Hans Braun - Chefredakteur vom KOMMUNAL
Hans Braun: "Demokratieverständnis und gelebte Werte betreffen alle Ebenen, aber zuallererst die politische als die Ebene, die Werte vorgibt und sie vorleben sollte.“

So sind wir nicht!

Unsere Gesellschaft ist im Wandel begriffen. Aber es sind nicht die „üblichen Klüfte“ Stadt und Land, Arm und Reich. Das „Ibiza-Video“ hat nicht nur die österreichische Innenpolitik durcheinandergewirbelt. Es führt direkt zur Frage, auf welche Werte Politik und unsere Gesellschaft aufbaut und wie es um das Demokratieverständnis im Land aussieht.

Erschreckend. Verstörend. Zum Schämen. Dumm. Das sind Auszüge der ersten Reaktionen von politischer Seite und von Seiten aller Medien unmittelbar nach Bekanntwerden des „Ibiza-Videos“ und der Implosion der Bundesregierung. Die Frage, was davon strafrechtlich relevant ist, wird zu klären sein. Sich auf den Alkoholeinfluss auszureden, wird nicht reichen  – zudem die Ausrede auf eine „b’soffene G’schicht“ vor Strafe nicht schützt.

Erschreckend war nicht nur für die meisten Kommentatoren vor allem die Geisteshaltung hinter dem Gesagten. Wie nach dieser Geisteshaltung Regierungsgeschäfte abgewickelt werden, wie mit Medien gerne umgegangen werden würde, widerspricht dermaßen den Werten unseres Demokratieverständnisses und unserer Republik, dass viele sprachlos danebenstanden.

Dass viele Berichte in Medien nicht in politisches Kalkül passen, dass viele Berichte unbequem sind bis hin zu für manche Akteure peinliche Geschichten veröffentlicht werden. Genau das ist ja die Aufgabe einer freien Medienlandschaft in einer Demokratie – wie sowohl Bundespräsident Alexander Van der Bellen als auch Bundeskanzler Sebastian Kurz die Bedeutung freier – und vor allem von der Politik unabhängiger – Medien unterstrichen haben.

Demokratieverständnis und Werte

Das Ibiza-Video führt fast schon zwingend zur Frage nach dem Demokratieverständnis in unserem Land und nach den Werten, mit denen wir in unserer Gesellschaft leben.

Der Begriff „Werte“ für sich ist aber schon schwammig genug. Werte oder Wertvorstellungen sind per Definition „allgemein erstrebenswerte, moralisch oder ethisch als gut befundene spezifische Wesensmerkmale einer Person innerhalb einer Wertegemeinschaft“. Daraus resultieren Denkmuster, Glaubenssätze, Handlungsmuster und Charaktereigenschaften und in Folge entstehen Ergebnisse (Resultate, Erlebnisse, Erfolge), welche die gewünschten werthaltigen Eigenschaften besitzen oder vereinen sollen. Konkrete Wertvorstellungen einer Person erzeugen priorisierendes Denken, Fühlen und Handeln, ausgerichtet auf die damit festgelegten wichtigen Aspekte im Leben. Langfristig kann dadurch in kollektiven Systemen eine wertvolle Kultur entstehen, sofern die Mehrzahl der Werte übereinstimmen.

In dem Zusammenhang, geht man nach der „Enzyklopädie der Wertvorstellungen“ (wertesysteme.de), sind „Freiheit, Vertrauen, Loyalität, Ehrlichkeit, Sicherheit und Toleranz oft genannte Wörter. Weniger bekannt sind Präsenz, Glaubwürdigkeit, Neutralität und Weitsicht. Und da Werte als wichtig und sinnstiftend angesehen sind, werden diese vom Einzelnen entweder eingefordert oder selbst „gelebt“ (vorgelebt). Das Vorgeben von Werten ist in Gemeinschaften den ‚Älteren‘ und den ‚Gebildeten zugeordnet und/oder vorbehalten, da sie die Aufgabe haben, bestimmte Werte zu überliefern. Wobei das Vorleben oder auch Einfordern von Werten durch alle Altersschichten individuell praktiziert werden kann, insbesondere auch dann, wenn es durch hierarchische Ebenen (zugewiesene Kompetenzbereiche) praktiziert wird.“

Demokratieverständnis und gelebte Werte betreffen alle Ebenen, aber zuallererst die politische als die Ebene, die Werte vorgibt und sie vorleben sollte. Schaut man sich die Umfragen der vergangenen Jahre an, schneiden in den Augen der Bevölkerung Bundes- und Landespolitiker dabei bei weitem nicht so gut ab wie Kommunalpolitiker und Kommunalpolitikerinnen. Zum einen deswegen, weil Kommunalpolitiker den direktesten Kontakt zu den Menschen haben. Sie sind greifbar und so gut wie immer erreichbar.

In Gemeinden sind so gut wie alle Vorgänge viel transparenter als auf anderen Ebenen. Und ein anderer Grund ist vielleicht auch, dass im Vergleich zu anderen Ebenen die Machtfülle in einer Gemeinde überschaubar ist. Denn dass zu viel „Macht“ oder auch schon das Streben nach Macht die Menschen verändert, scheint seit den frühesten Tagen der griechischen Demokratie eine feststehende Tatsache, die durch das Ibiza-Video wieder bestätigt wurde.

So ist Österreich nicht. Wie Alexander Van der Bellen in seiner Rede zum Neuwahlbeschluss gesagt hat: „So sind wir nicht. So ist Österreich nicht.“ Dem ist nichts hinzuzufügen, weil es stimmt – und zwar auch für alle Ebenen. Es gibt die Politiker auf Bundes- und Landesebene, die ihren Auftrag ernst nehmen und ehrlich auf das Beste für die Menschen hinarbeiten. Sie sind möglicherweise nur ein bisschen zu weit weg für die Menschen. Anders als die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister und die große Zahl der Gemeindemandatare. Ein 2500 Jahre altes Beispiel zeigt das ganz treffend auf.

Cincinnatus - Symbol des guten Führers

Lucius Quinctius Cincinnatus lebte zwischen 519 und 430 vor Christus im Umfeld von Rom, wo er – glaubt man Livius – als Bauer lebte (allerdings ist das nicht hundertprozentig gesichert). Livius zufolge trat er seine erste Amtszeit als Diktator zu einer Zeit an, als Rom in seiner Existenz bedroht war. Der Senat bat ihn, das Amt des Alleinherrschers zu übernehmen, um die Stadt zu retten, was er trotz seiner „Angst um die Felder, die er dann nicht bestellen könne“ auch tat.

Die Angst der Bürger, er könnte nach dem Krieg an der Macht festhalten, war unbegründet: Cincinnatus gab die Macht unverzüglich an die Volksvertreter zurück und setzte die Arbeit auf seinen Feldern fort. Er verlangte auch keinerlei Bezahlung für seine Dienste. Damit wurde er zum Symbol des guten Führers. Cincinnatus konnte das tun, weil er vermutlich über eine große Zahl von Leibeigenen verfügte, die für ihn arbeiteten – also wirtschaftlich unabhängig war!

Der Kern der Geschichte ist aber, dass er sich dem größeren Ganzen zur Verfügung stellte, als der Staat in Gefahr war, und dass er die Machtfülle wieder abgab. Es scheint, dass wir heute wieder solche Menschen brauchen, um das Vertrauen in die Demokratie und die Politik und die Werte, die wir leben wollen, wieder herzustellen.

Und wir finden diese Menschen, wenn wir einen Blick in die Gemeinden werfen.