Kurz noch als Außenminister auf einem Redepodest
Moderatorin Vera Russwurm beim Gespräch mit Außenminister Sebastian Kurz. Foto: BMeiA/Dragan Tatic

Europa zu erklären ist nicht einfach

4. März 2016
„Gerade in so schwierigen politischen Zeiten ist es wichtig, dass Europa auf der Gemeindeebene starke Wurzeln bildet. Die EU-Gemeinderäte haben hier eine ganz wichtige Funktion.“ Das waren die Kernsätze bei der 4. Generalversammlung der EU-Gemeinderäte und EU-Gemeinderätinnen in Wien.

Der Marmorsaal im Außenministerium, in dem bislang immer die Veranstaltungen der EU-Gemeinderäte stattgefunden haben, wäre aus allen Nähten geplatzt. Schon deshalb musste die 4. Generalversammlung in den Prunksaal des Palais Niederösterreich „um die Ecke“ ausweichen. Dass die gemeinsame Initiative des Gemeindebundes, des Außenministeriums und der Vertretung der europäischen Kommission in Wien im Jahr 2016 mehr als 800 Aktive in den Gemeinden haben würde, hätten sich bei Start 2010 nicht mal die größten Optimisten gedacht. Gleichwohl war das vorrangige Ziel immer, einen Europagemeinderat, eine Europagemeinderätin in jeder Gemeinde zu haben.



Bindeglied zwischen der Bevölkerung und der Politik



„Die Gemeinderäte sind das stärkste Bindeglied zwischen der Bevölkerung und der Politik“, sagte Gemeindebund-Präsident Helmut Mödlhammer bei seiner Eröffnungsrede. Neben dem Gemeindebund-Chef und Außenminister Sebastian Kurz waren auch Rupert Dworak, Vizepräsident des Gemeindebundes und Vorsitzender des Europaausschusses des Gemeindebundes sowie mehr als 300 Gemeinderäte aus Österreich und – ein freudig registriertes Novum – auch eine Gruppe EU-Gemeinderäte aus Südtirol anwesend.



„Vielen Menschen wird erst jetzt bewusst, in welcher komfortablen Lage wir bislang gelebt haben, bei offenen Grenzen, freiem Warenverkehr, freiem Geldverkehr, persönlicher Reisefreiheit, usw. Ein erneutes Hochziehen nationaler Grenzen kann mit Sicherheit keine dauerhafte Lösung sein. Europa steht hier vor einer Bewährungsprobe. Es gibt keinen anderen Weg, als diese Aufgaben gemeinsam auf europäischer Ebene zu lösen. Alle Mitgliedsstaaten haben hier eine Mitverantwortung, niemand kann sich entziehen oder wegducken und hoffen, dass sich das Flüchtlingsthema von alleine löst, wenn man es lange genug ignoriert“, so Mödlhammer weiter.

Kurz: "Brexit ist schlecht für Europa."



Außenminister Sebastian Kurz präzisierte dann die „größere“ Sicht und sprach einige der viel diskutierten Themen an. Vor allem die Themen Kindergeld, Großbritanniens “Extrawürscht‘“ und Asyl erregten die Gemüter. „Es muss uns klar sein, dass österreichisches Kindergeld für beispielsweise rumänische Verhältnisse einen durchschnittlichen Monatslohn bedeutet. Ein extremer Anreiz für die Menschen dort, bei uns arbeiten zu wollen. Und deswegen muss es auch unser Recht sein, das Kindergeld an das jeweilige nationale Niveau anzupassen. Sozialleistungen gehören zu den Punkten, wo der britische Premier Cameron für Großbritannien Sonderregelungen ausgehandelt hat und mit dem ich auch gut leben kann.“ Im Übrigen war der Minister der Überzeugung, dass ein Brexit für Europa ganz schlecht sei. „Wir brauchen die britische Sicht der Dinge auch in Zukunft, wir brauchen das britische Engagement, ihre Leidenschaft.“



Was das Thema Asyl betraf, wiederholte Kurz die Argumente, die zu den Grenzschließungen geführt hatten. „Der griechische Zugang, nämlich Flüchtling für maximal 24 Stunden in Griechenland zu haben und dann Richtung Europa zu schicken, kann nicht funktionieren und muss uns das Recht geben, unsere Grenzen zu schließen.“ Das passiere derzeit überall in Europa, nicht nur auf der Balkanroute. Europas Hauptziel müsse es bleiben, in den Herkunftsländern der Flüchtlinge zu helfen. „Mit dem Geld, mit dem die Versorgung und Unterbringung der Asylwerber in Österreich 2015 bezahlt wurde, hätten wir im Libanon fast 20mal so vielen Menschen helfen können“, rechnete Kurz vor, der auch erneut auf eine europäische Lösung der Frage drängte – mit einer Verteilung der Flüchtlinge auf alle Mitglieder der Union.

Diskussion über Migration, Eurokrise und TTIP



Migration, die Eurokrise, TTIP und Lebensmittelsicherheit standen dann bei der anschließend rund einstündigen Diskussion vor über 300 Europa-Gemeinderäten im Mittelpunkt der Paneldiskussion mit Berndt Körner, FRONTEX, Antonia Ida Grafl, Bundesministerium für Finanzen, Gabriela Habermayer, Bundesministerium für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft und Herbert Dorfmann, Mitglied des Europäischen Parlaments.



Körner schraubte die Erwartungen an FRONTEX stark herunter: "FRONTEX verfügt weder über eigene über eigene Streitkräfte, noch kann die Organisation von sich aus einschreiten. Wir können derzeit nur auf Anfrage der Staaten mithelfen." FRONTEX unterstützt aber nicht nur bei der Grenzsicherung, sondern auch bei Rückführung, wo 2015 um 64 Prozent mehr Flüge verzeichnet wurden. Es gibt aber Pläne, dass FRONTEX künftig mehr Kompetenzen erhält, verrät Körner den anwesenden EU-Gemeinderäten: "Auf europäischer Ebene laufen derzeit intensive Gespräche, das Mandat für FRONTEX auf den Einsatz an der Seegrenze zu erweitern. Es soll mehr Möglichkeiten bei der Rückführung der abgelehnten Asylwerber aus Nordafrika beispielsweise geben. FRONTEX soll künftig bei Krisen auch von sich aus tätig werden können." Die Umsetzung dieser Pläne wird derzeit vom niederländischen Ratsvorsitz stark vorangetrieben, weswegen es bereits im späten Frühjahr bzw. Sommer soweit sein dürfte. Noch eine gute Nachricht: Der Aufbau der Hotspots in Griechenland steht nun kurz vor dem Abschluss, anschließend kann die koordinierte Registrierung der Flüchtlinge aufgenommen werden.



Positives hatte Antonia Grafl auch von der Eurokrise zu berichten: "Irland und Spanien haben die Finanzkrise gut genutzt und wachsen nun schneller als der europäische Durchschnitt. Sie entwickeln sich derzeit besser als Länder, die keine Finanzhilfe gebraucht haben. Das zeigt auch, dass die gesetzten Maßnahmen gewirkt haben und die EU-Länder durchaus in der Lage sind, große Krisen zu bewältigen. Die Mitgliedsländer sollten zu ihrer Entschlossenheit, die sie in der Bewältigung der Finanzkrise gezeigt haben, zurückfinden."



Das umstrittene Thema TTIP nahm jedoch den Großteil der Diskussion ein, vor allem, weil auch die EU-Gemeinderäte die Chance nutzten, ihre Fragen an die Experten zu richten. Gabriela Habermayer versuchte dabei die Ängste so gut wie möglich zu nehmen. "Die existierenden Regeln in Europa und den USA werden anerkannt. Da braucht niemand befürchten, dass aufeinmal unsere Standards nicht mehr gelten. Aber es müssen europäische Standards und keine nationalen sein", räumte sie ein. Herbert Dorfmann, der als Experte zum Thema Lebensmittelsicherheit am Podium saß, brachte die Chlorhuhn-Diskussion auf den Punkt: "Man muss zwischen Qualität und Lebensmittelsicherheit unterscheiden. Bei Lebensmittelsicherheit geht es um nachprüfbare Fakten. Weder die Bürger in Europa noch in den USA wollen mit Bakterien verseuchtes Fleisch essen, nur der Zugang ist ein anderer. Während wir unsere Hühner schon in ihrer Lebenszeit mit Antibiothika vollstopfen, desinfizieren die Amerikaner ihre Hühner, wenn sie tot sind, mit Chlor. Das Ziel ist das gleiche: Man will bakterienverseuchtes Fleisch verhindern."



In Sachen Investitionsschutz erklärte Habermann außerdem, dass dies ursprünglich initiiert wurde, um die Investitionen der europäischen Konzerne in nicht so sicheren Ländern abzusichern. Derzeit wird aber gerade ein neues Konzept mit einem Gerichtshof ausgearbeitet, das zum Ziel hat, ein transparentes Verfahren mit unabhängigen Richtern zu garantieren. Dieses neue Konzept soll sowohl für TTIP aber auch für weitere Handelsabkommen zum Maßstab werden.



Im Rahmen von Workshops zu den Themen "Europa wirkungsvoll kommunizieren", "Die Gemeinden und die EU" und "Integration - Erfahrungen in den österreichischen Gemeinden" konnten die Teilnehmer weiter diskutieren und ihr Wissen vertiefen.