Puzzle mit EU- und Österreich-Fahne
Alle großen EU-Themen – Klimawandel, Migration, Digitalisierung, Sicherheit – landen letztlich in den Gemeindeämtern. Geflüchtete müssen integriert, die Energiewende muss umgesetzt, die Klimaanpassung finanziert werden. Gleichzeitig ersticken Gemeinden an Überregulierung und verlieren jeden Tag Infrastrukturwert.
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30 Jahre Österreich in der EU: Alternativlos, aber anpassungsbedürftig

Am 1. Jänner 1995 trat Österreich der Europäischen Union bei. Was damals als historische Entscheidung zwischen Euphorie und Skepsis gefeiert wurde, ist heute selbstverständliche Realität für 9 Millionen Menschen. Drei Jahrzehnte später zeigt sich: Der Beitritt war alternativlos, die Mitgliedschaft ist lebenswichtig – aber sowohl die EU als auch Österreich müssen sich anpassen, um in einer fundamental veränderten Welt zu bestehen.

Die kommunalpolitische Perspektive auf 30 Jahre EU-Mitgliedschaft offenbart ein komplexes Bild: Die Union hat Österreich wirtschaftlich gestärkt, politisch stabilisiert und gesellschaftlich geöffnet. Gleichzeitig stehen die 2.092 österreichischen Gemeinden heute vor Herausforderungen, die 1995 niemand auf dem Radar hatte – von geopolitischen Machtverschiebungen über digitale Transformation bis zur ­Klimakrise. Dieser Beitrag beleuchtet die verschiedenen Facetten einer Mitgliedschaft, die für Österreich längst mehr ist als ein politisches Projekt: Sie ist zur Existenzfrage geworden.

Die Erwartungen von 1995: Zwischen Hoffnung und Befürchtung

Am 12. Juni 1994 stimmten 66,6 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher für den EU-Beitritt. Die Erwartungen waren klar formuliert: wirtschaftlicher Wohlstand durch den Zugang zum Binnenmarkt, politische Stabilität durch die Verankerung in der westeuropäischen Staatengemeinschaft, mehr Mitbestimmung in einem größeren Europa.

Die Befürchtungen waren ebenso präsent: Würde die österreichische Neutralität aufgegeben? Würden heimische Unternehmen der Konkurrenz standhalten? Würde Österreich in einem Europa der Großen untergehen? Und – eine Sorge, die vor allem die Gemeinden umtrieb – würde Brüssel über die Köpfe der Bürger hinweg regieren?

Was sich erfüllt hat: Die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte

Die wirtschaftlichen Versprechen wurden mehr als eingelöst. Der freie Zugang zum EU-Binnenmarkt hat Österreich prosperieren lassen. Kleine und mittlere Unternehmen profitieren von grenzüberschreitenden Geschäften ohne Zölle und Währungsrisiken. Der Euro-Beitritt 1999 brachte Preisstabilität und Planungssicherheit. Die österreichischen Exporte haben sich vervielfacht, die Arbeitslosigkeit blieb im EU-Vergleich niedrig.

Für die Kommunen bedeutete die EU-Mitgliedschaft: Zugang zu Fördermitteln für Infrastruktur­projekte, Impulse für regionale Entwicklung, grenzüberschreitende Kooperationen. Viele österreichische Gemeinden verdanken ihre moderne Infrastruktur – von Kläranlagen bis zu Radwegen – auch EU-Förderungen.

Was nicht eintrat: Die politischen Illusionen

Die Vorstellung eines harmonischen, einigen Europas hat sich nicht erfüllt. Die EU ist heterogener, zerstrittener und unentschlossener, als viele 1995 hofften. Die Osterweiterungen brachten neue Dynamiken, aber auch neue Konfliktlinien. Die Finanzkrise 2008, die Flüchtlingskrise 2015, der Brexit, die Corona-Pandemie – jede Krise offenbarte die Schwächen einer Union, die auf Kompromissen beruht und oft zu spät reagiert.

Auch die Hoffnung auf „Bürgernähe“ hat sich nur teilweise erfüllt. Brüssel wurde zwar kein Moloch, der alle Lebensbereiche regelt – aber die Wahrnehmung vieler Bürger ist eine andere. Das liegt auch an Österreichs eigenem Umgang mit EU-Richtlinien, dem sogenannten „Gold-­Plating“: Das ist die systematische Übererfüllung von EU-Vorgaben, die oft nicht aus Brüssel, sondern aus Wien kommt.

Die gewandelte Einstellung: Von Euphorie zu pragmatischer Notwendigkeit

Die Einstellung der Österreicherinnen und Österreicher zur EU hat sich gewandelt. Aus der anfänglichen Euphorie ist eine nüchterne, oft kritische Haltung geworden. Laut aktuellen Umfragen sehen zwar noch immer Mehrheiten die EU-Mitgliedschaft als vorteilhaft – aber die emotionale Bindung ist geschwunden. Europa ist nicht mehr Verheißung, sondern Verwaltung. Nicht mehr Traum, sondern Realität.

Diese Ernüchterung hat Gründe. Die EU wirkt oft bürokratisch, schwerfällig, selbstbezogen. Sie erscheint vielen als System, das Probleme produziert statt löst. Gleichzeitig wissen die meisten: Ein Austritt wäre wirtschaftlicher und politischer Selbstmord. Die Einstellung ist also ambivalent: Man schätzt die Vorteile, kritisiert die Strukturen und fühlt sich oft nicht gehört.

Das österreichische Paradox: Gold-Plating

Ein besonders österreichisches Phänomen verstärkt die EU-Skepsis: das „Gold-Plating“ – die systematische Übererfüllung von EU-Richtlinien. Während die EU Mindeststandards vorgibt, setzt Österreich oft das Maximum um. Die Folge: höhere Kosten, mehr Bürokratie, kompliziertere Verfahren.

Beispiele gibt es zuhauf: Die EU verlangte Smart Meter für 80 Prozent der Haushalte bis 2020 – Österreich setzte sich zunächst 95 Prozent bis 2019 als Ziel und hat inzwischen knapp 97 Prozent erreicht. Die EU schreibt vier Wochen Urlaub vor, Österreich gewährt fünf oder sechs. Das ist einerseits Ausdruck hoher Sozialstandards – ­andererseits aber auch eines Perfektionismus, der Unternehmen und Gemeinden belastet.

Die volkswirtschaftlichen Kosten sind beträchtlich: Bis zu 15 Milliarden Euro jährlich kostet die Überregulierung Österreich – auch wenn damit eher allgemeine Bürokratie-/Regulierungslasten umschrieben sind. 71 Prozent der Unternehmen sehen in Umfragen Regulierung als Hindernis für Investitionen. Und die Gemeinden? Sie sind die letzte Instanz, bei der alle Regelungen zusammenlaufen – und die erste, die dafür bezahlen muss.

Die neue Weltordnung: Europa zwischen den Imperien

Auch die geopolitische Lage 2025 hat mit 1995 nichts mehr gemein. Damals schien die liberale Weltordnung alternativlos, die USA waren der unbestrittene Hegemon, Russland ein Schatten seiner selbst, China noch im Aufbau begriffen. Heute stehen die USA unter Donald Trump für Unberechenbarkeit und Protektionismus, Russlands Krieg gegen die Ukraine bedroht die europäische Sicherheitsordnung, China strebt nach globaler Dominanz.

Europa findet sich in einem Dreiecks-Spannungsfeld wieder, das seine Substanz bedroht:

  • Wirtschaftlich: Die EU fällt gegenüber den USA und China zurück. Das Pro-Kopf-BIP beträgt im EU-Durchschnitt nur 70 bis 72 Prozent des US-Wertes. Innovationen kommen von den Westküsten Amerikas und aus Shenzhen, nicht aus Europa.
  • Militärisch: Europa ist abhängig von den USA. Trumps Forderung nach fünf Prozent des BIP für Verteidigung würde Budgets sprengen – aber die Alternative ist strategische Ohnmacht.
  • Technologisch: Europa reguliert fremde Technologien, entwickelt aber kaum eigene. Rund 60 Prozent der Karten-Zahlungen in Österreich laufen über zwei US-Anbieter.

Die Frage ist also nicht mehr, ob Europa sich behaupten kann – sondern wie. Und hier zeigt sich: Die EU muss sich grundlegend wandeln, um in dieser neuen Weltordnung zu überleben.

Der Autor dieses Beitrags vertritt die Überzeugung, dass der EU-Beitritt alternativlos war und die Mitgliedschaft lebenswichtig für Österreich ist. Aber: Die EU von heute reicht nicht für die Herausforderungen von morgen. Europa muss sich ändern – und zwar fundamental.

Was wir als Gesellschaft ändern müssen

Der Wandel betrifft nicht nur Institutionen – er betrifft uns alle. Die Digitalisierung zeigt es exemplarisch: Schweden, das jahrelang als Vorbild galt, musste schmerzhaft lernen, dass eine vollständig bargeldlose Gesellschaft verwundbar ist. Ein paar Stunden Systemausfall in Dänemark genügten für Chaos. Der schwedische Notenbankchef ruft nun seine Bürger auf, wieder „Bargeld für Krisenzeiten“ bereitzuhalten.

Die Lehre: Weder blinde Technik-Euphorie noch Fortschrittsverweigerung ist der richtige Weg. Die Balance ist entscheidend. Österreichs pragmatischer Ansatz – hohe Bargeldquote bei gleichzeitiger Offenheit für digitale ­Innovation – könnte zum Modell werden. Die 120 neuen Bankomaten, die OeNB und Gemeindebund in ländlichen Regionen aufstellen, sind mehr als Geldautomaten: Sie sind Resilienz-Infrastruktur.

Die kommunale Perspektive: Wo Europa wirklich lebt

Alle großen EU-Themen – Klimawandel, Migration, Digitalisierung, Sicherheit – landen letztlich in den Gemeindeämtern. Geflüchtete müssen integriert, die Energiewende muss umgesetzt, die Klimaanpassung finanziert werden. Gleichzeitig ersticken Gemeinden an Überregulierung und verlieren jeden Tag Infrastrukturwert.

Das Dilemma: Gemeinden sollen globale Transformationen stemmen, haben aber weder die Ressourcen noch die Entscheidungsgewalt. Sie sind Vollzugsorgan fremder Übererfüllung. Sie exekutieren Absurditäten, die sie nicht beschlossen haben.

Die Lösung kann nur sein: mehr Autonomie, mehr Geld, mehr Pragmatismus. Städtediplomatie muss ausgebaut, regionale Kooperation gestärkt, digitale Souveränität lokal gedacht werden. Und Gemeinden müssen lernen, selektiv „Nein“ zu sagen – nicht zu Aufgaben, aber zur Art ihrer goldverzierten Erfüllung.

Ein Fazit: Alternativlos – aber anpassungsbedürftig

30 Jahre nach dem Beitritt steht fest: Österreichs Platz ist in der Europäischen Union. Die Alternative – ein isoliertes Österreich zwischen den Imperien USA, China und Russland – wäre selbstmörderisch. Die wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Verflechtungen sind so eng, dass ein Austritt nicht nur unrealistisch, sondern existenzbedrohend wäre.

Aber: Die EU von heute reicht nicht für die Herausforderungen von morgen. Europa muss von der Normativmacht zur Handlungsmacht werden. Es muss Innovationen schaffen statt nur regulieren. Es muss seine föderale Stärke ausspielen, statt zentralistisch zu verwalten. Und es muss pragmatischer werden – weniger perfekt, dafür wirksamer.
Österreich muss sich vom Gold-Plating befreien, seine Gemeinden finanziell stärken und mental umdenken: Mehr Regeln schaffen nicht mehr Sicherheit, sondern Lähmung.

Und wir als Gesellschaft? Wir müssen akzeptieren, dass die Welt von 1995 vorbei ist. Wir müssen die Balance finden zwischen Tradition und Innovation, zwischen Sicherheit und Fortschritt, zwischen nationaler Identität und europäischer Solidarität.

Die Schweden haben schmerzhaft gelernt, dass totale Digitalisierung verwundbar macht. Österreich hatte diese Euphorie nie. Vielleicht war das gar nicht so schlecht. Die österreichische Skepsis, der pragmatische Zugang, die Mischung aus Bewahren und Erneuern – das könnte in einer zerrissenen Welt tatsächlich eine Stärke sein.

Die nächsten 30 Jahre werden entscheiden, ob Europa als Gestaltungsmacht überlebt oder als Spielball endet. Österreich kann dazu beitragen – von seinen 2.092 Gemeinden ausgehend, mit seinen föderalen Strukturen, seiner subsidiären Tradition. Aber nur, wenn alle Ebenen – Brüssel, Wien, die Länder, die Kommunen – bereit sind, sich zu ändern. Die Alternative wäre, sich zwischen den Imperien zerreiben zu lassen. Ein Schicksal, das sich keine österreichische Gemeinde wünschen sollte.  

Was die EU ändern muss:

Von der Normativmacht zur Handlungsmacht: Europa kann nicht nur Regelsetzer sein. Es muss strategisch handlungsfähig werden – militärisch, wirtschaftlich, technologisch. Der digitale Euro ist ein Schritt in die richtige Richtung: Zahlungssouveränität statt Abhängigkeit von Visa und Mastercard.
Von der Regulierung zur Innovation: Der Digital Services Act ist wichtig – aber er schafft keine europäischen Tech-Champions. Europa braucht Risikokapital, unternehmerische Kultur, Forschungsinvestitionen.
Von Brüssel zu den Kommunen: Das Subsidiaritätsprinzip muss mit Leben gefüllt werden. 75 Prozent der EU-Bürger leben in Städten – hier wird Europas Zukunft entschieden. Kommunen brauchen mehr Autonomie, mehr Geld, mehr Stimme.
Von der Perfektion zum Pragmatismus: Europa lähmt sich durch Überregulierung. Weniger Regeln, dafür durchsetzbare. Weniger Bürokratie, dafür wirksame Politik.
 
Was Österreich ändern muss 

Schluss mit Gold-Plating: Österreich kann sich die goldene Fessel nicht mehr leisten. EU-Mindeststandards sind genug – die 15 Milliarden Euro, die die Überregulierung kostet, fehlen für Zukunftsinvestitionen. 
Finanzielle Neuordnung: Gemeinden erbringen einen Großteil der öffentlichen Investitionen, haben aber kaum Steuerhoheit. Subsidiarität ohne Geld ist Verhöhnung. 
Mentaler Wandel: Mehr Regeln bedeuten nicht mehr Sicherheit. Die geopolitische Realität zeigt: Die USA sind chaotisch, aber handlungsfähig. China ist autoritär, aber beweglich. Europa ist reguliert – und gelähmt.

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