Mosler-Törnström im Gespräch mit KOMMUNAL
Gudrun Mosler-Törnström: „Bei einer Privatisierung der Daseinsvorsorge ist die Gefahr groß, dass ländliche Regionen langfristig zu den Verlierern zählen. Am Ende sind es die Gemeinden, die mit den Problemen fertig werden müssen.“

"Europa ist der Rahmen, der alles zusammenhält"

27. Januar 2017
Als erste Frau wurde die Salzburger Landtagspräsidentin Gudrun Mosler-Törnström zur Präsidentin des Kongresses der Gemeinden und Regionen des Europarates mit Sitz in Straßburg bestellt. Was ihre Ziele für die kommenden Jahre sind, wie sie die Situation der Gemeinden sieht, verrät sie im KOMMUNAL-Gespräch.

Sie waren von 2014 bis 2016 Präsidentin der Länderkammer im Kongress der Gemeinden und Regionen und sind im letzten Oktober als erste Frau überhaupt zur Präsidentin gewählt worden. Was sind Ihre Ziele in dieser Funktion?



Den Bekanntheitsgrad des Kongresses unter den politischen Entscheidungsträgern und Gemeindeverantwortlichen stärken. Wir sind das Sprachrohr für die Gemeinden und Regionen Europas und das ist teilweise noch viel zu wenig bekannt.



Ein weiteres Ziel ist es, die Einhaltung der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung von den Mitgliedsstaaten des Europarates einzufordern.



Außerdem will ich unsere Gemeinden und Regionen weiterhin mit dem großen Know-how unterstützen, das wir durch die Anzahl der Mitgliedsstaaten, nämlich 47, haben. Die Bewältigung von aktuellen Herausforderungen wie Integration von Flüchtlingen und Immigranten, Korruptionsbekämpfung, Radikalisierung und gewalttätiger Extremismus sind nur einige Beispiele unseres vielfältigen Aufgabengebietes.



Der Frauenanteil in den politischen Institutionen ist europaweit immer wieder ein Thema. Glauben Sie, dass mit Ihrer Wahl in diese Position ein Zeitenwechsel eingesetzt hat?



Der Kongress hat bereits sehr früh einen Wechsel eingeleitet. Wir haben schon vor Jahren für alle Delegationen eine verpflichtende Quote von 30 % für das unterrepräsentierte Geschlecht festgesetzt. Sowohl bei den Vollmitgliedern, als auch bei den Ersatzmitgliedern. Damit hatten manche Delegationen Schwierigkeiten, mittlerweile wird das voll respektiert. Die erstmalige Wahl einer Frau zur Präsidentin ist ein wichtiges Signal in der 60jährigen Geschichte des Kongresses.



Hat die österreichische Delegation diese Quote erfüllt?



2016 wurden alle Delegationen für die nächsten vier Jahre erneuert. Die österreichische Delegation erfüllt die Quote. Von 12 Mitgliedern (sechs Hauptmitglieder, sechs Ersatzmitglieder) sind bei den Vollmitgliedern drei weiblich und drei männlich. Bei den Ersatzmitgliedern sind zwei weiblich und vier männlich. Bisher war es innerhalb der österreichischen Delegation so, dass die Frauen sowohl bei den Vollmitgliedern als auch bei den Ersatzmitgliedern das unterrepräsentierte Geschlecht darstellten. Derzeit haben wir bei den Vollmitgliedern erstmals eine Quote von 50/50, das ist ein Fortschritt.



Können andere Länder diese Probleme lösen?



Ja, sobald sie merken, dass ihr Delegationsvorschlag vom Kongress nicht akzeptiert wird, gibt es plötzlich immer wieder einen Weg. Der Kongress ist dabei sehr streng und entscheidet nach genauer Prüfung über die Annahme. Neben der Gender-Quote sind noch Kriterien der politischen Vertretung, auf Basis der Wahlergebnisse, und der regionalen Ausgewogenheit entscheidend dafür, ob der Vorschlag angenommen wird.



Der Europarat sitzt in Straßburg. Jetzt gibt es immer wieder Initiativen, die die europäischen Institutionen in Brüssel konzentrieren wollen. Wie stehen Sie dazu?



Der Europarat war und ist mit Straßburg verbunden. Daran soll sich nichts ändern. Was das EU-Parlament betrifft, ist das keine Angelegenheit, die der Kongress beeinflussen kann. Meine persönliche Meinung dazu ist, dass der ständige Wechsel des EU-Parlaments zwischen Brüssel und Straßburg finanzielle und zeitliche Ressourcen beansprucht, die besser genutzt werden könnten. Aber bisher konnte keine Einstimmigkeit über die Verlegung des Sitzungsortes erzielt werden.



Sie kommen aus Österreich und aus Salzburg, also aus einem sehr föderalen System. Ist es da nicht prinzipiell besser, man teilt die Institutionen auf? Das ist ja eine Diskussion, die auch immer wieder in Österreich stattfindet, wo über 90 Prozent der Institutionen des Bundes in Wien sitzen, die durchaus auch in Graz, Salzburg oder Linz ihren Sitz haben könnten.



In der Frage der Dezentralisierung der Institutionen kann ich nur zustimmen, dass eine Aufteilung in vielen Fällen möglich und auch sinnvoll wäre. Auch die EU praktiziert das und hat viele ihrer Agenturen in den Mitgliedsstaaten angesiedelt. Zum Beispiel die Grundrechteagentur in Wien, die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit in Parma oder die Europäische Zentralbank in Frankfurt. Eine konstruktive Diskussion und die mögliche Umsetzung einer Aufteilung von Bundesinstitutionen in die Länder und von Landesinstitutionen in die Bezirke sehe ich daher positiv.



Sie waren fünf Jahre lang im Gemeinderat in ihrem Heimatort Puch bei Hallein. Ihr politisches Motto: Politik für und mit Menschen. Wie lässt sich das auf europäischer Ebene überhaupt umsetzen? Ist man da nicht fast schon ein bisschen zu weit weg von den Menschen?



Erstens, ich bin Landespolitikerin und fest verankert in der Gemeinde- und Landespolitik. Nur mit einem aktiven Gemeinde- oder Landtagsmandat ist es möglich ein Kongressmitglied zu sein. Das ist das besondere Plus. Wir sind eine Plattform des Dialogs, des Meinungs- und Informationsaustausches. Wir holen und geben Ideen. Das ist nur möglich, wenn wir zuhause aktiv Politik machen. Wir wissen was in unseren Gemeinden und Regionen geschieht, wo die Probleme liegen, wo der Schuh drückt, eben weil wir ganz nah bei den Menschen sind.



Das heißt, die Best-Practice-Beispiele aus den einzelnen Regionen sind im Kongress ein wesentlicher Informationsstandard?



Absolut! Zusätzlich zu unseren Monitoring-Missionen und Wahlbeobachtungen, die Bestandteil unseres Mandates innerhalb des Europarates sind, entwickeln wir Instrumente mit denen unsere Gemeinden und Regionen bei der Bewältigung ihrer Herausforderungen unterstützt werden.



Was sind das für Instrumente, die sie für die Gemeinden bereitstellen?



Ein Beispiel von vielen: Die Gemeinden sind es, die an vorderster Front mit der Flüchtlingsfrage konfrontiert sind, von der Aufnahme bis zur Integration. Alle unsere Mitglieder sind davon betroffen. Wir haben uns daher gefragt, wie die unterschiedlichen Herangehensweisen aussehen und welche Lösungen es für die Probleme gibt. Wir haben dieses Material gesammelt, analysiert und mit unseren Mitgliedern und im Expertenkreis diskutiert. Das Ergebnis dieser Arbeit ist ein modular aufgebauter „Tool-Kit“, also ein Baukasten von Maßnahmen für Gemeinden und Städte, in dem bewährte Praktiken und Programme für Unterricht und Schule vorgestellt werden. Es geht aber auch um wissenschaftliche und juristische Ressourcen. Diese Toolbox gibt es in 36 Sprachen und sie kann unter www.coe.int/congress-intercultural heruntergeladen werden.



Ein anderer Ansatz sind die regelmäßigen Monitoring- Besuche in unseren Mitgliedsstaaten, bei denen wir die Umsetzung der Bestimmungen der Europäischen Charta für kommunale Selbstverwaltung prüfen. Die Ergebnisse werden in einem Bericht zusammengefasst und notwendige Verbesserungen in Form von Empfehlungen den Staaten ans Herz gelegt. Diese Empfehlungen sind aber auch wesentliche Hilfsinstrumente für Städte- und Gemeindeverbände, wenn es um die Durchsetzung berechtigter Forderungen gegenüber der Regierung geht. Österreich wurde 2010 einem Montoring unterzogen. Die Vorschläge betreffend die bessere soziale Absicherung von Bürgermeistern beim Ausscheiden aus ihrem Amt und die Vereinfachung der interkommunalen Zusammenarbeit wurden im Juli 2011 verfassungsrechtlich umgesetzt.



Die kommunale Ebene ist in Europa jene Ebene, die bei den Bürgern das höchste Vertrauen genießt. Auf europäischer Ebene mangelt es daran. Was könnten die europäischen Institutionen von den Gemeinden lernen?  



Die EU soll dort tätig werden, wo Sie Lösungskompetenz besitzt. Damit meine ich, dass sie nur solche Aufgaben übernehmen soll, die nicht von den Mitgliedsstaaten, den Ländern oder Gemeinden, gelöst werden können. Im Fachjargon spricht man vom sogenannten Subsidiaritätsprinzip. Allerdings vergessen wir oft, dass wir, also alle Mitgliedsstaaten zusammen, die EU sind. Gute Resultate, die aus der EU kommen, werden gerne als eigene Erfolge verkauft. Für alles was schief läuft, machen wir die EU verantwortlich.



Wichtig wäre es daher, Schulklassen nach Brüssel zu bringen, oder mit den europäischen Institutionen vertraut zu machen, damit die Kinder früh lernen, was die Union ist, und was dort passiert. Ist das etwas, was man Ihrer Meinung nach verstärken sollte?



Auf jeden Fall. Ich bin jetzt die vierte Regierungsperiode im Landtag. Wir haben bereits früher Schülerreisen nach Brüssel und Straßburg gefördert. Das führt auch die jetzige Landesregierung fort. Das persönliche Erleben schafft ein völlig anderes Europagefühl und oft Aha-Effekte. Ein Besuch vor Ort macht bewusst -Europa ist der Rahmen, der alles zusammenhält und zeigt anschaulich, was in Brüssel und Straßburg alles bewegt wird.



Eines Ihrer Anliegen ist die Stärkung der Regionen in einem starken Europa. Sie gehen offenbar davon aus, dass diese Gewichtung nicht wirklich gerecht ist?



Wir brauchen starke Regionen für ein starkes Europa. Da bin ich wieder bei der Subsidiarität. Wo können die Anliegen der Menschen am besten gelöst werden? – Auf jenen Ebenen, die ihnen am nächsten sind. Dazu brauchen wir eine klare Kompetenzverteilung und Vernetzung zwischen den politischen Ebenen – Europa, Nation, Länder, Gemeinden. Unser aller Ziel ist es doch, das Beste für die BürgerInnen zu erreichen. Eine starke Region hat Möglichkeiten, Zuständigkeiten und Eigenverantwortung. Was man unter Region versteht ist jedoch eine Definitionsfrage, die innerhalb unserer 47 Mitgliedsstaaten sehr unterschiedlich beantwortet wird. Eine Region im föderalen Österreich hat andere Voraussetzungen als zum Beispiel ein Kanton in der Schweiz oder eine Provinz in den Niederlanden.



Nehmen wir als Beispiel Nordtirol-Südtirol-Trentino. Diese bilden zusammen eine Region. Lösen solche Einteilungen nicht schleichend nationale Grenzen auf?



Ist es nicht das, was wir mit dem europäischen Gedanken immer verfolgt haben, nämlich ein Europa ohne Grenzen? Eine Einheit in der Vielfalt?



Wo dann das Burgenland mit Westungarn wahrscheinlich ähnlichere Interessen hat als zum Beispiel mit Salzburg, Bayern oder Tirol.



So ist es. Es kann eine kulturelle oder eine wirtschaftliche Region geben. Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Bayern und Salzburg im Rahmen von EuREGIO hat für beide Seiten nur Vorteile gebracht. Aktuell gibt es wieder Grenzkontrollen, was zu großen wirtschaftlichen Einbußen führt.



Die jüngsten Wahlen in Europa, ebenso wie die Präsidentenwahlen in den USA haben gezeigt, dass es eine immer deutlichere Bruchlinie zwischen Stadt und Land gibt. Es liegt nahe, dass das mit der Ausdünnung des ländlichen Raumes zu tun hat, aber auch der verstärkten Konzentration der Politik und der Wirtschaft auf die großen Städte und Ballungsräume. Was müsste man tun, um diese Bruchlinien wieder zu kitten?



Es geht um die Stärkung des ländlichen Lebensraumes der immer mehr „ausgehungert“ wird. Öffentlicher Verkehr, Gesundheitsversorgung, Post, Schulen, Arbeitsplätze, Nahversorger usw. Ich denke, dass wir bei Förderprogrammen, die wir in Salzburg zur Gemeindeentwicklung haben, auch die Chancen der Digitalisierung für den ländlichen Raum mehr berücksichtigen müssen. Aber das ist nicht nur ein österreichisches, sondern ein europäisches Problem. Der Kongress hat im Oktober 2016 seine Prioritäten 2017-2020 festgelegt. Wir haben dabei erstmals die Stärkung des ländlichen Raumes als eigenen Punkt in unser Arbeitsprogramm aufgenommen. Der Spardruck rechtfertigt nicht, Bereiche auf die Ballungsräume zu konzentrieren, das ist ein Riesenfehler.



Dann ist die öffentliche Hand aber in einer Doppelmühle drinnen. Einerseits muss sie schauen, dass die Politik sich auf ihr Kerngeschäft konzentriert, und alle Nicht-Kerngeschäfte von Professionellen besser gemacht werden können. Andererseits wird die öffentliche Hand an den Pranger gestellt, wenn sie in „nicht rentable“ Gebiete investiert.



Was ist denn das Kerngeschäft der Politik? Dass die Menschen Rahmenbedingungen haben, die ihnen ein lebenswertes Leben ermöglichen. Dazu gehört maßgeblich die Daseinsvorsorge, die nicht immer zu den „rentablen“ Gebieten zählt. So sind zum Beispiel die Energie- und Gesundheitsversorgung oder der öffentliche Verkehr in dünn besiedelten Gebieten keine Profitbringer, aber essentiell für den Lebensraum. Bei einer Privatisierung dieser Bereiche ist die Gefahr groß, dass die ländlichen Regionen langfristig zu den Verlierern zählen. Am Ende sind es die Gemeinden, die mit den Problemen fertig werden müssen. Im Kongress analysieren wir in Zwei-Jahresperioden die Empfehlungen unserer Monitoring-Berichte in den sogenannten „häufig wiederkehrenden Problemen“. Eine traurige Spitzenposition nimmt dabei die Tatsache der zunehmenden Aufgaben der Gemeinden bei gleichzeitig schrumpfenden Budgets ein.



Ist das in allen Gemeinden in Europa so, oder ist das ein österreichisches Problem?



Es ist ein europäisches Problem. Seit der Finanzkrise hat sich dieses Problem verschärft.



Haben die Gemeinden eine Chance das zu ändern?



Ich denke schon und dabei spielen die kommunalen Spitzenverbände eine wesentliche Rolle. Sie sind das Sprachrohr der Städte und Gemeinden gegenüber dem Gesetzgeber. Die europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung kann dabei eine wesentliche Hilfe sein. Ich kann nicht oft genug wiederholen, dass ein demokratischer Staat nur funktioniert, wenn die Gemeinden und Regionen, die am nächsten beim Bürger sind, aktiv in die nationalen politischen Arbeiten und Entscheidungen mit einbezogen werden.