
Demographie
Pflegende Angehörige im Fokus der Gemeindeentwicklung
Pflegende Angehörige tragen den Großteil der Betreuung älterer Menschen in Österreich – oft unbeachtet und überfordert, wie Melanie Wagner im Interview meint. Rund 80 Prozent der Pflegebedürftigen werden zu Hause versorgt, meist von Frauen, teils auf Wunsch, teils aus Pflichtgefühl. Die Belastung ist hoch: Viele leiden unter Erschöpfung, psychischem Druck und sozialer Isolation.
Angesichts des demografischen Wandels braucht es dringend neue Wege: Gemeinden können durch professionelle Pflegeangebote, bessere Vernetzung und innovative Wohnmodelle gezielt entlasten. Auch digitale Hilfen und flexible Betreuungsformen wie Tages- oder Kurzzeitpflege bieten Potenzial – werden bisher aber zu wenig genutzt. Die Pflege der Zukunft braucht ein Miteinander von familiärer und professioneller Unterstützung.
Die Pflege von Angehörigen ist in Österreich eine weit verbreitete Praxis. Laut aktuellen Zahlen werden 80 Prozent der pflegebedürftigen Personen in Österreich durch ihre Angehörigen zu Hause gepflegt. Dies ist ein hoher Anteil, der auf das starke Vertrauen in familiäre Pflege und die Bedeutung des sozialen Netzwerks hinweist. Doch diese starke Abhängigkeit von familiärer Pflege birgt auch zahlreiche Herausforderungen. Besonders in einem Land, in dem die Gesellschaft altert und die Zahl pflegebedürftiger Menschen kontinuierlich steigt, müssen neue Wege gefunden werden, wie Gemeinden und Kommunen die Pflege unterstützen können.
Melanie Wagner, Expertin auf dem Gebiet der Pflege durch Angehörige, betont die positiven Aspekte der häuslichen Pflege: „Zunächst ist es erst mal schön, dass so viele Menschen zu Hause weiterhin leben können, wenn sie pflegebedürftig werden. Und es ist auch prinzipiell schön, dass sich die Angehörigen um sie kümmern.” Sie warnt jedoch auch vor den Gefahren: „Es gibt einfach sehr viele Menschen, die nicht von Angehörigen gepflegt werden können. Entweder, weil es keine Angehörigen gibt oder weil sie anderweitig verpflichtet sind, weil sie Kinder zu versorgen haben oder berufstätig sind.”
Der aktuelle Pflegebedarf: Ein Überblick
Der Pflegebedarf in Österreich ist in den letzten Jahrzehnten stetig gestiegen, und die demografische Entwicklung zeigt, dass dieser Trend anhalten wird. Laut den Prognosen des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung (WIFO) wird die Zahl der über 80-jährigen Menschen in den nächsten 15 Jahren um rund 50 Prozent steigen. Gleichzeitig sinkt die Zahl der jüngeren, erwerbstätigen Menschen, die potenziell als pflegende Angehörige zur Verfügung stehen könnten.
Im Jahr 2023 erhielten in Österreich rund 490.000 Menschen Pflegegeld (Statistik Austria), was auf die weit verbreitete Pflegebedürftigkeit hinweist.
Besonders hoch ist der Anteil der Pflegebedürftigen im höheren Alter: Rund 50 Prozent der über 80-Jährigen sind pflegebedürftig. Zudem ist die Pflege durch Angehörige in den ersten Pflegestufen, in denen die Pflegebedürftigkeit noch weniger intensiv ist, weit verbreitet. In den fortgeschrittenen Pflegegraden, wo Menschen unter schwerer Demenz oder körperlichen Einschränkungen leiden, wird es für die Angehörigen zunehmend schwieriger, die Pflege allein zu übernehmen.
Die Rolle der pflegenden Angehörigen und ihre Belastung
Die Pflege durch Angehörige in Österreich ist in vielen Fällen eine Frage der Notwendigkeit und weniger der Wahl. Die Österreichische Gesellschaft für Pflegewissenschaft weist darauf hin, dass viele pflegende Angehörige – meist Frauen – diese Aufgabe übernehmen, weil ihnen strukturelle, finanzielle oder zeitliche Alternativen fehlen.
In einer Umfrage der Wirtschaftskammer Österreich gaben 60 Prozent der pflegenden Angehörigen an, die Pflege aus Pflichtgefühl, und nur 25 Prozent aus reiner freiwilliger Entscheidung zu übernehmen. Wagner sagt hierzu: „Ländervergleichende Forschung hat gezeigt: Wo Pflege eine Pflicht ist, ist auch das Belastungserleben höher, die Pflege intensiver, und die Pflegenden sind oft alleine. Wer so pflegt, kann schwer noch bezahlter Arbeit nachgehen und seine sozialen Kontakte pflegen.”
Die Belastung, die mit der Pflege eines Angehörigen einhergeht, ist enorm. Rund 25 Prozent der pflegenden Angehörigen berichten von chronischer Erschöpfung, Schlafstörungen und psychischen Belastungen. Eine Studie des Instituts für Pflegewissenschaften der Universität Wien aus dem Jahr 2018 zeigt, dass der Druck auf pflegende Angehörige mit zunehmendem Pflegebedarf stark wächst. Insbesondere bei schwerstpflegebedürftigen Menschen, die an Demenz oder Parkinson leiden, ist die Belastung so groß, dass 70 Prozent der pflegenden Angehörigen über eine Überlastung berichten.
Gesellschaftlicher Wandel und die zunehmende Schwierigkeit der Pflege
Der Wandel in der Gesellschaft hat die Art und Weise, wie Pflege organisiert wird, erheblich verändert. Wagner hebt hervor, dass die Bereitschaft von Angehörigen, Pflege zu leisten, in den letzten Jahren gesunken ist. Die Gründe sind vielfältig: „Einige sind dazu nicht mehr unbedingt bereit, weil ja gleichzeitig auch von ihnen erwartet wird, dass sie berufstätig sind”, erklärt sie. Eine steigende berufliche Mobilität und die höhere Erwerbstätigkeit von Frauen führen dazu, dass weniger Menschen in der Lage sind, die Pflege ihrer Angehörigen zu übernehmen. Wagner spricht auch von einem kulturellen Wandel, auch auf Seiten der Pflegebedürftigen: „Nicht jeder möchte sich unbedingt von seiner Tochter waschen lassen. Pflege ist ja auch eine sehr intime Sache.”
Schon jetzt suchen viele Angehörige, die die Pflege nicht übernehmen können, nach Alternativen. Viele stellen 24-Stunden-Pflegekräfte oder Betreuungskräfte ein. Dabei gibt es aber oft Sprachprobleme und auch die Arbeitsbedingungen in der 24-Stunden-Pflege sind oft problematisch, weshalb Frau Wagner diese Entwicklung kritisch sieht: „Wenn ich hingegen eine gut ausgebildete ausländische Pflegekraft habe, die beispielsweise für einen mobilen Dienst arbeitet und auch über ausreichende Deutschkenntnisse verfügt – dann ist dies sicherlich der bessere Weg.”
Formelle Pflege als Ergänzung zur familiären Pflege
Die Herausforderung für die Gemeinden besteht darin, diese Entwicklung zu begleiten und ein funktionierendes System zu schaffen, das die Pflege durch Angehörige nicht ersetzt, sondern ergänzt. Hier kommen formelle Pflegeangebote ins Spiel, die pflegende Angehörige unterstützen und entlasten können. Laut einer Umfrage der Gesundheitsbehörde Wien nehmen etwa 25.000 Menschen in der Stadt Wien regelmäßig ambulante Pflegedienste in Anspruch, während rund 30.000 Menschen in stationären Einrichtungen wie Pflegeheimen leben.
„Die formelle Pflege sehe ich als die sinnvollste Möglichkeit, pflegende Angehörige zu entlasten”, so Wagner. Diese Unterstützung durch professionelle Pflegekräfte sei nicht nur notwendig, um den Alltag zu entlasten, sondern ermögliche es den Angehörigen, „hands-on Tätigkeiten abgenommen zu bekommen, frei zu haben und auch nicht mehr ganz allein zu sein. Viele ältere Menschen verstehen unter formeller Pflege ausschließlich Heimpflege, und dies wollen die meisten nicht. Dabei gibt es viele Pflegeangebote, die ein Miteinander von Angehörigenpflege und formellen Pflegeangeboten ermöglichen.”
Entlastungsangebote: Mobile Dienste, Tages- und Nachtbetreuung und Kurzzeitpflege
In Österreich sind Angebote wie Tages- und Nachtpflege sowie Kurzzeitpflege noch relativ unbekannt, obwohl sie in anderen Ländern schon weit verbreitet sind. Mobile Dienste gibt es schon in größerer Zahl. Diese Modelle bieten eine wertvolle Möglichkeit, pflegende Angehörige zu entlasten, indem sie temporäre Pflegealternativen bereitstellen.
Tages- und Nachtbetreuung:
Eine Pflegeeinrichtung, in der pflegebedürftige Menschen meist tagsüber betreut werden und abends wieder nach Hause zurückkehren. Diese Form ermöglicht es pflegenden Angehörigen, ihren Alltag weiterhin zu gestalten, beispielsweise zu arbeiten oder Erholung zu finden. Oft bieten diese Einrichtungen auch Pflege während der Nachtstunden an. Dies ist besonders für berufstätige Angehörige, die im Schichtdienst arbeiten, wichtig, vor allem wenn sie Angehörige mit Demenz oder anderen Krankheiten pflegen, bei denen Pflege auch nachts notwendig ist.
Kurzzeitpflege:
Eine stationäre Betreuung für einen begrenzten Zeitraum, die es pflegenden Angehörigen ermöglicht, selbst eine Auszeit zu nehmen, sei es für einen Urlaub oder beispielsweise einen notwendigen medizinischen Eingriff..
Mobile Dienste
Pflegedienste, die zu den pflegebedürftigen Menschen nach Hause kommen. Dies umfasst beispielsweise Heimhilfe, Hauskrankenpflege oder „Essen auf Rädern“ und ermöglicht es Pflegebedürftigen trotz steigenden Pflegebedarfs weiter zuhause wohnen zu bleiben.
„Die Kurzzeitpflege, Tagespflege und auch Nachtpflege sind in Österreich noch nicht sehr verbreitet. Aber es kommt”, stellt Wagner fest. Sie betont, dass es in anderen Ländern bereits erfolgreichere Modelle gibt und erklärt: Forschung hat gezeigt, dass in Ländern, die stark auf formelle Pflege setzen, die Unterstützung von Angehörigen nicht verloren geht, aber sie verlagert sich hin zu Hilfe und Unterstützung, weg von den rein pflegerischen Tätigkeiten.”
Die Rolle der Gemeinden: Handlungsfelder und Strategien
Die Gemeinden stehen angesichts des wachsenden Pflegebedarfs und der demografischen Entwicklung vor einer Vielzahl von Herausforderungen. Um die Pflege für pflegende Angehörige zu erleichtern und die Qualität der Versorgung zu sichern, können Gemeinden in verschiedenen Bereichen aktiv werden:
- Förderung formeller Pflegeangebote
Gemeinden können den Ausbau von mobilen und teilstationären Pflegeangeboten unterstützen, indem sie gezielt Initiativen zur Ansiedlung von Pflegediensten fördern. Ein Beispiel könnte sein, Raum für mobile Pflegedienste oder Tagespflegeeinrichtungen zu schaffen oder die Zusammenarbeit mit lokalen Pflegediensten zu intensivieren.
- Vernetzung von Angeboten und Organisation von Unterstützungsnetzwerken
Vernetzung ist etwas, was Kommunen gut leisten können”, meint Wagner. Gemeinden können durch eine koordinierende Rolle dazu beitragen, dass bestehende Unterstützungsangebote wie die Diakonie oder die Volkshilfe miteinander verbunden werden, um pflegenden Angehörigen zu helfen.
- Hausärzte als zentrale „Kommunikatoren”
„Was man nicht unterschätzen sollte, ist die Rolle der Hausärzte. Denn oft gehen,” so Wagner, „pflegende Angehörige mit ihren pflegebedürftigen Angehörigen zum Arzt. Und der Hausarzt ist oft noch eine Respektsperson im Ort.” Also jemand, auf den auch gehört wird. „Also, ich denke, wenn die Kommunen mit den Hausärzten ins Gespräch kommen und über die Hausärzte gehen, könnten Informationen noch besser verteilt werden. Hilfreich wäre auch, wenn Hausärzte Informationsmaterial an pflegende Angehörige weitergeben würden.“
- Förderung generationenübergreifender Wohnmodelle
Ein weiterer wichtiger Ansatz ist die Förderung von generationenübergreifenden Wohnmodellen, bei denen junge und ältere Menschen in einer Weise zusammenleben, die gegenseitige Unterstützung und Pflege ermöglichen. „Während in kleinen Gemeinden häufig jeder so ein bisschen auf sich und die anderen aufpasst, ist dies in anonymeren Wohngegenden nicht so. Hier wäre generationenübergreifendes Wohnen eine gute Möglichkeit, den Austausch zwischen Alt und Jung zu ermöglichen/fördern”, so Wagner.
- Psychosoziale Unterstützung für pflegende Angehörige
„Es gibt verschiedene Unterstützungsangebote für pflegende Angehörige. Die formelle Pflege sehe ich als die sinnvollste Möglichkeit, pflegende Angehörige zu entlasten”, so Wagner. Sie betont die Bedeutung von Gesprächsrunden und psychosozialer Unterstützung für Angehörige, da pflegende Angehörige oft nicht nur körperlich, sondern auch emotional stark beansprucht sind.
Es gibt verschiedene Unterstützungsangebote für pflegende Angehörige, so Wagner. Sie betont die Bedeutung von Gesprächsrunden und psychosozialer Unterstützung für Angehörige da pflegende Angehörige oft nicht nur körperlich, sondern auch emotional überfordert sind. Zudem können Informationsangebote, beispielsweise über Krankheitsbilder wie Demenz oder Parkinson, enorm entlastend wirken, weil sie ein besseresVerständnis über den Krankheitsverlauf vermitteln.
- Einsatz von digitalen Technologien
Die Digitalisierung bietet zahlreiche Chancen zur Entlastung pflegender Angehöriger. „Insgesamt bietet die Digitalisierung mehr Chancen als Risiken”, sagt Wagner und verweist auf die Vorteile von Assistenzsystemen und Telemedizin, die Pflegebedürftige dabei unterstützen, weiterhin in ihren eigenen vier Wänden zu leben.
Ergo: Ein Umdenken in der Pflegepolitik sollte kommen
„Alt werden wir auf alle Fälle, und alt werden kann man so oder so. Und wir wollen alle in Würde altern”, schließt Melanie Wagner. Es ist jedoch wichtig, dass die Pflege durch Angehörige nicht als alleinige Lösung der Pflegeproblematik betrachtet wird. Der demografische Wandel erfordert eine stärkere Integration von formeller Pflege, um pflegende Angehörige zu entlasten und die Pflegequalität zu sichern. Ein Miteinander von formeller und informeller Pflege sieht Wagner als die beste Lösung für die Zukunft.

Melanie Wagner forscht zu „Familie und Arbeitsmarkt“ am Vienna Institut of Demography (VID) an der österreichischen Akademie der Wissenschaften. Sie hat einen Abschluss in Psychologie von der TU Berlin und in Sozialwissenschaften von der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie promovierte 2018 an der TU Dortmund.
Verwendete Quellen
Statistik Austria: Pflegegeldbezieher und Pflegeeinrichtungen (2023).
Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO), Demografische Prognosen.
Gesundheitsbehörde Wien, Umfrage zu ambulanten Pflegeangeboten und stationären Pflegeplätzen (2023).
Österreichisches Rotes Kreuz, Studie zur Kurzzeitpflege und den Bedarf an Pflegeplätzen (2023).
Wirtschaftskammer Österreich, Umfrage zu pflegenden Angehörigen und deren Belastung (2023).
Institut für Pflegewissenschaften, Universität Wien: Studie zur Überlastung pflegender Angehöriger (2022).