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Bürgerhaushalte erhöhen die Transparenz bezüglich der Finanzsituation einer Gemeinde, ihr tatsächlicher Einfluss auf die Finanzlage ist aber gering.
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Mitbestimmung

Was bringen Bürgerhaushalte?

Seit 1998 beteiligen eine Reihe von Städten und Gemeinden in Deutschland ihre Bürgerinnen und Bürger an der jährlichen Haushaltsplanung durch sogenannte Bürgerhaushalte. Empirische Untersuchungen weisen darauf hin, dass diese ein geeignetes Mittel sein können, in Zeiten angespannter Haushaltslage Sparmaßnahmen transparent zu kommunizieren und zu legitimieren. Es zeigt sich zudem, dass sie vor allem in größeren Gemeinden und Städten verbreitet sind. Dies kann auf die direkteren Informations- und Kommunikationsbeziehungen in kleineren Kommunen zurückgeführt werden.

Bürgerhaushalte zählen zu den populärsten demokratischen Innovationen der letzten Zeit auf kommunaler Ebene. Der erste Bürgerhaushalt entstand 1989 im brasilianischen Porto Alegre (1,5 Mio. Einwohner Stand 2021). Ziele der ersten Bürgerhaushalte waren es, Korruption zu bekämpfen, soziale Ungerechtigkeiten zu verringern und Bürger und Bürgerinnen in den politischen Prozess einzubeziehen (Marquetti, Silva & Campbell 2011).

Unterschiedliche Typen von Bürgerhaushalten

Je weiter sich die Idee vom Bürgerhaushalt auf der Welt verbreitete, desto unterschiedlicher wurden die Konzepte hinsichtlich der verfolgten Ziele und Prozessdesigns.

Auf Basis einer globalen Studie von Bürgerhaushalte unterscheiden Herzberg u. a. (2014, S. 15 ff.) die folgenden Idealtypen:

  • Grass roots-Demokratie,
  • partizipative Demokratie,
  • partizipative Modernisierung,
  • Beteiligung von Multi-Stake-Holdern,
  • Neo-Korporatismus und
  • Community Development.

Diese Arten von Bürgerhaushalte unterscheiden sich in Bezug auf den sozio-politischen Kontext, die Ziele, die Regeln und Verfahren der Beteiligung, die Dynamiken kollektiven Handelns und die Beziehung zwischen herkömmlicher Politik und partizipativen Verfahren.

Stärkung der Bürgerschaft durch bindende Ergebnisse

Einige Modelle wie „partizipative Demokratie“ unterstützen die Stärkung der Bürgerschaft, indem sie tatsächlich die Entscheidungsmacht hin zu den Bürgerinnen und Bürgern verlagern. Zum Beispiel sind die Ergebnisse von Bürgerhaushalt-Prozessen in Brasilien rechtlich bindend.

Andere Modelle wie „partizipative Modernisierung“ übertragen keine Entscheidungsmacht von gewählten Amtsträgern auf Bürger und Bürgerinnen. Diesem Typ sind die Bürgerhaushalt-Verfahren in Deutschland zuzuordnen.

Bürgerhaushalte in Deutschland

In Deutschland wurde das erste Bürgerhaushalte-Verfahren 1998 im baden-württembergischen Mönchweiler (2.997 Einwohner, Stand 2018) eingeführt.

Seitdem hat eine wachsende Anzahl von deutschen Gemeinden mit Bürgerhaushalte experimentiert, wobei 78 Bürgerhaushalte im Jahr 2017 gezählt wurden, weitere 180 Gemeinden zogen ihre Einführung in Betracht. Die Abbildung zeigt die zahlenmäßige Entwicklung zwischen 1998 und 2017.

Entwicklung der Bürgerhaushalte in Deutschland
Entwicklung der Bürgerhaushalte in Deutschland, 1998-2017. Quelle: nach Apostolou & Eckardt (2022, Fig.2.1, S.31)

Schwerpunkt auf Information und Beratung

Bürgerhaushalte in Deutschland wurden zu Beginn von mehreren Stiftungen und NGOs gefördert, die es nach dem in Christchurch/Neuseeland entwickelten Bürgerhaushalte-Konzept modellierten.

Entsprechend einheitlich sind die in Deutschland umgesetzten Bürgerhaushalte. Sie umfassen die Stufen Information, Konsultation und Rechenschaft.

Dabei liegt der Schwerpunkt auf den Phasen der Information und Beratung, während der Grad an Rechenschaftspflicht der Gemeinden in Bezug auf das Ergebnis eines Bürgerhaushalte-Prozesses in der Regel eher gering ist.

Es werden dabei keine zusätzlichen Kompetenzen auf die Bürger und Bürgerinnen übertragen. Die Mehrzahl der Bürgerhaushalte ermöglicht es den Bürgerinnen und Bürgern, selbst Vorschläge zur Gestaltung des Kommunalhaushaltes einzubringen und zusätzlich Feedback zum Haushaltsplan zu geben.

Partizipationsformen
Partizipationsformen, 2012-2018 (Anzahl an Bürgerhaushalte, n=184). Quelle: nach Apostolou & Eckardt (2022, Fig.4, S.36)

Die institutionelle Einbettung von Bürgerhaushalte-Prozessen in Deutschland ergibt sich aus der föderalen Staatsstruktur. Unterhalb der Bundesebene gibt es 16 Länder, die ebenfalls wichtige legislative Kompetenzen haben. Auf der untersten Ebene gibt es 11.014 Gemeinden (Stand 2018, Statistisches Bundesamt 2019, S.29).

Jedes der 16 Länder hat in seinem Kommunalverfassungsgesetz festgelegt, wie die Gemeinden innerhalb seiner Zuständigkeit strukturiert sind, welche Kompetenzen und Aufgaben sie haben, wie der Haushaltsprozess aussieht und wie nicht gewählte Bürger und Bürgerinnen bei Entscheidungen auf kommunaler Ebene beteiligt werden.

Diese Regeln ermöglichen es auch, Bürgerhaushalte auf kommunaler Ebene durch einen formellen Beschluss des Stadt- oder Gemeinderates einzuführen.

Entscheidungsmacht bleibt bei gewählten Repräsentanten

Die Entscheidungsmacht über den kommunalen Haushalt liegt bei den gewählten Repräsentanten einer Gemeinde. Dies gilt sowohl für Bürgerhaushalte als auch für andere Formen direkter demokratischer Entscheidungsfindung.

In den letzten Jahrzehnten haben alle Länder mehr oder weniger weitreichende rechtliche Instrumente für die direkte Beteiligung der Bürgerschaft wie Referenden und Petitionen in ihre Verfassungen aufgenommen – sowohl auf Landes- als auch auf kommunaler Ebene (Mehr Demokratie e.V. 2020).

Darüber hinaus haben sie andere beratende partizipative Verfahren wie Runde Tische, Bürgerforen, Mediationsverfahren und Planungszellen eingeführt (Herzberg 2008, S. 81). Diese direktdemokratischen Werkzeuge dienen jedoch hauptsächlich dazu, die Funktionsweise repräsentativer Institutionen durch die Schaffung engerer Verbindungen zwischen gewählten Politikern und Politikerinnen und der Bürgerschaft zu verbessern (Banner 1999, S. 145). Die politische Kultur bleibt somit als repräsentative Demokratie charakterisiert. Es findet dadurch keine tiefgreifende institutionelle Änderung statt. Formularbeginn

Geringe Auswirkungen auf Gemeindefinanzen

Empirische Nachweise zum Einfluss von Bürgerhaushalte auf politische und budgetäre Entscheidungsprozesse der Städte und Gemeinden in Deutschland sind noch spärlich.

Bisherige empirische Analysen deuten darauf hin, dass Bürgerhaushalte in den meisten Fällen keine oder nur sehr geringen Auswirkungen auf die tatsächliche finanzielle Lage einer Gemeinde haben (Neunecker 2016; Schneider 2018).

Warum werden Bürgerhaushalte trotzdem eingeführt?

Aus diesem Grund stellt sich die Frage, warum Gemeinden dennoch Bürgerhaushalte einführen. Eine Erklärung könnte sein, dass Bürgerhaushalte dazu dienen, Legitimität für bevorstehende Sparmaßnahmen zu finden.

In Deutschland haben viele finanziell angeschlagene Gemeinden Bürgerhaushalte eingeführt. Es wurde sogar eine spezielle Form von Bürgerhaushalte namens „Sparhaushalte“ entwickelt.

Eines der wesentlichen Ziele von Bürgerhaushalte in Deutschland ist die Erhöhung der Transparenz in den öffentlichen Finanzen. Bürgerhaushalte-Prozesse werden daher als Instrument eingesetzt, um die Bürger und Bürgerinnen über den lokalen Haushalt zu informieren und sie bei Haushaltsentscheidungen auf kommunaler Ebene zu beraten.

Bürgerhauhalte sollen Verständnis für Budgetkürzungen erhöhen

Apostolou (o.J.) und Apostolou & Eckardt (2022, S.39ff.) haben daher den Einfluss der kommunalen Haushaltslage auf die Einführung von Bürgerhaushalte empirisch untersucht.

Dafür verwenden sie einen Datensatz von 2.951 deutschen Gemeinden für den Zeitraum von 2006 bis 2014. Mithilfe einer sogenannten Cluster-Analyse untersuchen sie, ob sich die Gemeinden im Datensatz in verschiedene Gruppen einteilen lassen, wobei Mitglieder einer Gruppe einander in Hinsicht auf eine Reihe von Eigenschaften ähnlicher sind als diejenigen in der anderen Gruppe.

Die Ergebnisse dieser Analyse zeigen, dass die Gemeinden im Datensatz tatsächlich zwei Clustern angehören, je nachdem, ob sie einen Bürgerhaushalte eingeführt haben (bzw. planen einen einzuführen) oder ob sie keinen Bürgerhaushalte einsetzen.

Diese beiden Gruppen unterscheiden sich weiterhin dahingehend, dass Gemeinden mit Bürgerhaushalte gemessen an der Einwohnerzahl durchschnittlich größer sind. Zudem weisen sie eine höhere Pro-Kopf-Verschuldung und größere Sozialabgaben pro Kopf im Vergleich zu den Gemeinden ohne Bürgerhaushalte auf.

Die Abbildung unten verdeutlicht, dass zwischen 2012 und 2018 zwei Drittel der Bürgerhaushalte in Deutschland in Kommunen mit mehr als 25.000 Einwohnerinnen durchgeführt wurden, ein Viertel sogar in Kommunen mit mehr als 100.000 Einwohnern.

Verteilung der Bürgerhaushalte nach Größe der Kommunen
Verteilung der Bürgerhaushalte nach Größe der Kommunen, 2012-2018. Quelle: nach Apostolou & Eckardt (2022, Fig.2, S.32)

Ergänzende Mittelwertvergleiche zwischen den beiden Gruppen mit und ohne Bürgerhaushalte bestätigen diese Unterschiede statistisch.

Gemeinden mit Bürgerhaushalte sind signifikant größer, d. h. dass in Deutschland eher größere Städte Bürgerhaushalte einsetzen. Zudem hat diese Gruppe wesentlich schlechtere fiskalische Kennzahlen. Nicht nur Personal- und Sozialausgaben pro Kopf sind höher, auch die Haushaltsdefizite und die Pro-Kopf-Verschuldung sind signifikant größer als in der Gruppe von Gemeinden ohne Bürgerhaushalte. Gleiches gilt für die Gesamtbilanz, die signifikant schlechter ist.

Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass eine schwierigere finanzielle Situation von Gemeinden, die Bürgerhaushalte eingeführt haben, gegenüber denen, die keine Bürgerhaushalte-Prozesse haben, zu eigen ist. Dass Bürgerhaushalte offenbar als Werkzeug verwendet werden, um das Verständnis der Bürger und Bürgerinnen für notwendige Kürzungsentscheidungen zu erhöhen und Legitimität für Sparmaßnahmen zu erreichen, konnte auch in weiteren statistischen Analysen bestätigt werden (vgl. Apostolou, o.J., S.136 ff.).

Wenig Einfluss auf Finanzen, aber mehr Transparenz

Damit lässt sich festhalten, dass Bürgerhaushalte in Deutschland das Ziel erreichen, die Transparenz bezüglich der Finanzsituation einer Gemeinde zu erhöhen, auch wenn ihr tatsächlicher Einfluss auf die Finanzlage gering ist.

Mit der Zeit kann diese bessere Aufklärung über die kommunale Finanzsituation zu einer besser gebildeten Bevölkerung im Bereich der öffentlichen Finanzen führen. Bürgerhaushalte auf kommunaler Ebene eignen sich zudem sehr gut, um demokratische Beratungen über die Verteilung begrenzter Haushaltsmittel für konkurrierende Verwendungszwecke durchzuführen.

Echte Mitsprache bei kommunalen Finanzen gefragt

Ein vielversprechender Weg, um diese Entwicklung weiter voranzutreiben, besteht darin, Änderungen im Bürgerhaushalte-Design vorzunehmen. Diese sollten darauf abzielen, die Beteiligungsrate an den jährlichen Bürgerhaushalte zu erhöhen.

Eine Option dafür ist es, den Bürgern und Bürgerinnen eine echte Mitsprache bei den Entscheidungen über Kommunalfinanzen zu geben.

So könnten im Rahmen eines Bürgerhaushalte die beteiligten Bürgerinnen und Bürger direkt über die Verwendung eines festen Budgets entscheiden. Eine wachsende Zahl von Gemeinden hat bereits erkannt, dass diese Modifikation im Bürgerhaushalte-Design das Interesse der Bürger an kommunalen Finanzen und Politik über die Zeit intensiviert und stabilisiert.

Dies zeigt die rasche Ausbreitung etablierter Bürgerhaushalte, die diese Option einschließen. Ihr Anteil stieg in Deutschland von 15 % auf 41 % zwischen 2014 und 2018 (Apostolou & Eckardt, 2022, Tab. 2.4, S.34).

Allerdings zeigt sich auch, dass Bürgerhaushalte in Deutschland vorwiegend in größeren Gemeinden durchgeführt werden. Dies kann darauf zurückgeführt werden, dass es in kleineren Städten und Gemeinden für die Bürgerinnen und Bürger leichter ist, direkt mit den gewählten Entscheidungsträgern in Kontakt zu treten und ihnen ihre Präferenzen zum Gemeindehaushalt zu kommunizieren. Umgekehrt ist es auch für die Repräsentantinnen und Repräsentanten im Stadt und Gemeinderat leichter, im direkten Gespräch mit den Gemeindemitgliedern die fiskalische Situation und etwaige Einsparnotwendigkeiten zu vermitteln. Allerdings fehlen hierzu noch verlässliche empirische Studien.

Literatur

Apostolou, J. & Eckardt, M. (2022): Participatory Budgeting in Germany –  an Instrument for Increasing Transparency on Municipal Finances Among Citizens, in Particular in Times of Fiscal Stress, in: De Vries, M.S., Nemec, J. & Spacek, D. (Hrsg.): International Trends in Participatory Budgeting: Between Trivial Pursuits and Best Practices, Palgrave McMillan publishing, S.27-46, doi.org/10.1007/978-3-030-79930-4_2

Apostolou, J. (o.J.): Municipal Finances and The Adoption of Participatory Budgeting in Germany – an Empirical Analysis of Adoption Patterns from an Economic Perspective, unveröffentlichte Dissertation.

Banner, G. (1999): Die drei Demokratien der Bürgerkommune. In: H. von Arnim (Hrsg.)  Adäquate Institutionen - Voraussetzungen für gute und bürgernahe Politik. Speyer, S.133-162.

Herzberg, C. (2008): Der Bürgerhaushalt in Europa - Europäische Kommunen auf dem Weg zur Solidarkommune? Dissertation, Universität Potsdam, Universität Paris 8.

Herzberg, C. u. a. (2014): Vom Süden lernen: Bürgerhaushalte weltweit – eine Einladung zur globalen Koope-ration (Dialog Global Nr. 25). Bonn: Engagement Global/Servicestelle Kommunen in der Einen Welt, 2. Aufl.

Marquetti, A., Silva, C. & Campbell, A. (2011): Participatory Economic Democracy in Action: Participatory Budgeting in Porto Alegre, 1989-2004. Review of Radical Political Economics 44, S.62-81.

Mehr Demokratie e.V. (2020): Bürgerbegehrensbericht 2020, Berlin, (letzter Zugriff: 02/10/2020).

Neunecker, M. (2016): Partizipation trifft Repräsentation. Die Wirkungen konsultativer Bürgerbeteiligung auf politische Entscheidungen. Wiesbaden: Springer VS.

Schneider, S.H. (2018): Bürgerhaushalte in Deutschland. Individuelle und kontextuelle Einflussfaktoren der Beteiligung. Wiesbaden: Springer VS.

Statistisches Bundesamt (2019): Statistisches Jahrbuch. Deutschland und Internationales 2019, (letzter Zugriff: 02/09/2020).