EU-Recht muss umgesetzt werden - nicht mehr und nicht weniger.
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Gold-Plating
Warum Gemeinden unter der Übererfüllung von EU-Vorgaben leiden
Im Kontext der globalen Machtkämpfe zwischen USA, China und Russland erscheint ein innerösterreichisches Phänomen besonders paradox: Während Europa im Weltmaßstab wirtschaftlich zurückfällt, leistet sich Österreich den Luxus, EU-Vorgaben systematisch zu „vergolden" – und belastet damit ausgerechnet jene Ebene, auf der Europa seine Stärke ausspielen könnte: die Kommunen. Eine Anatomie.
Die Neigung, EU-Vorgaben nicht nur umzusetzen, sondern zu übererfüllen, ist in Österreich keine Randerscheinung, sondern ein System. Seit Beginn der 2000er-Jahre haben verschiedenste Regierungsprogramme angekündigt, diese Praxis einzudämmen. Doch der bislang umfassendste Gold-Plating-Check aus dem Jahr 2018 zeigt ein anderes Bild: 489 konkrete Fälle überschießender Umsetzung wurden identifiziert. Sie reichen von zusätzlichen Dokumentationspflichten über das Weglassen zulässiger Ausnahmen bis hin zu früheren Umsetzungsfristen. Die Zahl macht deutlich, dass das Problem nicht theoretisch ist – es ist gelebter Verwaltungsalltag.
Dass Gemeinden besonders betroffen sind, ist leicht erklärt. Alles, was auf europäischer, nationaler und landesrechtlicher Ebene beschlossen wird, landet am Ende im kommunalen Vollzug. Was als „Sicherheitsnetz“ gegen EU-Rechtsauslegung gedacht ist, wirkt auf Gemeindeebene wie ein Bürokratieverstärker.
Hohe Kosten, klar messbare Effekte
Die Belastungen sind nicht nur spürbar, sondern auch quantifiziert. Laut einer Studie von EcoAustria verursacht Gold-Plating jährlich etwa 500 Millionen Euro Mehrkosten für Unternehmen und mehr als 100 Millionen Euro für die öffentliche Verwaltung. Diese Werte beziehen sich tatsächlich auf jene Fälle, in denen Österreich EU-Vorgaben übererfüllt. Häufig kursierende – deutlich höhere – Zahlen wie die 15 Milliarden Euro an Bürokratiekosten betreffen dagegen den gesamten Regulierungsaufwand des Landes und dürfen nicht mit Gold-Plating gleichgesetzt werden.
In den volkswirtschaftlichen Zahlen ist allerdings nicht abgebildet, welche zusätzlichen Aufwände Gemeinden zu tragen haben. Sie müssen strengere Fristen einhalten, zusätzliche Unterlagen prüfen, komplexere technische Auflagen vollziehen und sind häufig die einzige Ebene, die Bürgerinnen und Bürger als Ansprechpartner wahrnehmen. Dadurch wird die kommunale Ebene zum Engpass – nicht aus mangelndem Willen, sondern aufgrund wachsender Komplexität.
Wie Übererfüllung entsteht – und warum sie Gemeinden besonders trifft
Österreichs Regierung definiert Gold-Plating in fünf Ausprägungen: zusätzliche bürokratische Anforderungen, eine Ausweitung des sachlichen Anwendungsbereichs, der Verzicht auf Ausnahmen, strengere Sanktionen und frühere Umsetzungsfristen. In der Praxis greifen diese Kategorien ineinander und ergeben ein dichtes Geflecht an Auflagen, das vielfach über die EU-Mindestanforderungen hinausgeht.
Hinzu kommt die österreichische Mehr-Ebenen-Logik: Die EU gibt Mindeststandards vor, der Bund ergänzt sie häufig mit weiteren Begriffen und Pflichten, die Länder wiederum setzen zusätzliche Bedingungen oben drauf – und die Gemeinden müssen das Gesamtpaket schließlich vollziehen.
Aus Sicht der Betriebe wirkt sich das spürbar aus: Laut der aktuellen EIB Investment Survey sehen 71 Prozent der österreichischen Unternehmen die Regulierungsumgebung als Investitionshindernis. Kein anderes Land in Europa weist eine so hohe Quote aus. Was für Unternehmen zu Unsicherheit führt, bedeutet für Gemeinden: mehr Aufwand, höhere Erwartungen und oft weniger Spielraum.
Beispiele aus der Praxis – zwischen Ambition und Überforderung
Wie Gold-Plating konkret wirkt, zeigt sich in unterschiedlichen Bereichen. Beim Smart-Meter-Rollout etwa sieht die EU grundsätzlich eine Einführung von 80 Prozent bis 2020 vor, sofern ein positiver Kosten-Nutzen-Test vorliegt.
Österreich formulierte zwischenzeitig ambitioniertere Zielmarken, wobei die oft genannte Quote von 96 Prozent bis 2019 nicht belegbar ist. Heute gilt gesetzlich das Ziel von 95 Prozent bis Ende 2022. Auch wenn Gemeinden hier nicht direkt für die Umsetzung verantwortlich sind, sorgt der Rollout vor Ort für Aufklärungsbedarf, zusätzlichen Verwaltungsaufwand und häufig auch für wiederkehrende Fragen aus der Bevölkerung.
Im Bereich des Güterverkehrs kursiert regelmäßig das Beispiel angeblich strengerer österreichischer Lizenzerneuerungen. Tatsächlich ist die EU-Gemeinschaftslizenz auch in Österreich zehn Jahre gültig. Die oft erwähnte fünfjährige Erneuerung betrifft lediglich die Lenkberechtigungen der Führerscheinklassen C und D – ein ganz anderes Rechtsinstrument. Die Vermischung beider Bereiche illustriert jedoch gut, wie leicht der Eindruck entsteht, Österreich verschärfe EU-Vorgaben unnötig.
Ähnlich ist es im Bauwesen: Dass Tirol und andere Bundesländer sehr genaue Anforderungen – etwa bei der Wasserableitung oder technischen Ausführung – definieren, ist korrekt. Die häufig kolportierte Forderung nach zwei Fahrradabstellplätzen pro Einzimmerwohnung ist jedoch so nicht als landesweite Vorgabe belegbar. Manche Gemeinden oder einzelne Projekte haben entsprechende Auflagen gemacht, doch von einer allgemeinen Rechtslage kann keine Rede sein.
Auch im Umweltbereich zeigt sich eine gewisse Perfektionierungstendenz. Wien etwa erfüllt seit Jahren Abwasserstandards, die deutlich über den europäischen Mindestwerten liegen. Die Bezeichnung „höchste Reinigungsstufe“ ist allerdings technisch unpräzise, zumal die EU mit der neuen kommunalen Abwasserrichtlinie eine vierte Reinigungsstufe künftig verbindlich einführt. Dennoch bleibt richtig: Österreich war und ist in vielen Bereichen übererfüllt – und Gemeinden tragen die Folgen dieser ambitionierten Standards im Vollzug.
Strukturelle Ursachen: Warum Österreich oft mehr macht als nötig
Gold-Plating entsteht nicht zufällig. Es ist das Ergebnis einer politischen und administrativen Kultur, die sich aus mehreren Faktoren speist. Einerseits gibt es in Österreich den Anspruch, europäische Vorgaben „sicherer“ und „besser“ umzusetzen als andere Mitgliedstaaten. Andererseits erzeugen föderale Strukturen zusätzliche Komplexität: Jedes Land bringt eigene Interessen, Regeln und Auslegungen ein. Und schließlich fehlt oft die frühzeitige Einbindung der Gemeinden – jener Ebene, die am besten beurteilen kann, ob eine Vorgabe im Vollzug realistisch umsetzbar ist.
Unternehmen wie die Voestalpine kritisieren seit Jahren die zunehmende Detailliertheit von Betriebsanlagengenehmigungen. Gemeinden formulieren ähnliche Sorgen – meist leiser, aber mit ebenso klaren Auswirkungen: mehr Aufwand, mehr Unsicherheit, mehr Zeitdruck.
20 Jahre Gegensteuern – und doch bleibt das System komplex
Politisch wurde in Österreich mehrfach versucht, Gold-Plating einzudämmen. Das Deregulierungsgesetz 2001, das Deregulierungsgrundsätzegesetz 2017 und das Anti-Gold-Plating-Gesetz 2019 sollten Regelungen vereinfachen und unnötige Vorgaben streichen. Tatsächlich wurden im Zuge dieser Initiativen rund 600 von 1.600 Bundesgesetzen aufgehoben. Gleichzeitig entstanden jedoch neue Regelungen, die oft umfangreicher waren als die alten. Die Zahl der Gesetze sank, die Komplexität blieb.
Für Gemeinden heißt das: Die Regulierungslast ist trotz aller Bemühungen nicht kleiner geworden – im Gegenteil, die Zahl der Aufgaben steigt, während die Vollzugsmöglichkeiten häufig gleich bleiben.
Weniger Übererfüllung, mehr Praxistauglichkeit
Gold-Plating bedeutet nicht automatisch höhere Qualität, sondern häufig höheren Aufwand. Gemeinden brauchen deshalb keine gesenkten Standards, sondern klare, verständliche und vor allem vollzugstaugliche Vorgaben. Dazu gehört eine bessere Abstimmung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden, realistische Fristen und der Mut, auf zusätzliche Berichtspflichten oder Detailvorgaben zu verzichten, wenn die EU sie gar nicht verlangt.
Denn am Ende geht es nicht darum, europäische Regelungen zu perfektionieren – sondern darum, sie so umzusetzen, dass Gemeinden ihre Arbeit effizient, bürgernah und zukunftsorientiert erledigen können. Dafür braucht es weniger Perfektionismus und mehr Augenmaß. Nur so bleibt die kommunale Ebene handlungsfähig.