Wolfgang Mazal
Wolfgang Mazal: "Es ist nicht zu erwarten und auch abzulehnen, dass eine Maschine kommt und den Menschen quasi wie in einer Autowaschanlage wäscht."

"Das Problem angehen, solange es klein ist"

Selbst wenn der Bund alle Kosten übernähme, ändert das nichts an den Fehlern in Österreichs Pflegesystem. Dieses System müsste schnell auf neue Beine gestellt werden. Die Gemeinden stehen hier im Zentrum der Problemlösung, erklärt Sozial- und Arbeitsrechtsexperte Wolfgang Mazal im KOMMUNAL-Interview.

Bei einer Pressekonferenz mit dem Gemeindebund Mitte Februar haben Sie gemeint, dass das Gesetz über die Abschaffung des Pflegeregresses „mit heißer Nadel genäht" ist und viele Fragen bis hin zu jahrelanger Rechtsunsicherheit aufwirft. Sehen Sie das immer noch so und ist – wie im Februar auch gefordert – eine Novelle in Sicht?

Wolfgang Mazal: Die Rechtsunsicherheit ist durch ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts etwas reduziert. Allerdings sind noch Rechtsmittel offen, es ist also noch nicht sicher, wie die Verfahren enden werden.

Eine Novelle sehe ich nicht in Sicht, da es dazu ja eine Zweidrittelmehrheit bräuchte. Und es ist sehr unwahrscheinlich, dass das in den kommenden Monaten geschieht.

Es geht Ihnen ja auch nicht um eine kurzfristige Reparatur des Gesetzes, sondern darum, die Pflege längerfristig neu aufzustellen. Könnten Sie erläutern, woran Sie da im Detail denken?

Die Abschaffung des Pflegeregresses ist aus meiner Sicht der Endpunkt einer grundsätzlichen Reorganisation des Pflegesystems, wie es in Österreich sein sollte. Hier gehören Pflege und Betreuung gemeinsam organisiert – und zwar kostengünstig, effizient und bürgernah. Momentan trägt das System eine zu starke Tendenz in sich, Menschen in Pflegeinstitutionen zu transferieren. Das ist relativ teuer. Es sollte mehr darauf geachtet werden, dass Menschen im familiennahen Umfeld betreut werden. Und eine Unterstützung der Familien ist allemal billiger als eine institutionelle Betreuung.

Wie könnte die Finanzierung dieses Modells sichergestellt werden?

Aus meiner Sicht wäre es sinnvoll, durch Mittel der Arbeitslosenversicherung und der Arbeitsmarktpolitik Beschäftigung in jenen Bereichen zu fördern, wo die betreuenden und pflegenden Familien Unterstützung brauchen.

Eine „Rund-um-die-Uhr-Betreuung" sollte früher oder später in ganz reguläre Arbeitsplätze übergeführt werden, wo Personen ganz normal im Arbeitsmarkt beschäftigt werden können.

Wäre für dieses Modell ein neues Berufsbild notwendig?

Nicht wirklich, da die Tätigkeiten der Personenbetreuer nach relativ kurzer Einschulung für viele Menschen, die eine Arbeit suchen, zugänglich sind. Auch Tätigkeiten, die von Zivildienern wahrgenommen werden, können ohne weiteres von sehr vielen Arbeitssuchenden verrichtet werden. Dazu ist allerdings eine neue Organisation notwendig. Die Tätigkeiten, die heute von einer Person in 24 Stunden gemacht wird, wird meines Erachtens künftig auf mehrere Personen aufgeteilt, die in einem häuslichen Umfeld wiederum abwechselnd mehrere Personen betreuen.

Wenn die Pflege wieder mehr auf die Ebene der Familien gebracht wird, besteht die Gefahr, dass die Last der Pflege wieder auf den Rücken der Frauen landet. Sehen Sie diese Gefahr auch?

Tatsächlich wird Pflege heute überwiegend durch Frauen erbracht. Die Frage ist, ob das in regulären Arbeitsverhältnissen geschieht oder allein auf Basis familiärer Verpflichtungen. Ich halte es für dringend notwendig, die Organisation so zu machen, dass hier ganz normale Arbeitsplätze geschaffen werden, die dann oft von Frauen eingenommen werden können.

Es ist jedenfalls nicht daran gedacht und wäre aus meiner Sicht auch politisch abzulehnen, die Pflege rein auf innerfamiliäre Gegebenheiten zu stützen. Es geht darum, Arbeitsplätze zu schaffen, die ordnungsgemäß entlohnt werden.

Denken Sie da auch an die Einbindung vorhandener Organisationen, die sich mit solchen Modellen befassen? Stichwort Hilfswerk, um nur eine zu nennen.

Natürlich. Die Organisationen, die heute rund um die Uhr Betreuung organisieren, wären zweifellos primäre Ansprechpartner für die Neuorganisation und die Unterstützung von familiennahen Dienstleistungen.

Die „Mobile Pflege" wäre hier aber nur eine begleitende Maßnahme?

Mobile Pflege wäre einer der Bausteine in einer kompletten Reorganisation des Pflege- und Betreuungssystems. Mobile Dienste sind dann typischerweise im höher qualifizierten Bereich notwendig, wo heute schon Caritas, Hilfswerk, Volkshilfe und so weiter tätig sind.

Pflege findet auf kommunaler Ebene statt. Wie weit könnten die Gemeinden oder der Gemeindebund bei einer Neuorganisation unterstützend eingreifen?

Aus meiner Sicht wären die Gemeinden jene Anlaufstellen, wo die Organisationsdrehscheibe für das Care-Management im Einzelfall stattfindet. Auf Gemeindeebene – in großen Städten wäre das die Sprengelebene – wären jene Personen anzusiedeln, die für den Einzelfall das notwendige Betreuungspaket zusammenstellen.

In dem Fall müsste sich im einzelnen Gemeinderat vermutlich jemand hauptamtlich damit beschäftigen?

Das ist eine Frage, wie das die Gemeinden organisieren. Das kann aber durchaus unterschiedlich sein. Man könnte das über bestehende Organisationen machen, wie etwa die Pfarren. Man könnte das wie in Vorarlberg durch die Pflegevereine auf Gemeindeebene organisieren. Ich würde hier der Subsidiarität den Vorzug geben und die Lösung dieser Frage und die Organisation den Gemeinden freistellen. Ich vertraue darauf, dass die Gemeinde als bürgernächste Ebene der Politik die für die jeweilige gesellschaftliche Situation beste Lösung findet.

Wie hoch schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit ein, dass die Regierung dieser Forderung oder diesem Vorschlag nachkommt?

Ich glaube, es ist besser, man wechselt das Thema. Momentan ist die Diskussion auf die Frage, wer wieviel bezahlt, gerichtet. Wenn man aber die eigentlich interessante Frage aufgreift, wie wir die Pflege organisieren können, dass insgesamt Effizienz gewonnen wird, dann sehe ich eine neue Chance für eine geordnete Gesprächsbasis zwischen den Gebietskörperschaften.

Man müsste also weg kommen von der Reduzierung der Diskussion auf die Kostenfrage?

Es gibt Ansätze, die verlangen die Bezahlung der Kosten, ganz gleich, wie hoch sie sind. Mein Ansatz ist eher der, dass wir die Kosten natürlich mit bedenken müssen. Klug wäre es aber, die Kostenfrage erst dann zu stellen, wenn wir die Organisationsfrage gelöst haben, weil sich die Kosten dann erst herausstellen werden. Es wird meiner Meinung nach günstiger sein, als wir glauben.

Eine verpflichtende Pflegeversicherung, wie sie noch vor ein paar Jahren heftig diskutiert wurde, scheint vom Tisch ...

Ja, eine Versicherung ist abzulehnen, weil sich die Kompetenz des Bundes zur Finanzierung einer Versicherung nur auf lohnabhängigen Abgaben stützen kann und die Lohnkosten sowie die Lohnnebenkosten bei uns ohnedies schon hoch genug sind.

Die Finanzierung der Pflege über ein Versicherungssystem würde zudem zweifellos arbeitsmarktpolitisch negative Effekte haben.

Man muss allerdings dazu sagen, dass der Hintergrund der Forderungen nach einer Pflegeversicherung in den vergangenen 20 Jahren der war, dass eine Versicherung keinen Regress kennt. Die Organisationen, die sich für eine Pflegeversicherung ausgesprochen haben, haben primär eine regressfreie Finanzierung im Auge gehabt. Die Abschaffung des Regresses halte ich für richtig, die Frage ist aber ohnedies erledigt. Jetzt muss es nur besser organisiert werden.

Die Gemeinden beklagen bei der Pflege im Zusammenhang mit der demografischen Entwicklung, dass sich die Kostenfrage zumindest mittelfristig weiter massiv verschärft. Sehen Sie da den Zenit bald überschritten?

Nach allem, was wir wissen, wird das weiter so bleiben. Immerhin kommen die Babyboom-Jahrgänge in die „gefährlichen Altersgruppen". In den kommenden 30 Jahren werden die Kosten weiterwachsen, wenn es uns nicht gelingt, über eine verbesserte Organisation die Effizienz zu heben und damit die Kosten zu dämpfen.

Wie sieht es mit neuen Technologien in der Pflege aus? Könnten die als Unterstützung für pflegende Angehörige die Kosten drücken? Sehen Sie Technologien, die helfen könnten?

Sie sprechen „Ambient Assisted Living" an, das hier zweifellos Unterstützung geben kann. Das betrifft die Zuhilfenahme von Sensorik und Robotik und Assistenzsysteme für pflegende Angehörige. Das ist ein Teil der Unterstützung von pflegenden Angehörigen, aber auch Teil der Unterstützung von Personen.

Vor Jahren gab es in Österreich schon einfache Pilotversuche. So wurde in der Steiermark versucht, eine Pflegehelferin mit einer Kamera mit einem Zentrum zu verbinden und Rat einzuholen, wenn beispielsweise Hautveränderungen eintreten. Das sind ganz einfache Möglichkeiten, die heute über jede Handycam zur Verfügung stehen.

Darunter fallen Sturz- und Kältesensoren, die helfen können, eine Unterbringung in einer Institution hinauszuzögern oder gar zu verhindern. Es gibt auch medizinische Sensoren, Ausscheidung zu kontrollieren, Blutwerte zu kontrollieren, Blutdruck und Herzfrequenz zu kontrollieren. Das alles kann eine Unterstützung sein, die mit Technologie im Haushalt ohne weiteres möglich ist.

Ist das eine einfach anzuwendende Technologie? Könnte ich das zum Beispiel meinen Großeltern geben?

Das kommt darauf an. Ein Sturzsensor ist kein großes Problem, der gibt Alarm, wenn die zu pflegende Person stürzt. Es gibt auch Sensoren, die einen daran erinnern, genug zu trinken oder an die Körperpflege zu denken. Dazu gibt es auch international schon Erfahrungswerte, diese Systeme sind auch relativ kostengünstig. Vor einigen Jahren haben wir mit der damaligen nie- derösterreichischen Soziallandesrätin Johanna Mikl-Leitner einen Besuch bei der Fraunhofer-Gesellschaft in Deutschland gemacht, wo wir festgestellt haben, dass eine Komplettausstattung einer 70m²-Wohnung mit einschlägigen Sensoren von Brand über Kälte bis hin zu Wasser und Sturz etwa 3000 Euro kostet. Das würde etwa die Kosten für einen Monat Unterbringung im Pflegeheim wettmachen.

Diese Systeme sind heute billiger und können außerdem über WLAN installiert werden. Es ist also nicht einmal notwendig, einen Meißel in die Hand zu nehmen. Und sollte ein Heimaufenthalt notwendig werden, können diese mobilen Systeme in eine andere Wohnung übertragen werden.

Sind diese mobilen Anwendungen von einer flächendeckenden Breitbandversorgung in Österreich abhängig?

Das sehe ich nicht als Problem. Sollte es jedoch eines werden, ist das ein Beleg dafür, dass auch andere öffentliche Mittel für die Pflege genutzt werden können. Hier geht es um Breitbandmilliarde und Technologieförderung, die auch dafür eingesetzt werden können, um das Pflegesystem zu verbessern.

Wenn ich an die vorhin angesprochenen Mittel aus der Arbeitsmarktpolitik erinnere, können uns all diese Mittel die Pflege massiv erleichtern und zur Effizienzsteigerung und Verbesserung der Pflegesituation und -organisation genutzt werden. Hier sehe ich tatsächlich massive gesellschaftliche Synergien.

Aber bevor wir über Geld sprechen, müssen wir uns über das System und den Einsatz von Technologien klar werden. Umgekehrt hat das keinen Sinn.

Ist ein Ansatz wie in Japan, wo Roboter teilweise Pflege übernehmen, bei uns anwendbar?

Man darf sich das nicht so vorstellen, dass Roboter Menschen waschen und Salben schmieren. Auch hier geht es zuerst um den Einsatz von Sensorik. Roboter sind jetzt im Einsatz, wie der bekannte „Pepper". Dieser kleine humanoide Roboter wird eingesetzt, um Menschen zur Kommunikation anzuregen, um zu fragen, ob sie ihre Medikamente genommen haben. Es gibt auch welche, die mit den Menschen singen und dergleichen – das ist ein Teil der Depressionsprophylaxe. Es gibt auch eine Robbe, die man angreifen kann und die sich nett anfühlt und die ganz ähnlich dem Ansatz mit Therapiehunden auf Menschen zugehen, um diese zu „aktivieren".

Es ist aber nicht zu erwarten und auch abzulehnen, dass eine Maschine kommt und den Menschen quasi wie in einer Autowaschanlage wäscht. Das ist aber auch in Japan nicht der Fall.

Wie könnte der weitere Fahrplan aussehen? Oder anderes gefragt: Wie lange würde man für die Neuorganisation der Pflege brauchen?

Wäre ich in politischer Verantwortung, würde ich ein Anreizsystem vorschlagen und öffentliche Gelder des Bundes für jene Länder oder jene Gemeinden zur Verfügung stellen, die Grundsätze der Reorganisation bereits installiert haben. Wo man auf Gemeindeebene das Car-Management organisiert, wo man offen ist für die Zusammenstellung individueller Programme, die sich um die Lebenssituation pflegebedürftiger Menschen und ihrer Angehörigen kümmern.

Eine große Aktion, mit Stichtag X das Pflegesystem reorganisiert zu haben, ist meines Erachtens politisch ein so weitgreifender Ansatz, der als „big bang" schier unmöglich realisierbar scheint.

Eine große politische Aktion ist in diesem Bereich nicht zu erwarten, es kann hier meiner Meinung nach nur darum gehen, ein System zu seiner Selbstverbesserung anzuregen.

Ein Fahrplan müsste dann ja auch so aussehen, dass ihm allfällige Folgeregierungen auch noch folgen können?

Das wäre eine Möglichkeit. Ich glaube aber, dass das durchaus schneller gehen kann. Wenn man einen Fahrplan erstellt, müsste man insbesondere auch die Gemeinden in Verantwortung und Potenzial einbinden. Die Gemeinden sind es, die sagen müssen, ja wir wollen vor Ort und für die Bürger eine Pflege-Reorganisation wahrnehmen. Dass kann dann relativ rasch in Bewegung kommen, weil man sieht, dass es funktioniert.

Ich halte auch aus diesem Grund die Gemeinden für einen Schlüssel für die Reorganisation, auch weil die Rückkopplung zum politischen Alltag durch die Bürger viel, viel intensiver ist. Durch diese Nähe können sich die Bürgermeister auch politisch profilieren, sie haben ja den direkten Kontakt zu den Bürgern. Sie können viel intensiver kommunizieren, dass wir das Problem Pflege angehen, solange es noch klein ist.

Denn wenn sich alle zurücklehnen und abwarten, was die Regierung mit den Ländern ausverhandelt, dann warten wir mit Sicherheit noch lange. Und die 500 Millionen für den Wegfall des Regresses sind ein relativ kleiner Betrag, wenn wir mit der Reorganisation noch länger warten, wird es sehr viel teurer. Denn die Babyboom-Generation wartet quasi vor der Tür des Pflegeheimes.