Walter Leiss
Walter Leiss: „Die Verfahren für den Ausbau erneuerbarer Energieträger sind zu verkürzen und zu beschleunigen.“
© Philipp Monihart

Kommentar

Von der Krisenwirtschaft in die Kriegswirtschaft

Seit mehr als 70 Jahren herrschte auf dem europäischen Kontinent Frieden: ein wesentliches Verdienst des europäischen Einigungsprozesses nach dem Zweiten Weltkrieg. Aus der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft hat sich die Europäische Union entwickelt, mit dem wesentlichen Ziel, den Frieden auf diesem Kontinent sicherzustellen. Waren die Folgen und Auswirkungen des Krieges nach 1945 real spürbar und den Bürgern und Bürgerinnen stets bewusst, ist die Aufgabe der Friedenssicherung in den letzten Jahrzehnten in den Hintergrund getreten.

Die Europäische Union wurde für vielerlei Maßnahmen kritisiert und gleichzeitig wurden viele Forderungen an sie gestellt. Die Friedenssicherung hat dabei zunehmend an Wichtigkeit verloren. Frieden war ja da und ein Krieg in Europa quasi denkunmöglich. Bezeichnend dafür, dass das Argument der Friedenssicherung in Diskussionen über die Zukunft Europas oftmals ins Lächerliche gezogen wurde. Ein Krieg in Europa war einfach nicht mehr vorstellbar. Zwar wurden wir über moderne Medien über Kriegshandlungen und deren Auswirkungen fast „live“ informiert, jedoch kamen dies Bilder aus fernen Ländern und anderen Kontinenten. Die Situation in Europa war durch Aufbau, Wirtschaftswachstum und Wohlstand geprägt.

Mit der EU-Osterweiterung ist es gelungen, diesen Wohlstand nahezu auf den gesamten Kontinent auszuweiten, wiewohl es noch viel zu tun gibt: die Beseitigung sozialer Unterschiede, den Umgang mit dem demografischen Wandel oder die Bewältigung der digitalen Revolution, um nur einige zu nennen. 

Bisherige Krisen konnten gut bewältigt werden

Diesen Wandel galt und gilt es im Rahmen unserer demokratischen Systeme herbeizuführen. Natürlich hat es in den letzten Jahrzehnten auch entsprechende Krisensituationen gegeben. Diese Krisen – wie zum Beispiel die Finanzkrise, die Eurokrise oder zuletzt die ­Gesundheitskrise – konnten in Europa gut bewältigt werden.

Auch die Folgen des Klimawandels haben die EU-Kommission und die nationalen Regierungen veranlasst, Möglichkeiten zu suchen, wie diese Krisen zu bewältigen sind. Enorme Mittel waren und sind dafür erforderlich. Ebenso wie gewisse Einschränkungen und Verhaltensänderungen, die uns auch noch bevorstehen. Die letzten Jahre haben uns also gelehrt, wie mit Krisen umzugehen ist. Übliche Mechanismen und Vorgaben wurden außer Kraft gesetzt und Wirtschaften in der Krise war angesagt.  

Jetzt ist alles anders

Seit dem 24. Februar 2022 ist alles anders. Auch wenn die Vorzeichen spätestens mit der Annexion der Krim 2014 erkennbar waren, haben die wenigsten daran gedacht, dass auch ein Krieg vor unserer Haustüre ausbrechen könnte. Das, was wir uns alle nicht vorstellen wollten und konnten, ist eingetreten. Putin hat mit seinem Angriffskrieg auf die Ukraine den Krieg nach Europa gebracht – den Krieg mit der Zerstörung der Infrastruktur von Wohnungen und Industrieanlagen und dem Tod von unschuldigen Bürgern und Bürgerinnen. Das Wort Frieden hat nun plötzlich eine andere Bedeutung erhalten. 

Der Krieg hat viele Gesichter

Die Folgen dieses Krieges sind Verwerfungen am Energiemarkt, explodierende Preise vieler Güter und Notlagen in den Haushalten. Die Auswirkungen für Industrie und ­Gewerbe sind noch nicht absehbar.

„Die EU rüstet sich für die Dauerkrise“, titelte die „Presse“ vom 20. September 2022. Sind wir aber nicht schon in der nächsten Eskalationsstufe? Denn der Krieg wird nicht nur in der Ukraine geführt. Der Krieg hat viele Gesichter.

Der Cyberkrieg hat schon längst begonnen und richtet sich gegen Staaten und deren demokratisch gewählte Organe und gegen die Wirtschaft. Wenn auch noch keine Bomben auf Staaten der Europäischen Union fallen, so befinden wir uns längst in einem Wirtschaftskrieg.

Das russische Gas, das für viele Länder, insbesondere für Österreich, wesentlich zur Energiesicherheit beigetragen hat, wird als Waffe eingesetzt. Der Gaslieferstopp führt zwar aktuell noch zu keinem unmittelbaren Mangel, aber wir können die Folgen an den explodierenden Preisen sehen. Dies führt in einem komplexen System zu explodierenden Energiekosten, die sowohl Industrie und Gewerbe als auch viele Haushalte vor existenzielle Fragen stellen. Dies gilt es sich bewusst zu machen und sich darauf einzustellen: Die Kriegswirtschaft erfordert andere Maßnahmen.

Energiewende vorantreiben

Auf der einen Seite bedarf es entsprechender Unterstützungsmaßnahmen, die in Österreich bereits auf den Weg gebracht wurden. Aber nicht nur die Haushalte und Betriebe, sondern auch die Kommunen brauchen Unterstützung.

Auf der Europäischen Ebene sind Initiativen in Gang, damit bei Energieunternehmen übermäßige Gewinne abgeschöpft werden können. Davon betroffen sind insbesondere Erzeuger von erneuerbaren Energien. Die dadurch frei werdenden Mittel sollen zur Stützung des Gas- und Strompreises verwendet werden können. Die Transformation für eine Energiewende ist dringend voranzutreiben. Die Verfahren für den Ausbau erneuerbarer Energieträger sind zu verkürzen und zu beschleunigen. Aber auch Einsparungspotenziale in Betrieben und Haushalten sind zu nutzen. Hier ist eine Verhaltensänderung erforderlich. Darüber wird zwar schon viel gesprochen, scheinbar ist die Botschaft jedoch noch nicht angekommen. 

Wohlstandsverlust steht bevor

Die klaren Worte, die den Bürgern und Bürgerinnen die Dramatik der Situation vor Augen führen, fehlen noch. Noch gehen viele davon aus, dass es nicht so schlimm werden wird. Und der Staat wird es schon richten. Einige haben dies mit der „Vollkaskomentalität“ beschrieben.

Andere meinen, die vorgegebenen 19 Grad Raumwärme wären den Mitarbeitern nicht zumutbar. Ein Wohlstandsverlust steht uns bevor. Auch Gerd Landsberger vom Deutschen ­Städte- und Gemeindebund hat dies vor Kurzem in einem Interview im ZDF betont. Die Bürger und Bürgerinnen sind darauf vorzubereiten und von der Notwendigkeit zu überzeugen. 

Der britische Premierminister Winston Churchill hat das 1940 in seiner Rede an die Nation „Blut, Mühsal, Tränen und Schweiß“ zum Kampf gegen Hitler getan. Ein entschiedenes Auftreten gegen den Aggressor Putin ist genauso notwendig wie der Ausbau erneuerbarer Energieträger, damit wir der Abhängigkeit von russischem Gas entgehen können.

Die technologischen Möglichkeiten sind vorhanden, sie müssen aber auch genutzt werden. Verhaltensänderungen sind notwendig, damit wir in diesem Wirtschaftskrieg als Sieger vom Platz gehen und so unsere demokratischen Systeme und den Frieden in Europa erhalten können.