Demographie

Bedeutung der Gemeinde für Familien

Was haben demografischer Wandel, Geburtenraten und Integration mit der Gemeinde zu tun? Sehr viel, zeigt dieser Beitrag. Denn die Kommune ist nicht nur Verwaltungseinheit, sondern prägt maßgeblich den Alltag von Familien – ob durch Betreuungsangebote, leistbares Wohnen oder die Qualität des öffentlichen Raums. Gerade angesichts einer alternden Gesellschaft und wachsender sozialer Herausforderungen kommt der Gemeinde als Lebensumfeld zentrale Bedeutung zu. Der Autor analysiert, wie Gemeinden dem statistischen Altern entgegenwirken und gleichzeitig als Orte gelingender Sozialisation fungieren können. Familien, so zeigt er, sind nicht nur private Einheiten, sondern leisten durch Wertevermittlung und Beziehungsarbeit zentrale Beiträge für die Gesellschaft – und brauchen dafür passende Rahmenbedingungen. Von aktiver Altenhilfe über Kinderbetreuung bis hin zu lokaler Integration: Gemeinden können Brücken bauen – oder Brüche vertiefen. Der Beitrag plädiert dafür, Familienpolitik nicht technokratisch zu denken, sondern ganzheitlich: als Investition in ein stabiles, resilientes Gemeinwesen, das in der Gemeinde beginnt – und dort jeden Tag erlebt wird.

Auf den ersten Blick ist es nicht einleuchtend, warum man sich spezifisch mit der Frage befassen soll, welche Bedeutung Gemeinden für Familien haben. Weil die Familie doch als Keimzelle der Gesellschaft gilt, ist es nicht zwingend, auf eine Gebietskörperschaft – und dann noch dazu auf die unterste Ebene staatlicher Organisation – zu fokussieren. Gerade unter juristischer und politikwissenschaftlicher Perspektive wird jedoch rasch klar, warum es nicht sinnvoll ist, eine weite – nämlich auf die Gesamtgesellschaft bezogene – Perspektive einzunehmen, weil sich das rechtliche Handeln der Gesellschaft in Gesetzgebung und Vollziehung in Gebietskörperschaften und Selbstverwaltungskörpern ereignet. Die Gemeinde hat zwar keine Gesetzgebungskompetenzen, ist jedoch als Gebietskörperschaft der territorialen Selbstverwaltung in besonderem Maß für den Alltag der Menschen von Bedeutung.

Geht man nun davon aus, dass sich das Alltagsleben auf der Gemeindeebene vollzieht, und beschränkt die Analyse auf das Zusammenspiel zwischen Gemeinden und dem familialen Leben, könnte man eine breite historische Erzählung vorlegen, über die ökonomische Bedeutung der Familien für die Gemeinden forschen oder über Beziehungsstrukturen auf Gemeindeebene berichten. In einem Sammelband, der demografischen Fragen gewidmet ist, ist es jedoch naheliegend, die aktuellen demografischen Entwicklungen zum Ausgangspunkt einer Skizze über die Wechselwirkungen zwischen Gemeindeebene und Aspekten des familialen Lebens zu wählen. 

Diesem Ansatz entsprechend werden im ersten Abschnitt des vorliegenden Beitrags kurz die Faktoren des zentralen Trends der demografischen Entwicklung – nämlich des gesamtgesellschaftlichen Alterns – dargestellt, ehe auf die Gemeinde als Lebensumfeld für Familien eingegangen wird. Im Anschluss daran werden Handlungsfelder beschrieben, anhand welcher die Bedeutung der Gemeinde für Familien in einer alternden Gesellschaft erkannt und in Einzelbeispielen gezeigt wird, welche Optionen zum beiderseitigen Nutzen von Gemeinden und Familien bestehen und entwickelt werden können.

Bestandsaufnahme 

Faktoren statistischer Alterung

Die statistische Alterung der Gesellschaft ist ein Phänomen, das postindustrielle Gesellschaften weltweit betrifft. Über das Ausmaß, die Ursachen und die Konsequenzen sind Bibliotheken geschrieben worden, und haben Regierungen weltweit Maßnahmen gesetzt, mit denen auf die Alterung der Gesellschaft reagiert werden kann. 

Statistisch hängt das Ausmaß des Durchschnittsalters – und damit bei einer dynamischen Betrachtung die Alterung – einer Gesellschaft von drei Faktoren ab: der individuellen Lebenserwartung, der Zahl der Lebendgeburten und der Wanderungsbilanz. Diese Faktoren entziehen sich keineswegs der Steuerung durch gesetzliche und administrative Maßnahmen, können jedoch durch diese – zumal in einem demokratisch-rechtsstaatlichen System – nur bedingt beeinflusst werden:

  • Das individuelle Lebensalter hängt von genetischen Faktoren, Umweltfaktoren sowie der medizinischen und sozialen Entwicklung ab, an welcher der Einzelne teilhat. Die ökonomischen und wissenschaftlichen Potenziale demokratisch-rechtsstaatlicher Gesellschaften haben weltweit wesentlich dazu beigetragen, diesen Faktor zu steigern: Der Rückgang der Kindersterblichkeit, die Verbesserung der Hygiene und die Errungenschaften des medizinischen Fortschritts haben die individuelle Lebensspanne in einer Weise ausgedehnt, die bis vor wenigen Generationen undenkbar erschien.
     
  • Die Zahl der Lebendgeburten hängt von der Bereitschaft der Bevölkerung zur Reproduktion ab, die bislang nur in totalitären Systemen durch normative und administrative Maßnahmen kurzfristig gesteigert oder restringiert wurde. Strikte Abtreibungsverbote zur Erhöhung der Geburtenrate oder die Begrenzung der Kinderzahl durch Auferlegung massiver ökonomischer Nachteile lassen sich mit einer demokratisch-rechtsstaatlichen Gesellschaft nicht vereinbaren. Ökonomische Anreize zur Erhöhung der Reproduktion sind nur bedingt nachhaltig wirksam.
     
  • Die Wanderungsbilanz hängt von der Attraktivität einer Gesellschaft ab, kann jedoch durch das Grenzregime beeinflusst werden. Dabei kann die Einwanderung in Europa angesichts der derzeit geltenden internationalen Verträge und der in ihrer Umsetzung ergangenen Judikatur nur in geringem Maß durch nationale Regelungen beeinflusst werden.

Alle drei Faktoren des gesamtgesellschaftlichen Alterns sind faktisch und rechtlich mit der Gemeindeebene direkt oder indirekt eng verbunden:

  • Das individuelle Lebensalter hängt direkt mit baulichen Gegebenheiten, der Versorgung mit hygienisch einwandfreiem Wasser und guter Luft, mit der Prävention gegen Naturgefahren, Gefahren im Straßenverkehr, guter Bausubstanz und funktionierender sozialer Kohäsion zusammen, die auch der Vorbeugung von Gewalt dient.
     
  • Die Geburtenrate hängt damit zusammen, ob das lokale Umfeld für die Familiengründung attraktiv ist, was durch die Arbeitsmöglichkeiten, die Wohnkosten, die medizinische Versorgung, das Nahversorgungsangebot, die Einrichtungen zur Kleinkindbetreuung und die Bildung determiniert ist. Familienfreundlichkeit ist für die Attraktivität einer Gemeinde für junge Menschen wichtig: Insbesondere die Möglichkeiten der Kinderbetreuung und des leistbaren Wohnens sind für die Entscheidung, wo sich eine Familie niederlässt, entscheidend. Wichtig sind aber auch die Verkehrsanbindung, Geschäfte, kulturelle Angebote und IT-Infrastruktur. Und natürlich gilt: je mehr Unternehmen Arbeitsplätze bieten, desto eher ist die Gemeinde für Familien attraktiv.
     
  • Indirekt bestimmen diese Faktoren die territoriale Binnenwanderung und die gesamtgesellschaftliche Wanderungsbilanz: wenn es gelingt, ein entsprechendes Umfeld zu schaffen, in dem Menschen Familien gründen und gut altern können, verfestigt sich ihr Aufenthalt im Inland und steigt die Attraktivität für Zuwanderung; ist dies nicht der Fall, steigt die Abwanderung.

Unübersehbar ist jedoch auch, dass die Situation auf Gemeindeebene im Zusammenspiel dieser Faktoren nicht nur in quantitativer, sondern auch in qualitativer Hinsicht beeinflusst wird:

  • Wenn beispielsweise Arbeitsplätze und Kinderbetreuungsmöglichkeiten fehlen und das Bild der Gemeinde durch Alte geprägt ist, besteht die Gefahr, dass ein Prozess in Gang gesetzt wird, der die statistische Alterung beschleunigt, weil die Geburtenrate gesenkt und die Abwanderung gefördert werden.
     
  • Und wenn dann in Leerstand gering qualifizierte Zuwanderer angesiedelt werden, kann sich eine Dynamik auf Gemeindeebene verstärken und auf regional höheren Ebenen fortsetzen, die letztlich in abnehmenden Geburtenraten, Anwachsen der Zahl der älteren Menschen und einer Wanderungsbilanz mündet und bei der hoch qualifizierte Menschen das Land verlassen und geringer qualifizierte Menschen zuwandern, deren Integration hohe Kosten verursachen kann oder gar ungeachtet zahlreicher Angebote nicht gelingt.

Tendenzen der Bevölkerungsentwicklung

Aktuell zeigen diese drei Faktoren ein interessantes Bild: Die Gesamtbevölkerung ist durch steigende individuelle Lebenserwartung sowie einen insgesamt positiven Saldo aus Geburtenbilanz und Wanderungsbilanz von 1950 bis 2023 von 6,9 Millionen auf 9,1 Millionen Menschen gestiegen. Dies setzt die öffentlichen Haushalte stark unter Druck, weil sowohl für die Versorgung einer steigenden Anzahl von älteren Menschen, sowie in den Ausgaben für Bildung und Integration enorme Kosten anfallen, mit denen die Abgaben nicht zwingend Schritt halten: Je höher die Arbeitslosigkeit ist, je geringer die Produktivität ist, je geringer die Exportquote ist, desto geringer sind die Potenziale der Finanzierung öffentlicher Aufgaben.

Für die künftige Entwicklung skizziert Statistik Austria zwei Szenarien*: Mit Migration und einer daraus resultierenden positiven Wanderungsbilanz von kontinuierlich 28.000-35.000 Menschen p.a. wird die Gesamtbevölkerung stetig ansteigen, bis sie 2080 10 Millionen Menschen erreicht. Ohne Migration und in Verbindung mit einer weiterhin nicht bestandserhaltenden Geburtenrate wird durch das Absterben der Generation der Babyboomer 2080 die Bevölkerungszahl von 6,9 Millionen erreicht und damit auf das Niveau des Jahres 1950 sinken.

Welcher Weg gesamtgesellschaftlich eingeschlagen wird, ist offen und hängt von zahlreichen rechtlichen und politischen Determinanten ab. Ohne eine positive Wanderungsbilanz wird die Aufrechterhaltung der Versorgung der alternden Angehörigen der Generation der Babyboomer durch Geldleistungen insbesondere im Hinblick auf die Pensionen und Sachleistungen in medizinischer Versorgung und Pflege nicht gelingen. Ob dies allerdings durch eine primär durch die Asylfrage getriebene Zuwanderung und nicht primär durch gezielte Aufnahme von Fachkräften gelingen kann, ist fraglich.

Nicht zu bezweifeln ist jedoch, dass die weitere Entwicklung in dieser Frage die Gemeindeebene unmittelbar betreffen wird, weil die Gemeinde Schauplatz von Sozialisation und Integration ist. In der Gemeinde werden im Alltag jene Begegnungen erlebt und Erfahrungen gemacht, die für die Einbindung der jüngsten Generation und von Zugewanderten in das Gemeinwesen entscheidend sind. 

Die Organisation dieses sozialen Erfahrungsraums ist freilich nicht nur ein Thema von Beziehungen, sondern auch unter finanziellen Gesichtspunkten brisant: Der Bedarf an Arbeitskräften und Finanzmitteln für Kinderbetreuungseinrichtungen, Schulen und sonstigen öffentlichen Dienstleistungen bis hin zu mobilen und stationären Pflegediensten unterscheidet sich gravierend danach, ob Menschen anzusprechen sind, die mit den österreichischen Systembedingungen, Kommunikations- und Lebensgewohnheiten von Anfang an vertraut sind, oder auf Grund ihrer Herkunft aus fremden Kulturkreisen Integrationsbedarf besteht. Unter diesem Blickwinkel ist daher zweifellos anzustreben, Abwanderung hintanzuhalten, die Geburtenrate aus dem autochthonen Milieu zu fördern und die Zuwanderung – neben Asylgewährung aus zwingenden Gründen – primär auf qualifizierte Fachkräfte zu fokussieren.

Gemeinde und Familie 

Gemeinde als Lebensumfeld

Angesichts der skizzierten Potenziale der Gemeindeebene und der bestehenden – wenngleich begrenzten – rechtlichen Kompetenzen der Gemeinde, ist für die weiteren Überlegungen vom Faktum auszugehen, dass die Gemeinde jenes Lebensumfeld ist, in dem sich der Alltag der Bürger:innen ereignet. In der Gemeinde werden Errungenschaften und Defizite der Politik aller staatlichen Organisationsebenen in ihren Auswirkungen auf das Leben der Einwohner:innen des Landes unmittelbar spürbar: In der Gemeinde erleben die Bürger:innen, ob der öffentliche Nahverkehr, die medizinische Versorgung, die elementarpädagogische Einrichtung und die Bildungseinrichtung usw. die politisch intendierte Wirkung haben oder nicht; in der Gemeinde wird der öffentliche Raum als attraktiv und sicher empfunden oder nicht; in der Gemeinde wird soziale Kohäsion erlebt oder nicht.

So gesehen sind die materiellen und immateriellen Rahmenbedingungen des Gemeindelebens für die Alltagserfahrungen der Bewohner:innen von enormer Bedeutung, was erklärt, warum der Gemeinde rechtlich und politisch in der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung in all diesen Fragen eine große Bedeutung zukommt: 

Die Handhabung der Bauordnung und die Flächenwidmung beeinflussen die Gestaltung des öffentlichen und privaten Raums, das subjektive individuelle Sicherheitsgefühl, die objektive persönliche Sicherheit und die medizinische Versorgung im ambulanten Bereich; das Angebot an Kinderbetreuungs- und Bildungseinrichtungen ist für die Familiengründung von großer Bedeutung; die Akzeptanz von Unternehmen und Produktionsstandorten ist für Arbeitsplätze und im Umweg über Abgaben für die Finanzmittel, mit der die Gemeinde ihre Attraktivität beeinflussen kann, von großer Bedeutung.

Andererseits darf nicht übersehen werden, dass die Gemeinde diese Faktoren nicht alleine beeinflussen kann: Raumplanung und Finanzausgleich, regionale Strukturplanung im Gesundheitswesen, die Verantwortung der anderen Gebietskörperschaften im Schulwesen und in der Gestaltung der überlokalen Verkehrs- und Energienetze, sowie die regionale und überregionale Steuerung von Wirtschaftsförderung, Betriebsansiedlung und Tourismus sind Materien, in denen der Gemeinde Potenziale eröffnet und Grenzen gesetzt sind, die sie de jure kaum beeinflussen kann.

Familie als Lern- und Erfahrungsort

Durch ihre Intergenerationalität fungieren Familien als zentraler Lern- und Erfahrungsort, in dem kulturelle Prägungen, Informationen, formelles und informelles Wissen weitergegeben werden, ohne dass dafür öffentliche Mittel eingesetzt werden. Gesundheitswissen, psychische Resilienz, Erfahrungen von Vertrauen und Nähe, gegenseitiger Unterstützung, von Rücksichtnahme, vom Umgang mit Verletzlichkeit, Strukturierung des Tages und des Jahreskreislaufs spielen bei der Sozialisation eine wichtige Rolle. 

Dieser Effekt besteht unabhängig davon, ob diese familialen Prägungen sich auf die Persönlichkeitsentwicklung positiv auswirken, sondern auch dann, wenn das Erleben negativ ist und Sozialisationsdefizite bestehen. Familiale Bezüge wirken sowohl im Gelingen wie im Scheitern, und begründen eine unaufgebbare Bindung zwischen den Generationen.

In Familien geschieht Prägung. Der tagtägliche Kontakt und die Notwendigkeiten des alltäglichen Zusammenlebens führen dazu, dass Verhalten eingeübt wird. Essgewohnheiten, Verbraucherverhalten, Umweltschutz, aber auch das Beziehungsverhalten wird wesentlich in Familien geprägt. Die Fähigkeit, Beziehungen nachhaltig zu gestalten, entwickelt sich auch anhand von Erfahrungen in der Familie – wobei man im Guten wie im Schlechten lernen kann. Zur Frage der Kommunikation sagte Paul Watzlawik, es sei unmöglich, nicht zu kommunizieren. Dies gilt auch für familiale Beziehungen: Sie können nicht gleichsam ad acta gelegt werden, sondern müssen in das Gesamtbild der Persönlichkeit integriert werden. 

Die Ressourcenfrage

Reflektiert man in diesem rechtlichen und politischen Umfeld die Wechselwirkungen von Familie und Gemeinde, zeigt sich, dass Familien für die Ressourcen einer Gesellschaft eine zentrale Rolle spielen, die durch die Situation auf der Gemeindeebene massiv beeinflusst werden. Dies in mehrfacher Hinsicht:

Familie kann eine stark positive biografische Ressource sein, aber auch wo es Probleme in der Familie gibt, hat sie starke Auswirkungen auf die Biografie. Dies bedeutet, dass die Familie als Ressourcenfaktor für die Gesellschaft positiv, aber auch negativ wirken kann: gelingende innerfamiliale Sozialisation kann die öffentlichen Haushalte entlasten, Defizite erhöhen den Aufwand öffentlicher Mittel.

Neben der Sozialisation ist das auf der Gemeindeebene erlebte Umfeld auch für die Integration entscheidend, weil sowohl bereichernde als auch verstörende Effekte im Alltag des Gemeindelebens erfahren werden. Zahlreiche Einzelbeispiele zeigen, dass Integration auf Gemeindeebene gelingen kann, wenn die sozialen Strukturen auf Gemeindeebene kleinräumig Beziehungen ermöglichen1, in denen ebenfalls eine kulturelle Unterschiede überbrückende soziale Verbindung entsteht: Dies scheitert aber, wenn auf der Gemeindeebene durch räumliche Trennung der Milieus oder quantitative Überforderung die soziale „Verwebung“ von Zuwanderern und Zuwanderinnen mit der lokalen Gemeinschaft nicht funktioniert.2

Damit wird deutlich, dass die Gemeinde von enormer Bedeutung für die Gestaltung des Umfelds ist, in dem Sozialisationsleistungen erbracht werden können: Akzeptiert man die These, dass die materielle und immaterielle Infrastruktur auf Gemeindeebene für die Alltagsgestaltung von großer Bedeutung ist, können die Erfahrungen auf Gemeindeebene sowohl bei der Realisierung des Familienlebens als auch im Bereich der Integration nicht hoch genug eingeschätzt werden. So gesehen darf Familienfreundlichkeit von Gemeinden kein bloßes Schlagwort sein, sondern muss als zentraler Reflexionsrahmen der Gemeindeentwicklung gesehen werden3, und müssen die Entwicklungspotenziale auf Gemeindeebene im Bereich der Integration forciert werden.

In der gegebenen verfassungsrechtlichen Kompetenzverteilung wird andererseits aber deutlich, dass auch andere Gebietskörperschaften ein eminentes Interesse daran haben, die Gemeinde bei der Gestaltung der Rahmenbedingungen für familiales Leben zu unterstützen, damit diese Sozialisationsleistung durch Familien gelingt: Dies ist nicht nur eine moralische Verpflichtung, sondern muss auch im finanziellen Interesse der öffentlichen Haushalte gesehen werden, weil fehlende innerfamiliale Unterstützungsleistungen oder misslingende Sozialisation durch öffentliche – und damit öffentlich finanzierte – Leistungen kompensiert werden muss.

Handlungsfelder

Unterstützung der älteren Generation

Für das politische Handeln mit Bezug auf die Gemeindeebene ist zunächst die Erkenntnis wichtig, dass auf Grund des gesellschaftlichen Alterns jenes Phänomen zunimmt, das die Familiensoziologie als Bohnenstangenfamilie bezeichnet4. Dadurch nimmt die räumliche und emotionale Distanz in der Generationenabfolge ab: Wenn heute sehr oft vier Generationen in einer Familie gleichzeitig leben, ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass Tätigkeiten, die in der Vergangenheit typischerweise aus innerfamilialer Solidarität zwischen den Generationen geleistet wurden, nicht mehr gesetzt werden können, weil es die übernächste Generation betreffen würde, die aber nicht mehr in der Nähe wohnt. Damit wird insbesondere die Betreuung Älterer verstärkt zur Aufgabe, die im lokalen Umfeld gelöst werden muss. Dass dies die Gemeinden im bisherigen Finanzrahmen nicht alleine stemmen können, liegt auf der Hand.

Ein wichtiges Instrument zur ökonomischen Bewältigung dieser Aufgabe ist die Beteiligung von Gemeindemitgliedern außerhalb des Familienverbandes im kleinräumigen Umfeld: Projekte wie jenes der Integrierten Altenpflege (IAP), das in der Gemeinde Ludesch in den 1990er Jahren gelebt wurde5, ein Mühlviertler Projekt eines „Altenbetreuungs-, Kranken- und Nachbarschaftshilfsdiensts (AKN)6, oder auf Gemeindeebene organisierte Krankenpflegeverbände7 können als richtungsweisend angesehen werden, stießen jedoch zum Teil auf massive gewerberechtliche, berufsrechtliche und arbeitsvertragsrechtliche Hürden.

Forciert werden sollte auf Gemeindeebene auch die aktivierende Betreuung. Soziale Verantwortung setzt nicht erst ein, wenn professionelle Hilfe benötigt wird, sondern sollte einsetzen, wenn durch Alltagsbegleitung das Entstehen professionellen Pflegebedarfs vermieden werden kann. In zahlreichen Gemeinden werden heute Hilfen beim Einkauf, Begleitung bei Amtswegen, Unterstützung bei Arztbesuchen durch ehrenamtliche Helfer und Helferinnen organisiert, mit denen eine Inaktivierung hinausgezögert werden kann.

Unterstützung der jüngeren Generationen

All dies dient nicht nur dazu, die Versorgung Älterer sicherzustellen, sondern auch die jüngeren Generationen zu entlasten. Diese sind aus mehreren Gründen unter großer sozialer Belastung:

Durch verlängerte Ausbildungsphasen, das spätere Eingehen intentional längerer Partnerschaften und große Anforderungen in der Arbeitswelt hat sich der Zeitpunkt der Familiengründung innerhalb einer Generation massiv verschoben. Auch hat sich innerhalb der letzten zwei Generationen das Erwerbsverhalten von Müttern massiv verändert: Das Anwachsen der Zahl von Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigten Müttern hat dazu geführt, dass diese Frauen später zur Betreuung von Enkelkindern nicht in jenem Ausmaß zur Verfügung stehen und/oder bereit sind, wie dies in früheren Generationen der Fall war. Großmütter und Großväter stehen heute oft selbst im Erwerbsleben und können Familienarbeit oft nur in geringem Ausmaß leisten.

Im Effekt sind die Menschen in der „Rushhour des Lebens“8 enorm belastet und können eine befriedigende Balance der Vereinbarkeit von Familienarbeit und Erwerbsarbeit nicht erleben. Hier können Unterstützungsleistungen vielfältigster Art Entlastungen schaffen und eine lokale Gemeinschaft attraktiv machen: Lesepatenschaften, Kinderbetreuung während des Urlaubs, Co-Working-Spaces, nachbarschaftliche Unterstützung kann auf Gemeindeebene leichter organisiert werden.

Die Gemeinde muss dabei jedoch nicht selbst als Trägerin dieser Aktivitäten auftreten, sondern sollte von den anderen Gebietskörperschaften finanziell und organisatorisch unterstützt werden. Zusätzliches Potenzial bietet aber auch – etwa im Rahmen der Ferienbetreuung – die Unterstützung durch Unternehmen sowie Interessenvertretungen von Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen in den lokalen Aktivitäten auf Gemeindeebene. 

Und da auch andere – insbesondere auf Mehrgenerationalität ausgerichtete – lokale Organisationen wie Kirchengemeinden, Vereine und lokale Solidargemeinschaften wie freiwillige Feuerwehren, Berg- und Wasserrettung, Sportvereine usw. die soziale Unterstützung und Einbindung von Familien auf Gemeindeebene fördern können, rechtfertigt dies die Unterstützung dieser Organisationen durch die Gemeinden, weil damit auch jenes Netz unterstützt wird, in dem sich Familien auf Gemeindeebene getragen wissen. Dies eröffnet neue Perspektiven in der Zweckbindung von Subventionen: Warum soll die Unterstützung der Gemeinde für die lokale Musikgruppe nicht auch daran geknüpft werden, wie stark sich jüngere Musiker und Musikerinnen um die älteren Vereinsmitglieder oder jene kümmern, die eine Unterstützung in der Familiengründung bedürfen?

Abschließende Bemerkung

Der Beitrag versuchte, über die Bedeutung von Familien in der Gesellschaft und der Gemeindeebene als primärer Ort der Alltagserfahrungen zu reflektieren. Familienfreundlichkeit auf Gemeindeebene ist nicht nur eine ökonomische Notwendigkeit, sondern kann auch zu sozialer Stabilität und zur Resilienz der Gesellschaft beitragen. Das Gelingen gesamtgesellschaftlicher Kohäsion steht in Wechselwirkung zum Gelingen familialer Beziehungen im Alltag.

Wenn die sozialwissenschaftliche Forschung gezeigt hat, dass für das Gelingen von Familienbeziehungen Zeit, Geld und Infrastruktur entscheidend sind9, und wenn dies auf der Gemeindeebene unterstützt wird, können Maßnahmen in diesen Bereichen einerseits die Familienbeziehungen stabilisieren, andererseits aber auch die Familien als Erfahrungs- und Lernort für nachhaltige Beziehungen stärken. Die Erfahrung von Licht- und Schattenseiten nachhaltiger Beziehungen, wie sie in Familien möglich sind, sind wichtige Schritte in der Entwicklung resilienter Persönlichkeiten, die beziehungs- und damit gemeinschaftsfähig sind.

Insgesamt sollte sich die Familienpolitik auf allen Ebenen nicht auf eine vordergründig mathematisch/ökonomische Quantifizierung der Effekte von Einzelmaßnahmen beschränken, weil es immer auch um Folgewirkungen geht. Wenn man beispielsweise auf Gemeindeebene eine gute Kinderbetreuung anbietet und daher junge Menschen in der Gemeinde eine Familie gründen, können deren Konsumausgaben lokale Unternehmen in Handel und Gastronomie stützen, wo die Arbeitslöhne zu Kommunalsteuern führen, durch welche die in diesen Unternehmen gesicherten Arbeitsplätze ihrerseits dazu führen, dass diese Arbeitnehmer:innen in der Gemeinde bleiben, dass deren Eltern im Alter unterstützt werden usw.

Letztlich geht es darum, im Alltag eine Kultur zu entfalten, die lebensbejahend und nicht nur auf die Bewältigung der Probleme der älteren Generation ausgerichtet ist. Dass dabei Gemeinden für die Familien wichtig sind, ist evident; insofern sind gelingende Familien in den Gemeinden ein Indikator für die Vitalität der Gemeinschaft auf jener Ebene der staatlichen Organisation, in der sich das Alltagsleben realisiert.

Fußnoten/Quellen

  1. Der hohe Grad an Integration führte beispielsweise zur enormen Solidarität auf der Mikroebene im Fall Arigona Zogaj ungeachtet aller rechtlicher Problematik im Vorgehen; siehe dazu Asylfall Familie Zogaj – Wikipedia. s https://de.wikipedia.org/wiki/Asylfall_Familie_Zogaj
    1. Siehe etwa den Widerstand gegen die Errichtung von Unterkünften für Flüchtlinge in Ried (Widerstand gegen Asylheim). Über Überforderung durch Asylwerber auf Gemeindeebene berichtete die deutsche Bundeszentrale für politische Bildung bereits 1992; Die Städte sind überfordert Kommunale Erfahrungen mit Asylbewerber:innen | APuZ 7/1993 | bpb.de. (https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/archiv/536392/die-staedte-sind-ueberfordert-kommunale-erfahrungen-mit-asylbewerbern/)
    2. Der Entwicklungsdimension von Familienfreundlichkeit werden Auditierungs- und Zertifizierungsprozesse gerecht, die in Österreich bundesweit etwa im Audit „familienfreundliche Gemeinde“ der Familie-Beruf-Management GmbH (Zertifizierung familienfreundlichegemeinde | Familie und Beruf (https://www.familieundberuf.at/gemeinden/zertifizierung-familienfreundlichegemeinde) oder beispielsweise in Vorarlberg (familieplus - Landesprogramm für kinder-, jugend- und familienfreundliche Gemeinden s https://vorarlberg.at/-/familieplus-landesprogramm-fuer-kinder-jugend-und-familienfreundliche-gemeinden) und der Steiermark (Zertifizierung familienfreundliche & kinderfreundliche Gemeinde • Landentwicklung Steiermark) durch auf Familienfreundlichkeit fokussierte Gemeindeaudits durch die Länder etabliert sind.
    3. Siehe dazu Bengtson/Schütze, Altern und Generationenbeziehungen: Aussichten für das kommende Jahrhundert, in: Baltes/ Mittelstrass (Hrsg), Zukunft des Alterns und gesellschaftliche Entwicklung (1992), 492ff; sowie statt vieler Kränzl-Nagl/Langer, Sozialer Wandel: Auswirkungen und Herausforderungen für Familie, in: Die Familie an der Wende zum 21. Jahrhundert, 5. Österreichischer Familienbericht (2009), 1.3., III-406-BR/2010 BlgNR; und Scholta, Pflege und Betreuung als Generationenproblem am Beispiel der alten Menschen, in: Badelt (Hrsg), Beziehungen zwischen Generationen (1997), 59 ff. mwN.
    4. Siehe dazu z.B. Stanzel, Pilot-Projekt Ludesch: Neue Wege in der Altenbetreuung, Die Furche 14.3.1993. Das Projekt, das ursprünglich unter dem Titel „Ganz Ludesch, ein Pflegeheim“ firmierte, wurde später unter dem Schlagwort „Eine ganze Region, ein Pflegeheim“ weiterentwickelt (Eine ganze Region, ein Pflegeheim  https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20101214_OTS0165/eine-ganze-region-ein-pflegeheim)
    5. Siehe dazu Gläser, Organisierte Nachbarschaftshilfe in vier Mühlviertler Gemeinden, Die Furche 24.3.1994
    6. Siehe dazu Hauskrankenpflege Vorarlberg
    7. Vgl. dazu überblickshaft Rushhour des Lebens | Familienpolitik | bpb.de.
    8. Siehe dazu Bertam/Bujard (Hrsg.) Zeit, Geld, Infrastruktur – zur Zukunft der Familienpolitik (2012) mawN.

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