Aus Freiwilligen zusammengesetzte Bürgerwehren sorgten in vielen Gemeinden Österreichs während des Ersten Weltkriegs und danach für die öffentliche Sicherheit.
© Archiv der Marktgemeinde Perchtoldsdorf

"Mir ist's ganz egal, wer mich beherrscht"

4. November 2018
Die Verwaltungsebene der Gemeinden erwies sich in den Jahren des Ersten Weltkriegs und der wirtschaftlichen Not der Nachkriegsjahre als wichtige Konstante im öffentlichen Leben.

Die Funktionsfähigkeit der Kommunen war angesichts der Erschöpfung der Bevölkerung, des täglichen Kampfes ums schiere Überleben und der unklaren Situation des Gesamtstaats so etwas wie ein kleines Wunder und verhinderte den völligen Zusammenbruch staatlicher Handlungsfähigkeit.

Die Kriegseuphorie des Sommers 1914 war ebenso schnell verflogen wie sie gekommen war. Der Allianzwechsel Italiens 1915 ließ den Kanonendonner bedenklich nahe an die Grenzen der späteren Republik Österreich dringen. Das Ableben Kaiser Franz Josephs im Herbst 1916 beraubte die multiethnische Monarchie einer bedeutenden Integrationsfigur und wurde von pessimistischen Kreisen als Untergang der Dynastie gedeutet.

Der Kriegsverlauf zeigte bald die unzulängliche militärische Ausrüstung Österreich-Ungarns, aber auch den Mangel an Rohstoffen auf. Geradezu katastrophal war die Versorgungslage bei Lebensmitteln und Brennstoffen. Die Versorgung aus agrarischen Überschussgebieten fiel immer wieder durch Kampfhandlungen aus, und die Verteilung der Lebensmittel durch ein Kartensystem funktionierte nicht zufriedenstellend.

Gemeinden übernahmen Lebensmittelversorgung in Eigenregie

In diesem schrittweisen Versagen der öffentlichen Systeme wuchs die Bedeutung der Nebenverwaltungen, vor allem jener der mit der Lebenssituation der Menschen unmittelbar konfrontierten Gemeinden. Die zu lösenden Herausforderungen bestanden vor allem in der Bekämpfung des 1917 immer weiter um sich greifenden Hungers.

Um die „Approvisionierung“, also die Versorgung der Bevölkerung mit den wichtigsten Grundnahrungsmitteln sicherzustellen, wurde durch die Bürgermeister Ankäufe von Erdäpfeln, Roggen, Weizenmehl und auch von Kohle beschlossen. Die öffentliche Sicherheit war schon seit längerer Zeit von einer freiwilligen Bürgerwehr aufrecht erhalten worden, die über Machtbefugnisse der Polizei verfügte und aus Freiwilligen zusammengesetzt war.

Alte Strukturen zerfielen

Vor dieser trüben Szenerie zerfielen Stück für Stück die Strukturen des alten Staates. Dass die Monarchie und die Habsburger abgewirtschaftet hatten, war ein weit verbreiteter Eindruck: „Mir ist’s ganz egal, wer mich beherrscht“, sagte etwa eine Gasteiner Wirtin zum Kurgast  Arthur Schnitzler.

Am 11. November 1918 verzichtete Kaiser Karl auf die Teilnahme an den Staatsgeschäften. Tags darauf verkündete die „Provisorische Nationalversammlung“ die Republik Deutschösterreich. Die Ausrufung der Republik besiegelte die Gründung des neuen Staates, dessen beanspruchtes Staatsgebiet, Grundgesetz und Organe am 30. Oktober 1918 durch eine Sitzung des aus den deutschsprachigen Reichsratsabgeordneten gebildeten Staatsrats definiert worden waren.

Notgeld, galoppierende Inflation und drückendes Kinderelend

Die Finanzlage der jungen Republik wie auch jene der Gemeinden, die in nunmehr wertlose Kriegsanleihen investiert hatten, war weiterhin bedrückend. Die Ausgabe von „Notgeld“ sollte dem Münzgeldmangel entgegenwirken, war durch die Geldentewertung aber bald gegenstandslos.

Kinderelend
Eine der amerikanischen Ausspeisungsstationen für Kinder im Osten Österreichs. Die Perchtoldsdorfer Station wurde 1921 von Unterstützern der Aktion, darunter Mrs. Louis C. Tiffany aus New York, besucht. Foto:  Library of Congress, Prints and Photographs Division, Washington DC 

1921 wurde in Perchtoldsdorf eine Erhöhung der Gemeindeumlagen für das Folgejahr beschlossen, die deutlich zeigte, in welchen Dimensionen die damalige Inflation vor sich ging und welche Auswirkungen dies auf die kommunale Finanzpolitik hatte: In Perchtoldsdorf, im Süden Wiens, wurde der Grundsteuerhebesatz von 100 Prozent auf den aus heutiger Sicht unglaublichen Satz von 1000 Prozent erhöht, die Hauszinssteuer von 100 auf 200 Prozent und die allgemeine Erwerbssteuer von 100 auf 600 Prozent angehoben.

Mit diesen Mitteln, deren Einbringung oft auf Schwierigkeiten stieß, konnte ein öffentliches Minimalangebot gewährleistet werden, das beispielsweise in der Beheizung von Schulräumen bestand. Eine vom „American Relief Administration European Children‘s Fund“ dotierte Kinderausspeisung in der Volksschule entlastete ab 1919 diesbezüglich die Gemeinde und bewahrte eine ganze Generation von Kindern vor dem drohenden Hungertod.

von Gregor Gatscher-Riedl, Historiker und Archivar der Marktgemeinde Perchtoldsdorf und Mitglied des Arbeitskreises der Österreichischen KommunalarchivarInnen