Gerd Landsberg
Gerd Landsberg: „Die Krise hat eins gezeigt: Der kurze Weg vor Ort, der direkte Kontakt, die Möglichkeit mit zu entscheiden und daraus resultierend die Zuverlässigkeit der Dienstleistung gerade in Krisenzeiten sprechen für die Kommunen.”
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„Ohne die Kommunen ist in Europa kein Staat zu machen“

24. Mai 2020
Ebenso wie in Österreich waren deutsche Kommunen und deren Bürgermeisterinnen und Bürgermeister an vorderster Front im Kamp gegen Covid-19 engagiert. Gerd Landsberg, Präsident des Deutschen Städte- und Gemeindebundes spricht im Interview mit Philipp Lerch von der Konrad-Adenauer-Stiftung über die Zeit nach der Krise und was sich für Gemeinden möglicherweise ändert.

Philipp Lerch: Im Februar 2020 haben Sie Deutschland als „sehr gut vorbereitet" auf die Corona-Krise beschrieben – eine Annahme, die sich in den darauffolgenden Wochen bestätigen sollte. Die Städte, Gemeinden und Kreise scheinen den Herausforderungen besonders tatkräftig, engagiert, verantwortungsbewusst und mit Maß und Mitte begegnet zu sein…

Gerd Landsberg: Die Städte und Gemeinden in Deutschland haben in der Tat die Herausforderung tatkräftig und engagiert angenommen.

Dabei hat der gut aufgestellte Katastrophen- und Seuchenschutzes in Deutschland eine große Rolle gespielt. Sie ist seit der Zeit Bismarcks ein fester Bestandteil der Aufgabenpalette der Kommunen. Im Zusammenspiel mit der Länder- und Bundesebene haben wir ein stabiles Netz über Deutschland spannen können.

Natürlich muss auch eines gesagt werden: Ohne die Mithilfe unzähliger Freiwilliger und die Selbstdisziplin der Bürger und Bürgerinnen ständen wir heute nicht so gut da. Bisher hat die Gesellschaft die Herausforderung bis auf wenige Ausnahmen glänzend gelöst.

Liegt hier grundsätzlich eine besondere Stärke unserer Kommunen? Wo stehen sie bei der Krisenbewältigung im europaweiten Vergleich?

Ja, so ist es. Die Stärke der Kommunen ist eine grundsätzliche und zudem historisch bedingte. Sie ist politisch gewollt. Was die Europäische Sicht betrifft, so glaube ich mit aller Vorsicht sagen zu können, dass Deutschland zusammen mit Österreich und der Schweiz aber auch Dänemark einen besonders guten Weg gefunden haben, ihre Probleme anzugehen. Wir stehen im europäischen Vergleich gut da. Das zeigt die Leistungskraft unseres Gesundheitssektors und der Gesundheitsämter, auch der politisch Verantwortlichen und nicht zuletzt der Menschen in unserem Land selbst.

Sie meinen, dass der so genannte „Corona- Föderalismus“ eine Chance sei. Werden das Subsidiaritätsprinzip und die kommunale Selbstverwaltung gestärkt aus dieser Zeit hervorgehen?

Ja, das werden sie. Ich denke, aus dieser Krise wird sich eine Renaissance der Kommunen und der kommunalen Selbstverwaltung und Daseinsvorsorge entwickeln.

Wir sehen, dass wir eine starke öffentliche Hand brauchen. Das Regionale wird trotz aller Globalisierung eine stärkere Bedeutung erlangen und teilweise auch zurückerlangen. Das wird auch für die Märkte gelten. Diese müssen nachhaltig und mit Blick auf die Versorgungssicherheit auch und gerade in der Krise ausgestaltet werden.

Wird den Menschen in diesen Monaten noch einmal besonders deutlich, welche zentralen Leistungen ihre Kreise, Städte und Gemeinden erbringen? Oder ist der Blick zu stark auf die Entscheiderinnen und Entscheider in Berlin und in den Landeshauptstädten gerichtet?

Ja, ich glaube, dass den Menschen das deutlich wird. Bei aller medialen Präsenz der Bundesregierung und der Ministerpräsidenten hat sich in das Bewusstsein der Bürger und Bürgerinnen erneut eingeprägt, dass kommunale Infrastrukturen und deren Dienste für ein menschengerechtes Leben vor Ort einfach notwendig sind. Ein funktionierendes kommunales System ist im Krisenfall nicht alles. Aber ohne dieses ist alles nichts.

Diese Erkenntnis tritt sicher manchmal in den Hintergrund, aber sie ist im Grunde immer vorhanden. Der Bürger und die Bürgerinnen wissen letztendlich, was sie an den Kommunen haben.

Könnte aus dieser Aufmerksamkeit sogar eine Renaissance des politischen Engagements auf kommunaler Ebene erwachsen?

Das ist genau der Punkt. Ich bin sicher, dass aufgrund der aktuellen Situation eine Renaissance der Kommunen bevorsteht. Ihre Aufgaben werden wachsen und der politische Fokus wird sich dadurch mehr denn je auf die kommunalen Strukturen legen. Die Krise hat eins gezeigt: Der kurze Weg vor Ort, der direkte Kontakt, die Möglichkeit mit zu entscheiden und daraus resultierend die Zuverlässigkeit der Dienstleistung gerade in Krisenzeiten sprechen für die Kommunen.

Dies alles betrifft natürlich zunächst die sogenannten Dienstleistungen des allgemeinen (wirtschaftlichen) Interesses wie Kindergärten, ÖPNV, Altenheime, Schwimmbäder oder die Energieversorgung. Aber es gibt unter Umständen auch relevante indirekte Auswirkungen für die Kommunen.

Inwieweit die skizzierte Rückbesinnung auf die Nähe, das Erreichbare und das Sichere auch für die so genannte Realwirtschaft gilt, wird sich noch zeigen. Der Höhenflug der Globalisierung ist jedenfalls vorbei. Kommt es nun zur Umsetzung des genannten Szenarios, dann wird sich mehr Entscheidungs- und natürlich auch finanzielles Potential auf der kommunalen Ebene sammeln. Und das bedeutet wiederum in der Regel mehr Engagement und Interesse seitens der politischen und der zivilen Ebene.

Welchen Beitrag sollte an dieser Stelle Politische Bildung, etwa die der Konrad-Adenauer-Stiftung, leisten?

Die Politische Bildung der KAS sollte, ausgehend von dem im Grundgesetz festgelegten dezentralen Aufbau der Bundesrepublik, den Menschen verdeutlichen, dass die Kommune nicht nur eine politisch gewollte Ebene des staatlichen Handelns ist, sondern dass sie auch eine moderne Antwort auf die Herausforderungen der Zeit bedeutet.

Positive Beispiele gibt es hierfür viele, wobei Kritik dabei immer erwünscht ist. Es kommt aber darauf an zu verdeutlichen, dass unser Weg der passende Weg für unseren Staat ist. Wenn nicht, muss man das Grundgesetz ändern.

Der Deutsche Städte- und Gemeindebund hat die Bundeshilfen zur wirtschaftlichen Bewältigung der Corona-Epidemie vor dem Hintergrund der Bedürfnisse der Kommunen untersucht. Wenn Sie heute einen Zwischenstand beschreiben müssen: Kommen die Hilfen vor Ort bei den Menschen – und damit in den Städten und Gemeinden an, wo sie gebraucht werden?

Bisher hat der Bund leider keine direkten oder indirekten Zahlungen an die Kommunen avisiert. Darum haben wir uns kürzlich in einem Schreiben an Bundesfinanzminister Scholz gewandt und um einen kommunalen Rettungsschirm gebeten.

Auf die Kommunen kommen jetzt ungeheure Belastungen, ausgelöst durch die Corona-Krise, zu. Es brechen Gewerbesteuereinnahmen weg und der Anteil an der Einkommensteuer und Umsatzsteuer wird sinken. Wir haben also drastisch sinkende Einnahmen, die Aufgaben und Ausgaben aber bleiben bestehen oder werden sogar noch steigen.

Wir brauchen deshalb die Hilfe des Bundes und der Länder – und letztlich auch für die Kommunen und kommunalen Unternehmen einen Rettungsschirm in der Corona-Krise.

Welchen Digitalisierungsschub erwarten Sie in den kommenden Monaten und Jahren?

Es wird einen Digitalisierungsschub geben. Auch bei den kommunalen Gebietskörperschaften. Die Corona-Krise ist dabei ein wichtiger Katalysator, aber eben nur einer. Im Grunde bereiten wir uns schon länger auf die neue Situation vor.

Es kommt hier darauf an, die Kommunen mit dem Bürger und der Wirtschaft direkter zu verknüpfen und die Abläufe zu beschleunigen. Auch muss die Abstimmung zwischen den Kommunen sowie mit den anderen staatlichen Ebenen durch die Digitalisierung verbessert werden. Denken Sie nur an die Abstimmung zwischen den Krankenhäusern im Katastrophenfall, bei den Feuerwehren oder bei der Besorgung von krisenrelevanten Arzneien und Produkten.

Dennoch muss man auch noch eine geraume Zeit auf den „Old Fashion Bürger“ Rücksicht nehmen. Für viele ist der Gang zum Amt immer noch unverzichtbar.

Gerd Landsberg
Gerd Landsberg: „Es wird einen Digitalisierungsschub geben. Auch bei den kommunalen Gebietskörperschaften.” Foto: Patrick Gawandtka

Erwarten Sie eine Sternstunde der vieldiskutierten EU-weit vereinheitlichten Datenschutzgrundverordnung? Also ein „Europa – mit Sicherheit!", oder wird sich angesichts der Begleitumstände der Corona-Pandemie und des Zeitdrucks doch eher „Digitalisierung first – Bedenken second“ durchsetzen?

Ich sehe den Konflikt zwischen Sicherheit und technischer Möglichkeit. Als Anhänger einer möglichst liberalen Demokratie möchte ich auch nicht, dass der technische Fortschritt mit Einbußen an der Freiheit der Person einhergeht.

Etwas anderes ist es aber, wenn Daten, die sich Aktivitäten der Menschen stützen, anonym erfasst werden. Es kann durchaus für die Kommunen und die Wirtschaft wichtig und interessant sein zu wissen, wie oft und lange Menschen zu welchen Zeiten den ÖPNV nutzen oder welche Verkehrsströme bei großen Veranstaltungen zu erwarten sind.

Wir erleben zurzeit sehr viel entschlossenes nationalstaatliches Handeln. Leider gesellen sich mitunter auch Abschottungstendenzen und Nationalismen hinzu. Bereitet Ihnen das Sorgen?

Falls Sie auf die Zurückhaltung des Exportes von medizinischem Gerät und die Sperrung der Grenzen zwecks Seuchenschutz anspielen, so waren dies sicherlich reflexartige Rückgriffe auf alte schlechte Zeiten.

Auch hat es verbal einige weitere unschöne Szenen an den Grenzen gegeben. Aber das alles war nicht nur national bedingt. Es gab auch regionalintern Abschottungstendenzen. Um klar zu sein: Das Geschehene ist nicht hinnehmbar und viele Kommunalpolitiker sind auch schon dagegen angegangen. Wir müssen geistig offen bleiben.

Ich halte es hier mit Otto von Bismarck, der zu seinem Kaiser sagte: „Mein Patriotismus hört bei französischem Champagner auf.“ Und um trotz aller Probleme eines deutlich zu sagen: Wir brauchen Europa, mehr denn je! Die EU muss an dieser Krise wachsen. Das ist eine Aufgabe und Pflicht der politischen Führung.

In Ihrem kommunalen Appell zur Amtsaufnahme der neuen EU-Kommission Ende 2019 haben Sie nicht weniger als einen „Neustart für Europa" und ein starkes „europäisches Bewusstsein" gefordert. Wie entdecken wir das in diesen Tagen wieder - und welchen Beitrag können gerade die Kommunen leisten?

Der DStGB war immer einer der ersten, wenn es darum ging, Europa in das Rampenlicht zu rücken. Aus dieser proeuropäischen Haltung leiten wir „Anspruch und Kritik“ ab. Und ja, wir verkörpern ein „europäisches Bewusstsein“ und können deshalb auch einen „Neustart von Europa“ fordern, denn dieser großartige Gedanke ist in Gefahr.

Der Neustart muss meines Erachtens drei Dinge beinhalten:

  • Er muss endlich die Stabilisierung der staatlichen nationalen und europäischen Finanzen in Angriff nehmen.
  • Er muss ferner eine europäisch funktionierende Lösung des Migrationsproblems installieren und
  • er muss praktische, volkswirtschaftlich lösbare Antworten auf die Klimafrage geben.

Und nicht zuletzt zeigt die Pandemie, wie wichtig gemeinsame Politiken und Strategien sind! Dabei müssen die Europäischen Lösungen oft im Auge haben, dass sie dann am besten sind, wenn sie das Subsidiaritätsprinzip beachten.

Mit den Kommunen fangen viele Lösungen an. Erst wenn sie nicht mehr weiter können, folgt die nächsthöhere Ebene. Rein praktisch heißt das für die EU: Nehmt die Kommunen stärker in die Beratungsebene mit auf. Sie werden Euch sagen, wann die nächste Ebene eingreifen muss.

Eines kommt noch hinzu: Die kommunale Seite darf nicht überfordert werden. Was nutzen hohe europäische Grenzwerte, z. B. im Wasserbereich, wenn die lokale Ebene aus finanziellen oder systemischen Gründen nicht in der Lage ist, die Einhaltung zu garantieren.

Sie treten für ein Modell des partnerschaftlichen Zusammenwirkens aller demokratisch legitimierten Ebenen in Europa ein. Wie realistisch ist diese Idealvorstellung zurzeit - und wo sehen Sie hier den nächsten Schritt?

Grundsätzlich arbeiten die europäischen Kommunen schon im Rahmen des europäischen Rates der Gemeinden und Regionen Europas (RGRE) zusammen. Der RGRE vertritt diese Interessen gegenüber den Organen der EU – und zwar schon sehr lange.

Zudem existiert der Ausschuss der Regionen, der als Institution der EU kommunale Vertreter, auch deutsche, in seinen Reihen hat und die EU-Kommission und das Europäische Parlament offiziell berät. Insofern arbeiten die europäischen Kommunen schon lange zusammen und vertreten ihre Interessen in Europa.

Ohne die Kommunen ist in Europa kein Staat zu machen. Auch das zeigt uns die Krise. Europäischer Bürgersinn, europäisches Miteinander und Gemeinschaftsbewusstsein, da ist noch viel zu tun. Am besten kann das gemeinsame Europa von der Basis, von den Gemeinden aus wachsen.

Das Interview fand Ende April 2020 statt und wurde von Philipp Lerch, Landesbeauftragter und Leiter Politisches Bildungsforum Rheinland-Pfalz, geführt. Zuerst erschienen ist das Interview in der „Europawoche 2020“ der Konrad-Adenauer-Stiftung. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Konrad-Adenauer-Stiftung Deutschland.

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