Gesundheitsministerin Beate Hartinger-Klein
"Der Allgemeinmediziner muss eigentlich der bestausgebildete Arzt sein." Gesundheitsministerin Beate Hartinger-Klein im Gespräch mit KOMMUNAL-Chefredakteur Hans Braun.

"Gemeinden müssen Anreize für Ärzte schaffen"

Gesundheitsministerin Beate Hartinger-Klein spricht im KOMMUNAL-Interview über ihre Pläne, vor allem die Primärversorgungszentren zu installieren und eine bessere Honorierung für Landärzte zu ermöglichen. Aber sie meint auch, die „Gemeinden sollen kreativ werden“, wenn sie Ärzte in ihren Gemeinden haben wollen.

Frau Minister, Ihre Initiative zur Umsetzung der 75 bis 2021 geplanten Primärversorgungseinrichtungen oder -zentren wird von den Gemeinden begrüßt, vor allem weil daraus eine finanzielle Entlastung bei den Spitalsambulanzen entstehen könnte. Diese Zentren sind aber keineswegs eine hinreichende Lösung des Versorgungsproblems vieler Gemeinden im ländlichen Raum, was praktische Ärzte, aber auch die „gängigsten Fachärzte“ betrifft. Wie wollen sie der immer problematischeren „Nachbesetzungsfrage“ in Landarztpraxen begegnen?

Es muss mehr Anreize geben, dass Allgemeinmediziner in ländlichen Regionen eine Ordination übernehmen. Erst kürzlich hatte ich ein Gespräch mit Bildungsminister Faßmann, bei dem wir darüber diskutiert haben, wie wir bei Medizinstudenten das Interesse für den Beruf des Allgemeinmediziners wecken können.

Dabei sind auch die Bundesländer gefordert. Manche Länder machen das sehr gut, indem sie Stipendien an Ärzte, die ihre Ausbildung im ländlichen Bereich machen, vergeben. So sehen die Jungärzte, wie toll es ist, eine Praxis zu übernehmen.

Ein zweiter Punkt ist, dass die Gemeinden Anreize schaffen müssen. Immer wieder kommen Bürgermeister zu mir und wollen wissen, wie Sie zu einem neuen Gemeindearzt kommen, wenn etwa der bisherige Arzt in Pension geht. Hier sollte es „Job-Börsen“ auf den Med-Unis geben, wo sich die Gemeinden präsentieren können und wo sie zeigen können, was sie Ärzten bieten.

Der dritte Punkt ist das Finanzielle, denn es ist klar, dass entsprechend gut entlohnt werden muss. Durch die Fusionierung der Sozialversicherung ist es möglich, einen Gesamtvertrag zu machen, wo der Hausarzt nicht mehr nach Quantität, sondern nach Qualität der Arbeit bezahlt wird. So kann sich der Arzt Zeit für die Patienten nehmen.

Ich habe mich auch sehr mit dem Thema „Generation Y“ auseinandergesetzt, weil das unsere zukünftigen Ärztinnen und Ärzte sein werden. Dabei habe ich einerseits festgestellt, dass diesen jungen Menschen die Work-Life-Balance wichtig ist und dass sie andererseits gerne in Netzwerken arbeiten, weil sie nicht alleine Verantwortung tragen wollen. Das wird durch die Primärversorgungseinrichtungen ermöglicht.  

Der Begriff „Allgemeinmediziner“ wird begrifflich manchmal als unter dem Facharzt stehend empfunden. Würde eine Umbenennung in „Facharzt für Allgemeinmedizin“ etwas bringen?

So leicht wird das, fürchte ich, nicht gehen. Bei dem Treffen mit Minister Faßmann haben wir aber auch darüber gesprochen. Innerhalb der Ärzteschaft gibt es dazu unterschiedliche Meinungen. Denn natürlich müsste man dann auch die Ausbildung verlängern und es stellt sich die Frage, ob das sinnvoll ist. 

Bürgermeister berichten immer wieder, dass sie im benachbarten Ausland richtiggehend nach Ärzten fahnden, aber trotzdem niemanden finden. Manche Gemeinden stellen eine komplett ausgerüstete Praxis und ein Auto zur Verfügung, aber trotzdem findet sich kein Arzt, der Interesse hat. Welchen Anreiz soll eine Gemeinde bieten?

Ich habe sogar gehört, dass Gratis-Schipässe angeboten werden!

Wichtiger ist aber meist, dass die Partnerin oder der Partner ebenfalls eine Jobmöglichkeit vorfindet oder dass es eine Kinderbetreuung gibt. Hier ist die Kreativität der Bürgermeisterinnen und Bürgermeister gefordert. 

Jungmediziner erwarten sich wahrscheinlich in städtischen Krankenhäusern herausforderndere Fälle als in einem Spital auf dem Land. Ist das vielleicht ein Grund, warum die Mediziner eher nicht aufs Land wollen?

Das glaube ich nicht, denn der Allgemeinmediziner muss eine Übersicht über alles haben, um richtige Diagnosen zu stellen. Dafür benötigt man ein enormes Wissen.

Der Landarzt muss erkennen, ob er selbst dem Patienten therapieren kann oder ob er ihn zu einem Spezialisten schicken muss. Der Arzt hat es in der Hand, den Patienten dorthin zu steuern, wo es medizinisch notwendig ist. Der Allgemeinmediziner muss eigentlich der bestausgebildete Arzt sein.

Wenn man Kopfschmerzen hat, dann kauft man sich in der Apotheke Tabletten und wenn man ein wirkliches Problem hat, dann wird man vom praktischen Arzt meist gleich an einen Facharzt überwiesen.

Das passiert deswegen, weil der praktische Arzt keine Zeit hat, denn er braucht eine möglichst große Zahl an Patienten, um genügend Umsatz zu machen. Dazu kommt noch, dass es im Quartal eine Deckelung pro Patienten gibt, sodass es für den Arzt finanziell nicht attraktiv ist, wenn ein Patient öfters im Quartal zu ihm kommt.

Daher habe ich die Fachgesellschaft für Allgemeinmedizin und den Obersten Sanitätsrat beauftragt, sich mit einer Umstellung des Honorarkatalogs zu befassen.  

Das Aufbrechen bestehender Strukturen ist nicht einfach. Welche neuen Wege könnte man gehen?

Mein Ansatz ist es, bei den Zielen anzufangen. Die Menschen werden älter, aber sie werden nicht gesund alt. Wir müssen also die Zahl der „gesunden“ Lebensjahre erhöhen. Darauf muss die gesamte Gesundheitsversorgung angepasst werden. Das geht von der Vorsorge bis zur entsprechenden Steuerung im Krankheitsfall. Diese kann einerseits durch den Allgemeinmediziner erfolgen oder durch eine entsprechende Triagierung*, wie das derzeit in Wien, Niederösterreich und Vorarlberg mit dem Gesundheitstelefon gemacht wird.

Der Patient kann dort anrufen und dann wird mit Hilfe des sogenannten Manchester-Systems analysiert, wie er behandelt werden soll. In manchen Fällen reicht es, wenn man sich eine Wärmeflasche macht oder einen Topfenwickel auflegt, in anderen wird es sinnvoll sein, wenn man zum nächsten Allgemeinmediziner geht und manchmal wird man ins Spital müssen. 

* Anm. d. Red.: „Triagierung“ kommt vom französischen „Triage“ und bedeutet sortieren oder aussuchen. Die Bezeichnung, im Deutschen auch Sichtung oder Einteilung, bezeichnet ein nicht gesetzlich kodifiziertes oder methodisch spezifiziertes Verfahren der Priorisierung medizinischer Hilfeleistung, insbesondere bei unerwartet hohem Aufkommen an Patienten und objektiv unzureichenden Ressourcen. 

Es gibt eine große Palette von alten Hausmitteln, die gerade im ländlichen Bereich angewandt wurden, weil es keinen Arzt in der Nähe gab. Ist zum Beispiel ein Topfenwickel tatsächlich ein Behandlungsvorschlag, der am Gesundheitstelefon gegeben wird?

Bei Entzündungen oder einem Sonnenbrand wird ihnen das jeder Arzt – zumindest als Zusatztherapie – empfehlen.  

Im Regierungsprogramm ist vorgesehen, dass der Mutter-Kind-Pass bis zum Alter von 18 Jahren erweitert wird. Sollte die Erweiterung nicht gleich zum Anlass genommen werden, das derzeitige Schularztwesen, das hohe Kosten und wenig Nutzen bringt, grundlegend zu reformieren und wieder mehr die Eltern in die Pflicht zu nehmen, mit ihren Kindern jährlich zum Arzt zu gehen?

Auch das habe ich mit dem Bildungsminister diskutiert.

Man braucht beides, aber natürlich spielen die Schulärzte eine große Rolle. Wir wollen daran arbeiten, die Ärzte mit digitalen Möglichkeiten zur Dokumentation auszustatten, um mehr epidemiologische Daten zu bekommen.

Wir haben beispielsweise viele adipöse Kinder, und hier muss man beginnen, präventiv zu steuern.  

Wenn ich als mündiger Erwachsener jährlich zur Gesundenuntersuchung gehe und meine Kinder mitnehme, warum müssen sie dann auch noch zum Schularzt?

Die Kinder sollen ja einen Teil der Vorsorgeuntersuchung machen. Mein Ansatz ist, das bestehende System bestmöglich zu nutzen. 

Die Gemeinden sind mit dem Schularzt-System nicht glücklich, weil sie als Schulerhalter das Equipment zur Verfügung stellen müssen – etwa digitale Waagen. Da stellt sich die Frage, warum die Gemeinde dem Arzt, der ja meist eine Praxis hat, noch zusätzlich eine Ordination zur Verfügung stellen muss.

Das sind ja keine vollausgestatteten Ordinationen. Wir leisten uns die Schulärzte, und die haben gewisse Aufgaben zu erfüllen. 

Was die Reformdiskussion zu den Sozialversicherungsträgern betrifft, ist für den Gemeindebund vor allem von Interesse, dass es betreffend der im Regierungsprogramm verankerten Ausweitung der gemeinsamen Prüfung (die GPLA gibt’s jetzt ja schon bald 15 Jahre) auf eine gemeinsame Einhebung der lohn- und gehaltsabhängigen Abgaben durch die Finanzverwaltung jedenfalls zu keiner Verringerung des Kommunalsteuer-Aufkommen kommen wird. Wie stehen Sie dazu?

Aus Sicht der Gemeinden verstehe ich das. Derzeit ist in Diskussion, ob man eine gemeinsame Prüfungsstelle einrichtet oder ob das – wie es im Regierungsprogramm steht – das Finanzministerium alleine macht. Ich unterstütze das Anliegen der Gemeinden. 

Der Gemeindebund steht einer Harmonisierung der BMS (Geld- und Sachleistungen) gesprächsbereit gegenüber. Für den Fall, dass künftig die Notstandshilfe in die Mindestsicherung integriert wird, muss der Bund den Ländern und Gemeinden vollen Kostenersatz leisten. Sinnvoller erscheint jedoch eine gemeinsame Vollziehung von Arbeitslosengeld und Mindestsicherung durch die Geschäftsstellen des Arbeitsmarktservice, also eine Kompetenzverschiebung hin zum Bund. Wie stehen sie zu einer solchen Kompetenz- und Verwaltungsreform?

Man muss unterscheiden: Das eine ist eine Versicherungsleistung, das andere ist eine Sozialhilfeleistung. Ich bin bestrebt, die Dinge gesamtheitlich zu analysieren, weswegen wir das Mindestsicherungsgesetz auf Herbst verschoben haben.  

Das heißt, es ist noch alles offen?

Es ist noch offen, aber es wird ein Grundsatzgesetz als Rahmen für die Länder geben. Diese müssen dann entsprechende Ausführungsgesetze machen.

Am 18. Mai haben sich die Landeshauptleute mit dem Finanzminister auf den vollständigen Ersatz der tatsächlichen Kosten des Pflegeregress-Verbots (Regress-Einnahmenausfälle, Kosten für Menschen mit Behinderungen und Entfall der Selbstzahler) für Länder und Gemeinden verständigt. Derzeit wird dazu von einem Höchstbetrag in Höhe von jährlich mindestens 340 Millionen Euro ausgegangen. Wie soll die Umsetzung dieser politischen Vereinbarung im Detail aussehen?

Wir warten derzeit auf die Vorlage der tatsächlichen Ausgaben, die wir dann prüfen werden.  

Die Gemeinden haben keine gesetzliche Grundlage für die Datenerhebung. Sind die Gemeinden, obwohl sie bis zu 50 Prozent kofinanzieren, überhaupt von dieser Bund-Länder-Einigung umfasst? Bis heute erfolgte keine Einbindung der Gemeindebünde betreffend diesen Kostenersatz. Die Gemeinden hören nur immer wieder, dass Bund und Länder in Verhandlung sind.

Die Ansprechpartner für die Gemeinden sind die Länder.

Gemeindebund und Städtebund sind aber per Verfassung mit der bundesweiten Vertretung der Gemeinden beauftragt. Wenn also ein Bundesgesetz eine Auswirkung auf die Gemeinden hätte …

… dann müssen sie es mit den Verbindungsstellen der Länder diskutieren. Oder mit der Landeshauptleutekonferenz. 

Welche Maßnahmen zur Entlastung des stationären Bereichs und zur Attraktivierung der Pflege in den eigenen vier Wänden sind geplant, um den durch das Regress-Verbot entstandenen Druck von den stationären Einrichtungen zu nehmen? Wie stehen sie etwa zu den jüngsten Forderungen, das Pflegegeld auch unterhalb von Stufe 4 deutlich zur erhöhen?

Natürlich muss es einen Anreiz geben, dass die Betroffenen zu Hause gepflegt werden. Durch die Digitalisierung gibt es neue Möglichkeiten, dass die Menschen weiterhin alleine in ihrer Wohnung leben können.

Der zweite Punkt ist die 24-Stunden-Betreuung, die entsprechend ausgebaut wird. Dabei geht es vor allem darum, die Qualität der Agenturen sicher zu stellen. 

Wird es mehr finanzielle Anreize für 24-Stunden-Pflege geben? Das Pflegepersonal ist ja oft an der Grenze der Leistungsfähigkeit, weil es zu wenig Pflegerinnen und Pfleger gibt.

Für die Bezahlung in stationärer Pflege und bei den Sozialhilfeverbänden wie Caritas oder Hilfswerk sind die Länder bzw. die jeweiligen Institutionen zuständig. Hier habe ich wenig Einfluss. Die Stundensätze bei den Verbänden sind aber nicht so gering. 

Woran liegt es dann, dass praktisch alle Verbände darüber klagen, dass sie kaum Leute für die Pflegearbeit finden? Gerade für Frauen auf dem Land wäre ein Pflegejob eine Option, wieder ins Berufsleben einzusteigen.

Wir müssen vor allem für junge Menschen Anreize schaffen, im Gesundheits- und Pflegebereich tätig zu sein. Wir haben beim AMS einen Schwerpunkt für Frauen, die wieder in einen Beruf einsteigen wollen, gesetzt, damit sie sich qualifizieren lassen können.

Was die Ausbildung betrifft, machen wir derzeit eine Studie mit der wir erheben wollen, ob die Errichtung einer entsprechenden berufsbildenden höheren Schule sinnvoll wäre.  

Derzeit gibt es ja noch keine höhere Schule für den Pflegeberuf. Bei einem Interview mit Bildungsminister Faßmann im Frühling habe ich ihn gefragt, ob eine solche Schule eingerichtet werden soll. Er hat mich an Sie verwiesen.

Wir brauchen eine solche Schule für den Pflegeberuf. Die Gesundheits-Landesräte in manchen Bundesländern würden zwar eher eine Pflege-Lehre bevorzugen, aber aufgrund der uns zur Verfügung stehenden Daten halten wir eine berufsbildende höhere Schule für die bessere Lösung.

Derzeit kommen betagte Personen nach einem Krankenhausaufenthalt sehr schnell, oft zu schnell, ins Pflegeheim zurück. Dadurch verschieben sich Kosten zu Ländern und Gemeinden (Nachbehandlung und Reha im Pflegeheim). In diesem Zusammenhang ist auch auf den für den Pflegebereich im FAG-Paktum vereinbarten Kostendämpfungspfad zu verweisen. Generell sollte auch der sogenannte „Graue Finanzausgleich“ (Mehrkosten durch Erhöhung von Standards und Qualitätskriterien) vermieden werden: Wie sehen Sie die Chancen, dass die Bundesebene insgesamt mehr Bewusstsein für die Folgekosten von legistischen Maßnahmen für die vollziehende Länder- und Gemeindeebene entwickelt?

Dafür sind der Finanzminister und der Justizminister zuständig.  

Bei den Kommunalen Sommergesprächen in Bad Aussee hat der Gesundheitsökonom Gottfried Haber gemeint, dass die Pflege auf das Thema Multimorbidität – also, dass pflegebedürftige Menschen gleich an mehreren Krankheiten leiden – nicht ausreichend vorbereitet ist.

Je älter Menschen werden, desto multimorbiditärer werden sie. Wir sind uns sehr bewusst, dass das eine große Herausforderung für das Gesundheitssystem ist. 

Bei jüngeren Menschen sind Symptome leichter zuordenbar. Bei älteren Menschen wird das schwieriger.

Ja, ein Problem dabei ist, dass man, wenn ein Mensch an mehreren Krankheiten leidet, er auch mehrere Medikamente braucht. Hier muss man sehr genau auf die Wechselwirkungen achten. Deshalb ist die e-Medikamentation, als Teil von ELGA, ein wichtiges Thema. Das Projekt wurde in der Steiermark begonnen und wird jetzt ausgerollt.