Menschen in einem Stadion
Menschen fällen ihre Entscheidungen immer auf Basis der ihnen zu Verfügung stehender Informationen.
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Mythos Massenpanik

Um Großveranstaltungen in der Gemeinde bestmöglich vorzubereiten und erfolgreich abzuwickeln ist ein fundiertes Sicherheitsmanagement wesentlich. Das Wissen um die spezifischen Risiken bei Events und um das Verhalten der Besucher in einem Notfall hilft mit, potenzielle Gefahren zu antizipieren und ihnen vorzubeugen.

Man kennt es aus den Nachrichten: Egal, ob ein Terroranschlag stattgefunden hat, ein Feuer ausgebrochen ist, ein dichtes Gedränge eine Eigendynamik entwickelt hat, oder irgendein Idiot auch nur einen Böller gezündet hat – wenn sich bei einer Veranstaltung Menschenmassen plötzlich gleichzeitig in Bewegung setzen, es dabei Verletzte und vielleicht auch Tote zu beklagen gibt, so betiteln die Medien diese Ereignisse unweigerlich mit „Massenpanik". Der Begriff ist so plakativ und reißerisch, dass er offensichtlich verwendet werden muss. Doch ist er auch korrekt? Martin Bardy, Experte für Veranstaltungssicherheit, sagt ganz klar „Nein!" und begründet das mit zahlreichen wissenschaftlichen Untersuchungen.

Experte: „Massenpanik" gibt es gar nicht

Panik ist ein irrationales Verhalten, und Menschen verfallen höchst selten in Panik. Üblicherweise treten panikartige Reaktionen nur dann auf, wenn sich ein Mensch in einer höchstwahrscheinlich ausweglosen, vermeintlich lebensbedrohlichen Situation befindet bzw. glaubt, sich in einer solchen zu befinden. Doch selbst dann ist die panische Reaktion eine höchst individuelle.

Bardy hat sich auf die Suche nach Ereignissen mit einer Massenpanik gemacht und kam zu einem erstaunlichen Ergebnis: Eine „Massenpanik", bei der Menschen kollektiv in irrationales Verhalten verfallen, gibt es nicht, und wurde auch in der Vergangenheit noch nie beobachtet. Bei tragischen Vorfällen, wie etwa im Beverly Hills Supper Club, der World Trade Center Evakuierung, dem London Bombing oder der Love Parade in Duisburg wurde in der medialen Darstellung immer von einer Massenpanik gesprochen und das Verhalten der Menschen als irrational und rücksichtslos dargestellt. Tatsächlich haben sich die allermeisten Personen aber ganz anders verhalten.

Menschen verhalten sich nicht irrational

Nach dem Feuer im Beverly Hills Supper Club, bei dem 165 Menschen starben, haben polizeiliche Untersuchungen mit 630 Interviews der Betroffenen ergeben, dass das Verhalten geordnet und nicht konkurrierend waren. Prosoziales Verhalten und gegenseitige Hilfe war vorherrschend, und selbst als eine Konkurrenzsituation begann, blieben soziale Strukturen aufrecht.

Nach dem Anschlag auf das World Trade Center ergaben die Untersuchungen, dass Personen ihre Flucht selbstständig koordinierten, die Türen für nachkommende Menschen aufhielten, und jene Menschen, die zu telefonieren versuchten oder zu laufen begannen von anderen ermahnt wurden. Panikartiges Verhalten konnte nur bei 0,8 Prozent der Menschen festgestellt werden. Das deckt sich mit anderen Studien, die nur etwa einem Prozent der Bevölkerung die Tendenz zu panikartigem Verhalten konstatiert.

Auch bei der Love Parade in Duisburg war das Fluchtverhalten der Menschen rational. Die wissenschaftlichen Ergebnisse zu den Ereignissen, die als Massenpanik bezeichnet werden, belegen, dass Erwartungen an das Verhalten von Menschen in Notlagen und die Realität überwiegend nicht ident sind. Panikartiges Verhalten ist ein ausgesprochen selten auftretendes Phänomen, und Menschen in Notfällen sind nicht hilflos und passiv.

Dort wo man hereingekommen ist, will man auch wieder hinaus

Wichtig zu wissen: Menschen fällen ihre (rationalen) Entscheidungen immer auf Basis der ihnen zu Verfügung stehender Informationen. Bei einem Brand in einem Club kam es zu etlichen Toten, die zum größten Teil im Eingangsbereich erdrückt oder niedergetrampelt wurden, dabei hatte der Club zahlreiche Notausgänge, die allerdings kaum benutzt wurden.

Grund dafür: In einer Notfallsituation neigen 80 Prozent der Menschen dazu, exakt den Weg als Fluchtweg zu wählen, den sie auch gekommen sind, da sie diesen Weg bereits kennen. Wenn man das weiß, kann man den Eingangsbereich entsprechend dimensionieren, oder aber schon vorab mehrere Einlässe konzipieren, wie es z. B. in der Regel bei Fußballstadien gemacht wird, oder aber man weist auf die Notausgänge hin, wie es in Flugzeugen – aus gutem Grund –verpflichtend ist.

Informationen nicht zurückhalten

Da Menschen anhand der ihnen zu Verfügung stehenden Informationen handeln, ist es äußerst ratsam, sie mit den notwendigen Informationen zu versorgen. Geht etwa eine Bombendrohung ein, so kann man das bei einer Evakuierungsdurchsage unaufgeregt kommunizieren.

Erklärt man hingegen aus einer fälschlichen Angst vor „Massenpanik", dass stattdessen technische Probleme oder ähnliches der Grund wären, muss man damit rechnen, dass viele die Situation nicht ernst nehmen, bleiben oder sich auf andere Weise unerwünscht verhalten, weil die Bedrohungslage nicht verstanden wird und nachvollziehbar ist. Oftmals werden Warnungen nicht ausgesprochen oder es werden Informationen zurückgehalten, und das ist ein Fehler.

Wichtig sind konkrete Anweisungen

Die Menschen folgen Anweisungen am folgsamsten wenn bei einer Durchsage vier Punkte inkludiert sind:

  • Ein Aufmerksamkeitssignal,
  • ein wahrheitsgetreuer Gefahrenhinweis,
  • eine konkrete Handlungsanweisung und
  • eine Erklärung der Konsequenzen.

So wurde vergangenes Jahr bei einem großen Open-Air-Konzert in Deutschland eine akute Terrorgefährdung mitsamt der vier genannten Punkte verlautbart. Die Besucher verließen ohne Hektik, aber zügig und friedlich das Gelände. Einige sangen dabei noch „Eines kann mir keiner nehmen, und das ist die pure Lust am Leben ..."

Den Menschen ist die Wahrheit durchaus zumutbar. Eine verzögerte Kommunikation hingegen resultiert in einer verzögerten Reaktion und birgt hohe Gefahren. Reaktive Informationen über die Situation, Bedrohung, Lage von Notausgängen etc. verkürzen die Reaktionszeit maßgeblich, leiten Menschen und vermeiden hohe Dichten. Ein solches Vorgehen kann jedoch nicht ad-hoc organisiert, sondern muss bereits im Vorfeld durchdacht und geplant werden.

Security ist nicht das gleiche wie Safety

Wer in seiner Gemeinde ein Stadtfest, einen Weihnachtsmarkt, ein Musikfestival, Clubbing, Konzert, Fußballspiel, Feuerwehrfest, oder eine Silvesterfeierlichkeit plant, sollte einen akademisch ausgebildeten Fachmann für Veranstaltungssicherheit unbedingt miteinbeziehen.

In Österreich gibt es etwa ein Dutzend derart ausgebildeter Experten. Dank Fachhochschullehrgängen für integriertes Sicherheitsmanagement ist diese Zahl steigend. Doch viel zu selten werden sie auch tatsächlich konsultiert.

Leider gibt es sehr viele Veranstalter, die in dieser Hinsicht fälschlicherweise Leuten vertrauen, die zwar glauben, richtig zu handeln, aber eigentlich wesentliches außer Acht lassen. So verlässt man sich oft auf jene, „die seit Jahrzehnten diese Veranstaltung organisieren", was allerdings nichts zu bedeuten hat, wenn in der Vergangenheit nichts Gröberes vorgefallen ist. Mit wirklichen Notsituationen waren nämlich so gut wie keine dieser erfahrenen Ausrichter je konfrontiert, und gerade hinsichtlich des Verhaltens von Menschen in Notsituationen divergieren subjektive Annahmen und tatsächliches Verhalten in hohem Maße. Oft meinen Veranstalter auch, dass mit dem Vorhandensein von Securities der Sicherheit genüge getan wäre. Der große Trugschluss dabei: Security ist nicht das gleiche wie Safety. Für eine sichere Veranstaltung muss jedoch für beides gesorgt sein.