Im Gespräch
„Karl Nehammer ist ein Mann des Gesprächs“
Herr … – wie darf man Sie eigentlich ansprechen? Herr Bürgermeister? Herr Altbürgermeister? Herr Häupl?
Das ist mir eigentlich egal. Aber ich bin seit sechs Jahren nicht mehr im Amt. Da ist die Anrede Bürgermeister in Wien zwar üblich, aber nicht angebracht.
In diesen sechs Jahren hat sich die Welt nicht unbedingt zum Besseren verändert. Sind Sie jetzt, was die Zukunft betrifft, pessimistischer als noch vor sechs Jahren?
Pessimismus ist kein guter Ratgeber. Genauso wie sinnloser Optimismus, der alles schönredet, natürlich unsinnig ist. In den letzten Jahren gab es viele Krisen, die wir so in den Jahrzehnten zuvor nicht gekannt haben: die Pandemie, aber natürlich auch der Krieg, in den eine Atommacht verwickelt ist. Oder die Klimakrise. Das alles gibt nicht unbedingt Anlass zu überzogenem Optimismus. Aber man kann daraus lernen. Nicht zuletzt, welche tolle Rolle die Wissenschaft spielt. Es ist ja keine Frage, dass etwa die Impfung der Gamechanger bei der Pandemiebekämpfung war.
Michael Häupl war der bislang letzte Gesprächspartner im KOMMUNAL-Podcast.
Dieser Beitrag ist eine kurze Zusammenfassung des Gesprächs, in voller Länge nachzuhören auf kommunal.at/podcasts
Es gibt nicht wenige, die das bestreiten. Wir erleben in den letzten Jahren eine Überhitzung des Diskurses – ob im Zusammenhang mit den Corona-Maßnahmen oder in Hinblick auf den Ukrainekrieg. Man hat den Eindruck, dass ein Teil der Bevölkerung wegkippt. Was kann man als Bürgermeisterin, als Bürgermeister dagegen tun?
Meine Empfehlung ist da immer: reden, reden, reden. Ja, der Prozentsatz derjenigen, die sozusagen aus einem demokratisch-politischen Diskurs herauskippen, ist größer geworden. Aber es ist bei Weitem nicht die Mehrheit. Es ist eben nicht das Volk, das so denkt. Man muss mit den Leuten reden. Ich weiß schon, dass es schwierig ist, aber anders geht es nicht. Da hat es vielleicht der Bürgermeister in einer kleinen Gemeinde einfacher.
Ist es sinnvoll, mit Leuten zu reden, die einem erklären möchten, dass es Chemtrails gibt oder dass mit der Corona-Impfung ein 5G-Chip injiziert wird?
Ja. Es hilft ja nichts. Man muss das Gespräch immer wieder führen – auch wenn es noch so absurd ist.
Hat die Politik im Zuge der Corona-Bekämpfung große Fehler gemacht?
Fehler sind in der Sache passiert und in der Kommunikation. Natürlich war die Diskussion über eine Impfpflicht nicht hilfreich, weil die Leute da heute viel allergischer reagieren, als das früher das Fall war. Wir haben früher einen Tropfen auf ein Stück Zucker bekommen und mussten das schlucken – ohne Diskussion. Aber das ist 60 Jahre her. Heute muss man mehr mit Argumenten überzeugen. Und das gelingt auch zunehmend: Die Zahl der Impfgegner ist zuletzt deutlich zurückgegangen.
Tragen Bürgermeisterinnen und Bürgermeister in diesen Zeiten die Hauptlast der politischen Verantwortung?
Sie tragen insofern eine besondere Verantwortung, weil sie aus der Welt der Politik jene sind, denen am meisten Vertrauen entgegengebracht wird. Und damit einher geht eine besondere Verantwortung, was die Diskussionsfähigkeit und die Überzeugungsarbeit betrifft.
Gerade Bürgermeister reden oft, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist – was bei vielen Menschen gut ankommt. Sollte sich da die Politik auf Bundes- und Landesebene ein Vorbild nehmen? Stichwort Authentizität.
Es ist schon richtig, dass die höchste Authentizität einer politischen Person bei den Bürgermeistern liegt. Dort am Stammtisch, im Wirtshaus, im Dorf. Da braucht man keine geschliffene Diplomatensprache. Das wäre ja auch ziemlich komisch.
Wie viel Ehrlichkeit verträgt die Spitzenpolitik?
Natürlich maximale Ehrlichkeit. Die Lüge ist kein gutes Instrument, auch nicht in der Spitzenpolitik. Es muss nur nicht alles gesagt werden, was wahr ist.
Sie waren 24 Jahre Bürgermeister. Wie verändert einen dieses Amt? Und wie wappnet man sich gegen die Gefahr, zynisch zu werden?
Zynismus liegt mir überhaupt nicht. Eine gute Waffe dagegen ist Selbstreflexion und ein gewisses Niveau an Humor. Aber natürlich verändert man sich. Es wäre ja auch ein Armutszeugnis, wenn ich heute noch so denken würde wie mit 25 Jahren. Ob mich das Amt verändert hat? Wahrscheinlich schon. Nicht zuletzt das Tempo, mit dem Entscheidungen getroffen werden müssen.
Welche Vision für Wien hatten Sie 1994, als Sie erstmals zum Bürgermeister gewählt wurde? Und sind Sie dieser näher gekommen?
Ich wollte damals deutlich machen, dass eine Stadt wie Wien nur dann ihren Spitzenplatz in Hinblick auf Lebensqualität und soziale Ausgewogenheit halten kann, wenn Entscheidungen auf wissenschaftlicher Basis getroffen werden. Darum habe ich mich immer bemüht. Erfolgreich, wie ich meine. Es ist kein Zufall, dass in Wien die Wissenschaftsfeindlichkeit wesentlich geringer ist als im Rest des Landes.
Sie haben als SPÖ-Bürgermeister von Wien eng mit dem damaligen ÖVP-Landeshauptmann von Niederösterreich, Erwin Pröll zusammengearbeitet. Diese parteiübergreifende Freundschaft ist mittlerweile selten geworden, man hat den Eindruck, dass es besonders zwischen den beiden großen Volksparteien offene Feindschaft gibt. Würden Sie die These unterschreiben, dass dieses Auseinanderbrechen der politischen Mitte mit ein Grund ist, warum sich viele Menschen von der Politik nicht mehr vertreten fühlen?
Das Argument hat schon was für sich. Der Erwin und ich haben natürlich grundsätzlich verschiedene weltanschauliche Ansichten. Aber wir haben gezeigt, dass man damit auch respektvoll umgehen kann. Dass man Konflikte austragen kann, ohne dafür persönlich verfeindet zu sein. Und diese Freundschaft hat sich im Laufe der Zeit entwickelt, sie basiert auf gegenseitigem Vertrauen.
Das Auseinanderfallen der beiden großen Parteien hat für mich viel mit dem ehemaligen Bundeskanzler Sebastian Kurz zu tun, der – wie man in Wien sagt – ein Sozialistenfresser war. Ich habe aber den Eindruck, dass es jetzt zu neuen Gesprächsanknüpfungen kommt. Das hängt mit den handelnden Personen zusammen. Der amtierende Bundeskanzler Karl Nehammer ist sicher ein Mann des Gesprächs.
Was kann die Politik – alle Parteien – gegen die Vergiftung des politischen Diskurses durch die sozialen Medien tun?
Ich bin da vielleicht der falsche Ansprechpartner, weil ich nie auf Facebook, Instagram oder einer anderen dieser Plattformen war.
Trotzdem waren und sind auch Sie mit den Auswirkungen konfrontiert.
Ich glaube, man muss darüber nachdenken, dieselben Regeln, die es im Journalismus oder auch im persönlichen Umgang gibt, auch für das Internet anzuwenden. Warum sollte es in der digitalen Welt andere Regeln geben als in der analogen?
Was von Ihnen als Bürgermeister bleibt, sind auch einige „Wuchteln“: etwa, dass Sie einem türkischen Vater, der seine Tochter nicht in die Schule lassen wollte, angedroht haben, ihm „die Ohrwascheln abzureißen“. Oder die Sache mit der Lehrergewerkschaft, die gegen längere Arbeitszeiten protestierte. Sie meinten: „Wenn ich 22 Stunden die Woche arbeite, kann ich Dienstagnachmittag heimgehen.“ Muss man als Bürgermeister manchmal deftig formulieren?
Ich lebe in Ottakring, das ist mein Lieblingsbezirk in Wien, auch weil er so bunt und divers ist. Einmal sind am Brunnenmarkt zehn türkische Männer zu mir gekommen und haben einen Landsmann mitgeschleppt, der seine Tochter nicht in die Schule lassen wollte. In dem Zusammenhang ist das Zitat gefallen. Das hat mir eine ungeheure Welle der Zustimmung gebracht, aber auch etwas Häme – etwa im von mir hochgeschätzten „Standard“. Aber ich stehe dazu: Wer bei uns lebt, hat die Rechte von Frauen und Mädchen anzuerkennen. Darüber diskutiere ich nicht.
Und was die Lehrergewerkschaft betrifft: Damals hat ein Gewerkschafter gedroht, eine Diskussion über die 22-Stunden-Woche bedeute Krieg. Und das angesichts kriegerischer Ereignisse, die man damals über die Medien bildhaft mitbekommen hat. Ich habe diese Aussage als das Letzte empfunden, da war ich wirklich zornig.
Würden Sie die beiden Aussagen zurücknehmen?
Die nicht.
Welche schon?
Die „mieselsüchtigen Koffer“. Das war auf einem Bundesparteitag (im August 1999, Anm. d. Red.), die Stimmung war trist und ich habe gesagt: „Im Vergleich zu den mieselsüchtigen Koffern sind wir ja eine richtig lustige Partei.“ Der Spruch ist damals aus einer Verzweiflung heraus entstanden. Aber das war nicht gut. Nein, das war gar nicht gut.
Haben Sie sich entschuldigt?
Ja.
Warum entschuldigen sich Spitzenpolitiker eigentlich so selten? Ich habe den Eindruck, dass das bei der Bevölkerung gut ankommt,
wenn man Fehler zugibt.
Keine Ahnung. Aber die Entschuldigung muss auf jeden Fall ehrlich gemeint sein. Und sie muss gut begründet sein.
Was war rückblickend Ihr größter Fehler?
Das müssen Sie die Opposition fragen.
Und welchen verzeihen Sie sich selbst nicht?
Dass ich mich von der Politik so habe vereinnahmen lassen, dass ich mich zu wenig um meine Familie gekümmert habe. Meine Kinder tragen es mir Gott sei Dank nicht nach, sie haben es aber auch nicht anders kennengelernt.
Sind Sie eigentlich zufrieden mit Ihrem bisherigen Leben?
Ja, über weite Strecken. Im beruflichen Leben habe ich keine Fehlentscheidungen getroffen. Privat hätte ich vielleicht manches besser machen können. Aber das ist jetzt vorbei. Ich bin zum dritten Mal verheiratet, und das sehr gut.