Ulrike Schiesse
Ulrike Schiesser: „Die Szene der Verschwörungstheoretiker lebt von Schwarz-weiß-Schablonen. Als Bürgermeisterin oder Bürgermeister gilt man da als Vertreterin oder Vertreter des ,bösen Systems‘ und damit als Feindbild.“
© Christoph Kleinsasser

Corona

„Zuhören ist enorm wichtig“

Ulrike Schiesser von der Bundesstelle für Sektenfragen erläutert, wie man als Gemeindevertreterin oder -vertreter mit Menschen umgehen soll, die gegen Corona-Maßnahmen sind und gegen die Impfung mobil machen.

Verschwörungstheorien gab es ja schon immer. Warum haben sie seit dem Ausbruch der Pandemie so zugenommen?

Ulrike Schiesser: Es geht einerseits um vorhandene Ängste und andererseits um die Furcht vor Kontrollverlust. Verschwörungstheorien bieten da oft simple Erklärungen, die die Menschen auch aus der Verantwortung nehmen.

Wenn man etwa der Behauptung glaubt, dass die Pandemie gar nicht existiert, dann kann man sich innerlich zurücklehnen. Oder wenn man meint, dass die Pandemie geplant ist, um den Menschen Gehorsam einzuüben, dann wird aus einer zufällig entstandenen Situation eine Geschichte mit Schurken, Helden und mit einer klaren Struktur. Und Menschen haben gerne klare Strukturen.

Gibt es etwas, das Menschen, die Verschwörungstheorien anhängen, gemeinsam haben?

Wenn man an Verschwörungstheorien glaubt, gibt es Grundüberzeugungen:

„Nichts passiert zufällig“, „Nichts ist wie es scheint“ und „Alles ist miteinander verbunden“.

Generell lässt sich sagen, dass diese Menschen zu höherem Misstrauen neigen. Manche hatten auch negative Erfahrungen mit Autoritäten oder mit staatlichen Strukturen.

Die Personengruppen, die wir heute in der Querdenkerbewegung antreffen, sind teilweise andere als man in der Forschung bisher angenommen hat. Im Gegensatz zu Beobachtungen vor Corona sind heute viele in einer wirtschaftlich sicheren Position und gut in soziale Strukturen eingebettet. Viele sind auch intelligent und gut gebildet. Es gibt sehr wenig Forschung in dem Feld, weil diese Leute nicht leicht dazu zu bewegen sind, etwa an einer Umfrage teilzunehmen.

Wir in der Bundesstelle für Sektenfragen werden häufig von besorgten Angehörigen kontaktiert, wenn Menschen abgleiten. Und am häufigsten bekomme ich den Satz zu hören: „Das hätte ich mir bei dem/der nie gedacht!“ Oft waren diese Menschen früher politisch ganz anders gepolt, und plötzlich geben sie Äußerungen von sich, an denen man merkt, dass sie nach rechts gerückt sind. Das trifft beispielsweise auf manche zu, die früher eher links-grün-alternativ verortet waren.

Zu beobachten ist auch, dass Leute, die vorher nie politisch aktiv waren, dann auf einmal auf Demonstrationen gehen und einen enormen Aktivismus entwickeln.

Oft wird mit wissenschaftlichen Begriffen argumentiert. Ist es da überhaupt sinnvoll zu diskutieren, wenn man nicht vom Fach ist?

Es ist wichtig, Falschmeldungen nicht einfach stehen zu lassen. Denn wenn jemand eine Behauptung immer wieder hört und keinen Widerspruch wahrnimmt, dann ist man geneigt zu glauben, dass die Meldung stimmt.

Von einer Diskussion darf man sich aber nicht zu viel erwarten. Gerade Personen, die tief in der Szene der Verschwörungstheoretiker stecken, verbringen oft viel Zeit auf entsprechenden Seiten im Internet und haben auf jedes Argument eine Antwort. Und wenn ihnen nichts mehr einfällt, dann sagen sie, dass die offiziellen Zahlen alle gelogen sind.

Wenn man merkt, dass das Gegenüber nicht wirklich diskutieren, sondern missionieren will, dann hat es wenig Sinn darauf einzusteigen – vor allem, wenn man sich in dem Fachgebiet nicht gut auskennt.

Man kann das auch so sagen: „Wir sind beide keine Experten. Wie wählst du aus, wem du vertraust? Wie wähle ich aus, wem ich vertraue?“

Eine Diskussion „gewinnen“ zu wollen, ist der falsche Weg.

Eine Diskussion „gewinnen“ zu wollen, ist der falsche Weg.

Was kann man als Verantwortlicher in einer Gemeinde tun, wenn man Menschen im Ort hat, die Stimmung gegen Corona-Maßnahmen und Impfungen machen?

Als Vertreter einer Behörde oder einer politischen Institution ist man in einer anderen Situation als ein Freund oder Verwandter. Enorm wichtig ist zuzuhören, damit sich die Menschen ernstgenommen fühlen.

Die Szene der Verschwörungstheoretiker lebt von Schwarz-weiß-Schablonen. Als Bürgermeisterin oder Bürgermeister gilt man da als Vertreterin oder Vertreter des „bösen Systems“ und damit als Feindbild.

In einer kleineren Gemeinde ist es vielleicht einfacher aus dieser Rolle herauszukommen, weil man einander ja oft auch privat kennt.

Man muss sich als quasi von der eigenen Partei lösen …

Man muss klarstellen: Wir sind doch beide in erster Linie Menschen!

Denn die absoluten Impfgegner meinen ja, dass die Impfung eine Giftspritze ist, die dazu dient, die Bevölkerung zu reduzieren, weil Menschen, die geimpft sind, sterben werden. Alle, die an der Verschwörung beteiligt sind, wissen das und werden mit Geld geködert. Alle anderen Leute, die sich impfen lassen, sind dumm. Das ist ein sehr heftiger Vorwurf.

Hier muss man in einem Gespräch schon die Frage stellen: „Glaubst du, ich würde bei etwas mitmachen, dass meiner Familie, meinen Freunden, die Freunde meiner Kinder etc. schadet?“

In so ein Gespräch darf man nicht mit der Erwartung hineingehen, dass man das Gegenüber überzeugen kann. Man kann froh sein, wenn man etwas von der Schwarz-weiß-Schablone aufbrechen kann.

In so ein Gespräch darf man nicht mit der Erwartung hineingehen, dass man das Gegenüber überzeugen kann.

Diskussionen werden ja schnell aggressiv …

Man sollte in so einem Gespräch höflich bleiben, aber das auch vom Gegenüber einfordern. Wenn das gelingt, ist schon viel erreicht.

Wann ist der Punkt erreicht, an dem eine Diskussion nichts mehr bringt? Was muss sich ein Staat gefallen lassen?

Sobald man – etwa als Gemeindevertreter – in einer gewissen Machtposition ist, muss man Kritik aushalten. Man muss sich aber nicht beleidigen oder gar bedrohen lassen!

Das ist ähnlich wie bei den Staatsverweigerern. Als vor einigen Jahren die ersten Staatsverweigerer aufgetreten sind, waren Behörden und Gemeindevertreter überfordert, wie arrogant und aggressiv diese Leute aufgetreten sind. Erst allmählich hat man gelernt, dass man da nicht mit Logik argumentieren kann. Vielmehr muss man klarstellen, dass man als Amtsträger Aufgaben zu erfüllen hat und dass Regeln für alle gelten.

Aber sind nicht viele Maßnahmengegner auch Staatsverweigerer?

Ja, weil auch die Anliegen ähnlich sind. Es werden vielfach auch die gleiche Sprache und die gleichen Methoden verwendet. Man ist sehr fordernd und meint, dass einem alles zusteht. Das zeigt sich etwa, wenn Demonstranten Tafeln mit Aufschriften „Wir sind das Volk“ herumtragen – dabei sind sie nur ein winzig kleiner Teil der Bevölkerung.

Die Pandemie wird, so ist zu hoffen, irgendwann vorbei sein. Die Staatsverweigerer wird es aber weiterhin geben …

Verschwörungstheorien haben ja, ausgehend von den USA, schon seit 9/11 stark zugenommen. Mit der Klimakrise steht schon die nächste Herausforderung vor der Türe. Das merkt man bei den Influencern, die das jeweilige Material in den diversen Online-Kanälen erzeugen. Das sind oft Leute, die von Spenden oder von Produkten, die sie dann verkaufen, leben. Diese Menschen brauchen Aufmerksamkeit, und die bekommen sie durch Horrormeldungen. Da geistern Schlagworte wie etwa „Klimalüge“ herum, und man versucht den Menschen einzureden, dass ihnen ihr Lebensstandard genommen werden soll. So etwas macht Angst.

Zur Person

Ulrike Schiesser (50) ist Psychologin und Psychotherapeutin und seit 2009 Mitarbeiterin der Bundesstelle für Sektenfragen.