allem Bürgerbeteiligung. Und wir merken, dass da, wo die Bevölkerung gut eingebunden wird, oft interessante Alternativen zum Lebensmitteleinzelhandel gefunden werden können.
Es braucht nicht immer eine Vollsortiment. In einem kleinen Dorf reicht auch oft ein Direktvermarkter. Je mehr man die Bevölkerung einbindet, desto mehr lokale „Kümmerer“ finden sich meistens.“
Regulierung als Schlüssel – oder Stolperstein?
Ein durchgängiges Thema war der Rechtsrahmen – und dessen reformbedürftiger Zustand. Ob Sonntagsöffnung, Tabakwarenverkauf, Medikamentenabgabe oder Zutrittskontrolle in digitalen Stores – an vielen Stellen verhinderten gesetzliche Detailregelungen neue Lösungen, statt sie zu ermöglichen.
„Wir wollen nicht alles aufreißen, aber wir brauchen Spielräume – besonders für periphere Regionen“, so Christian Prauchner (Obmann Lebensmittelhandel WKO).
Nahversorgung als gesellschaftliche Aufgabe
Die Konferenz zeigte deutlich: Die klassische Dorfladen-Struktur kehrt nicht mehr zurück. Doch in der Krise liegt auch Potenzial. Neue technische Möglichkeiten, innovative Modelle und der Mut zur Kooperation könnten eine vielfältige, flexible Nahversorgung der Zukunft ermöglichen – vorausgesetzt, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ziehen gemeinsam an einem Strang.
Das Ziel sei klar, so Gemeindebund-Präsident Johannes Pressl: „Wir wollen nicht einfach versorgen – wir wollen gestalten. Mit neuen Ideen, aber auch mit dem Bewusstsein: Nahversorgung ist keine rein wirtschaftliche Frage, sondern eine Frage der Lebensqualität und des gesellschaftlichen Zusammenhalts.“
Was Gemeinden aber jedenfalls im Auge haben sollten, ist dass es zu keiner finanziellen Überlastung kommen darf. „Es sollte unbedingt vermieden werden, dass eine Gemeinde durch Zuzahlungen jährlich 40 oder 50.000 Euro verliert.“
Die Gemeindebund-Nahversorgungskonferenz ist auf der Website des Gemeindebundes www.gemeindebund.at als Stream nachzusehen.
Was ist „Nahversorgung“?
In Österreich wird unter Nahversorgung die wohnortnahe Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs verstanden, insbesondere Lebensmittel, aber auch Dienstleistungen wie Banken, Post, Gastronomie, Schulen, medizinische Versorgung und kulturelle Angebote.
Es geht also um die Bereitstellung von Einkaufsmöglichkeiten und Dienstleistungen, die leicht zu Fuß oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar sind.
Die weitere Definition (... aber auch ...) umfasst alle Aspekte, die der Bevölkerung die gleichberechtigte Teilhabe am wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben in leicht überwindbarer Entfernung vom Wohnort ermöglichen sollen.
In Österreich gibt es anders als im deutschen Grundgesetz (Art. 72 Abs. 2 oder Art. 106 GG) kein einzelnes Gesetz, das explizit und umfassend „gleichwertige Lebensverhältnisse im Bundesgebiet“ formuliert oder regelt. Österreich überlässt viele Aspekte der Raumordnung, Infrastruktur und Nahversorgung den Ländern und Gemeinden – gemäß dem Prinzip des Föderalismus.