„Wenn wir das nicht selbst in die Hand nehmen, verlieren wir die jungen Leute an die Städte. Das können und wollen wir uns nicht leisten.“ Johannes Feurle über den Hinter-grund der aktiven Wohnraumpolitik in Sulzberg.
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Vom politischen Stillstand zur Modellgemeinde
Als sich Bürgermeister und Vizebürgermeister im vorarlbergischen Sulzberg gleichzeitig gegenseitig ihre Rücktrittserklärungen überreichten und weitere Mandatare zurücktraten, stand die Gemeinde vor einem politischen Scherbenhaufen. Heute gilt das 2.000-Einwohner-Dorf im Vorderen Bregenzerwald als Vorzeigebeispiel für Zusammenhalt, Bodenpolitik und Eigeninitiative. Bürgermeister Johannes Feurle hat nicht nur eine gespaltene Gemeinde geeint – er hat sie mit klarer Strategie – und etwas Unterstützung – auf einen neuen Kurs gebracht.
Am Anfang stand ein politisches Kuriosum mit Folgen: Sulzberg, auf 1.015 Metern über dem Meeresspiegel gelegen, ist bekannt für seine Aussicht, seine Landwirtschaft und seinen Zusammenhalt. Doch vor zwei Jahren wurde das Dorf selbst zum Schauplatz eines politischen Dramas: Bürgermeister und Vizebürgermeister reichten gleichzeitig ihre Rücktrittsschreiben ein – eine Situation, die das Vorarlberger Gemeindegesetz zwar zulässt, aber nur, wenn diese nacheinander erfolgen. Mit ihnen traten drei weitere Mandatare zurück und zwei Gemeindevorstandsmitglieder legten ihre Ämter nieder.
„Wir standen plötzlich ohne klare Führung da. Jeder wusste: Irgendjemand muss jetzt einen Schritt machen, sonst blockieren wir uns selbst“, erinnert sich Johannes Feurle. Ausgerechnet er, damals Ersatzmitglied der Gemeindevertretung, wurde schließlich zum Vermittler – und später zum Bürgermeister.
Seine Aufgabe: nicht nur die festgefahrene politische Lage zu lösen, sondern auch eine tief gespaltene Gemeinde zu einen. „Am Anfang war das kein Amt mit Macht, sondern mit viel Zuhören. Wir mussten Vertrauen zurückgewinnen – und zwar Schritt für Schritt.“
Wegweiser aus der Krise
Bereits Jahre zuvor hatte Sulzberg mit Unterstützung des Instituts für Standort-, Regional- und Kommunalentwicklung (ISK) ein Gemeinde- und Wirtschaftsentwicklungskonzept erarbeitet. Unter Einbindung von mehr als 300 Bürgerinnen und Bürgern definierte man gemeinsam zentrale Handlungsfelder: leistbarer Wohnraum, Stärkung der Landwirtschaft, Ausbau von Energieprojekten, Sicherung der Nahversorgung und ein neues Selbstverständnis als lebenswerte Wohngemeinde.
„Das ISK-Konzept war wie ein Werkzeugkasten. Es hat uns in der größten Krise daran erinnert, welche Ziele wir uns als Gemeinde gesetzt hatten“, sagt Feurle. Unter seiner Führung griff Sulzberg viele dieser Ansätze wieder auf – und setzte sie entschlossener um als je zuvor.
Miteinander statt Grabenkämpfe
Einer der ersten Schritte Feurles war es, mit allen Gemeindevertretern die offenen Themen anzugehen. „Wir stellten das Miteinander und die Interessen der Gemeinde in den Mittelpunkt. Es geht nicht um Fraktionsmehrheiten und Macht. Es geht um die besten Lösungen.“
Diese neue Kultur zeigte Wirkung: Zahlreiche Projekte, von Wohnbau über Glasfaser, bis hin zu PV-Anlagen, Gehsteige und Kinderbetreuung, wurden binnen eines Jahres umgesetzt - selbst wenn zuvor lange und heftig diskutiert wurde. „Ich sage immer: Wir können intensiv diskutieren, aber wir müssen uns danach noch in die Augen schauen können“, betont der Bürgermeister.
Als Feurle Verantwortung übernahm, war er mit 29 Jahren der jüngste amtierende Bürgermeister in Vorarlberg. Sein Vize stammt aus dem Ortsteil Thal – erstmalig in der Geschichte Sulzbergs. Das hat auch die beiden Ortsteile Sulzberg und Thal näher zusammengebracht. „Wir sind eine Gemeinde und kommen nur gemeinsam voran.“
Wohnraum: Bodenpolitik als Erfolgsmodell
Besonders sichtbar ist der neue Kurs in der Wohnraumpolitik. Durch aktive Ankäufe von Grundstücken und die Zusammenarbeit mit der Projekt- und Strukturentwicklungsgenossenschaft (PSG) sorgt Sulzberg dafür, dass junge Familien leistbaren Wohnraum finden.
„Wenn wir das nicht selbst in die Hand nehmen, verlieren wir die jungen Leute an die Städte. Das können und wollen wir uns nicht leisten“, erklärt Feurle. Es entstehen heute neue Bauprojekte – kleine, verdichtete Wohnanlagen ebenso wie Einfamilienhausgebiete.
Auch betreubares Wohnen für ältere Menschen ist Teil der Strategie. „Wir wollen, dass die Menschen hier alt werden können, ohne ihr Dorf verlassen zu müssen.“ Das ISK hatte diese Kombination aus Familienförderung und Seniorenangeboten bereits 2008 als Schlüssel zur Stabilisierung der Bevölkerungsstruktur beschrieben.
Landwirtschaft und Genossenschaften als Rückgrat
Mit über 70 Betrieben ist Sulzberg eine der größten Bauerngemeinden Vorarlbergs. Milchproduktion, Sennerei und Direktvermarktung prägen den Ort. „Unsere Landwirtschaft ist mehr als nur ein Wirtschaftsfaktor – sie ist ein Teil unserer Identität“, betont Feurle.
Das genossenschaftliche Denken ist tief verwurzelt: Ob Wasserversorgung, Fernwärme oder Kabelnetz Güterweg- und Jagdgenossenschaften – vieles wird in Sulzberg gemeinschaftlich organisiert. „Wir machen das nicht, weil es nostalgisch klingt, sondern weil es funktioniert“, so der Bürgermeister.
Energie und Klimaschutz: Eigenständig und regional
Die Gemeinde setzt auf Energieautarkie. Neben einem Biomasse-Heizwerk in Sulzberg und einem zweiten in Thal ist die Gemeinde Teil der Erneuerbaren Energiegemeinschaft Vorderwald. Auf Gemeindegebäuden werden Photovoltaikanlagen installiert, und auch private Hausbesitzer können sich am „Wälderstrom“ beteiligen.
„Wir sind kein Ort, der wartet, bis jemand anderer für uns etwas macht. Wir organisieren uns in Kooperation mit den Nachbargemeinden selbst – vom Strom bis zur Wärme“, erklärt Feurle. Damit setzt Sulzberg das im ISK-Konzept formulierte Ziel um, als „umwelt- und klimafreundliche Gemeinde“ eine Vorreiterrolle einzunehmen.
Nahversorgung, Vereine und Gemeinschaft
Sulzberg verfügt über eine vollständige Nahversorgung – von der Bäckerei, über Ärzte, bis zum ADEG-Markt. Ein Vorteil, den Feurle bewusst verteidigt: „Wenn wir die Geschäfte im Ort halten, bleibt das Geld hier, stärkt unsere Vereine und unser Dorfleben.“
Die Vereinslandschaft ist beachtlich: Von der Musikkapelle bis zum Kulturverein tragen zahlreiche ehrenamtlich engagierte Bürgerinnen und Bürger zur hohen Lebensqualität bei. „Das soziale Kapital ist unsere stärkste Währung“, sagt Feurle.
Tourismus: Mehr als nur Aussicht
Zwar ist der Nächtigungstourismus in Sulzberg im Vergleich zu Nachbargemeinden wie Schoppernau oder Mellau überschaubar, doch der Tagestourismus boomt. Besonders das Langlaufgebiet mit Flutlichtloipen lockt Besucher aus der Region.
Feurle sieht darin eine Chance: „Wir wollen, dass die Leute nicht nur für einen Kaffee kommen, sondern auch für ein Wochenende bleiben.“ Geplant sind Kooperationen und die Stärkung von Angeboten wie Themenwanderungen, die bereits im ISK-Prozess als Entwicklungspotenzial identifiziert wurden.
Die Lehre aus der Spaltung
Heute blickt Sulzberg nach vorn – und hat dabei aus seiner Krise gelernt. „Wir haben gesehen, was passiert, wenn das miteinander fehlt. Jetzt reden wir mehr, manchmal fast zu viel – aber es funktioniert“, sagt Feurle mit einem Schmunzeln.
Sulzberg steht damit für mehr als nur gelungene Gemeindeentwicklung: Es ist ein Beispiel für die Kraft von Eigeninitiative, Bürgerbeteiligung und einer klaren Strategie. Oder, wie es Feurle zusammenfasst: „Wir sind vielleicht klein. Aber wir haben gelernt: Wenn wir zusammenhalten, ist selbst ein politischer Riss kein Schicksal – sondern nur der Anfang für etwas Neues.“
Zur Person
Johannes Feurle
Alter: 32
Gemeinde: Sulzberg
Einwohnerzahl: 1.854 (1. Jänner 2025)
Bürgermeister seit: November 2023
Partei: Liste Sulzberg
Sulzberg auf einen Blick
- Lage: 1.015 m Seehöhe, Vorderer Bregenzerwald, Grenznähe zum Allgäu
- Besonderheiten: eine der größten Bauerngemeinde Vorarlbergs, außergewöhnliche Lage mit vielen nebelfreien Tagen, starkes Vereins- und Genossenschaftswesen
- Wirtschaft: Landwirtschaft, Kleinbetriebe, Nahversorgung, Tagestourismus, Zimmervermietung und Gastronomie
- Stärken: aktive Bodenpolitik, Gemeindekooperationen, hohe Lebensqualität, gelebte Bürgerbeteiligung, großes ehrenamtliches Engagement