Parlament 1918
Die Menschenmenge während der Proklamierung der Republik vor dem Parlament am 12. November 1918.
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Die unterschätzten Republiken

An der Wiege der wenig geliebten Republik „Deutschösterreich“ stand 1918 auch ein Bürgermeister: Es war dies der Linzer Gemeindechef Franz Dinghofer, dessen Unterschrift sich unter dem „Gesetz über die Staats- und Regierungsform der Republik Deutschösterreich“ findet. Überhaupt waren es die Bürgermeister und die Kommunalverwaltungen, die den Menschen in den wilden Zeiten des Umbruchs, der Geburt und später der Wiedergeburt der „Republik Österreich“ Kontinuität gaben – und bis heute geben!

„Die Grundfeste des freien Staates ist die freie Gemeinde.“ Nie war dieser Satz mehr berechtigt als 1918 und in den folgenden turbulenten Jahren. Denn während auf Bundesebene unmittelbar nach – oder besser gesagt schon mit – der Ausrufung der Republik die Differenzen zwischen den Christlichsozialen und den Sozialdemokraten zutage traten, funktionierte die Verwaltung auf den unteren Ebenen des Staates weiter. Mit den Mitteln, die nach dem verlorenen Krieg zur Verfügung standen, sorgten tausende Bürgermeister dafür, dass das Leben in den Gemeinden weiterging.

Dinghofer
Der deutschnationale Bürgermeister von Linz, Franz Dinghofer, war neben dem Sozialdemokraten Karl Seitz und dem christlich-sozialen Jodok Fink Präsident der Provisorischen Nationalversammlung für Deutschösterreich.

Die Geburtsstunde der Republik verlief nicht unblutig 

Nicht am 12. November, sondern schon am 30. Oktober 1918 schlug die Geburtsstunde der Republik, als die Abgeordneten der Nationalversammlung vom Balkon des Landhauses in der Herrengasse die Gründung des neuen Staates verkündeten. Aber erst mit dem Gesetz vom 12. November war man sich wirklich einig, dass der neue Staat Deutschösterreich eine Republik sein wurde. Gleichzeitig hatte man den Anschluss an die ebenfalls neu entstandene Deutsche Republik beschlossen.

Im Grunde war man sich erst jetzt, mit dem Verzicht Kaiser Karls auf dessen „Anteilnahme an den Staatsgeschäften“, sicher, dass der Kaiser der Entwicklung nicht im Wege stehen wurde.

Tumulte gleich zu Beginn 

Zunächst ging alles noch „geschäftsmäßig“ ab. Man einigte sich auf die rot-weiß-roten Farben für Fahne und Bindenschild. Aber bald machte sich Unruhe in der Menge vor dem Parlament breit. Ein Transparent wurde sichtbar. „Hoch die sozialistische Republik Österreich“ stand darauf zu lesen. Das aber verbanden viele mit einer Raterepublik nach sowjetischem Muster. Und vor dem Parlament zogen bewaffnete Formationen auf, die „Rote Garde“, Deutschmeister, eine Formation aus Ottakring und eine aus Heimkehrern gebildete.

Nach der Verkündung der Republik stürmten Mitglieder der Roten Garde vor und rissen den weisen Streifen aus der Fahne und hissten so eine „rote“ Fahne vor dem Parlament. Als aus Sicherheitsgründen die schweren Jalousien des Parlaments „knatternd“ heruntergelassen wurden, glaubten einige an Schüsse und erwiderten das Feuer. Mehrere Menschen wurden verwundet, und in der folgenden tumultartigen Panik kamen zwei Schaulustige ums Leben – die ersten Toten der Republik.

„Aber es war keine Revolution“, wie Hugo Portisch in seinem Standardwerk „Österreich I“ schrieb. Denn, „als sich Karl Seitz den Gardisten in den Weg stellt, glauben diese seiner ehrenwörtlichen Versicherung, dass es keine Waffen im Parlament gibt, und biwakieren schlussendlich in der Säulenhalle“. Zu weiteren Konfrontationen kam es nicht mehr.

Österreichs Erste Republik 

Im Vertrag von Saint-Germain wurde 1919 der Staatsname „Republik Österreich“ vorgeschrieben und der laut Verfassung vorgesehene Beitritt zur neuen Deutschen Republik durch die Verpflichtung zur Unabhängigkeit verhindert. Dieses „Anschlussverbot“ war außerdem durch Artikel 80 des Versailler Vertrags bewirkt, der das Deutsche Reich zur Achtung der Unabhängigkeit Österreichs verpflichtete.

Einige Gebiete, in denen die Mehrheit der Bevölkerung Deutsch sprach, durften zudem wegen des entgegenstehenden Willens der Siegermächte nicht zu Österreich gelangen. Der Kärntner Abwehrkampf gegen die Truppen des Königreichs SHS (Jugoslawien) mobilisierte hingegen die internationale Öffentlichkeit und führte zur Volksabstimmung in Südkärnten am 10. Oktober 1920, die eindeutig für die Zugehörigkeit des Abstimmungsgebiets südlich der Drau zur Republik Österreich ausging.

Deutsch-Österreich
Zunächst dachte man, dass Südtirol und die sudetendeutschen Gebiete Teil des neuen Staates sein würden. Das heutige Burgenland war dafür noch bei Ungarn.

Am 21. Oktober 1919, als der Friedensvertrag in Kraft trat, wurde der Name in „Republik Österreich“ geändert und 1920 das neue österreichische Bundesverfassungsgesetz (B-VG) beschlossen, in dem unter anderem Wien als eigenes Bundesland definiert wird.

Erstmals Wahlrecht für Frauen 

Beide Republiken waren von Anfang an für die damalige Zeit fortschrittlich, so waren seit der Einführung des Frauenwahlrechts 1918 erstmals auch alle Frauen wahlberechtigt. Und in den Koalitionsregierungen 1918 bis 1920 entstanden bedeutende Sozialgesetze (etwa die Schaffung der Arbeiterkammer als gesetzliche Interessensvertretung der Arbeiter und Angestellten, der Acht-Stunden-Tag und die Sozialversicherung).

Bürgerkrieg und Untergang 

Die junge Republik Österreich befand sich aber von Anfang an auch unter großem Druck. Nicht nur standen sich die beiden groben Lager unversöhnlich gegenüber, auch die Wirtschaft musste sich erst auf die neuen Verhältnisse einstellen – die gewohnten Wirtschafts-, Handels- und Ressourcengebiete der früheren Monarchie waren plötzlich nicht mehr zuganglich, eine unglaubliche Verelendung der Massen nach dem Krieg herrschte. Man denke nur an die große Zahl der Kinder, die aufgrund dramatischer Unterernährung an irreparablen Rückgratverkrümmungen litten.

Was Gemeinden in dieser Zeit leisteten, grenzt an Übermenschliches (siehe auch Beitrag von Gregor Gatscher-Riedl auf Seite 20). 1927 brachte, wie der Historiker Erich Zollner schreibt, „eine schwere Krise der österreichischen Demokratie, von der sie sich nicht mehr erholen konnte“. Mit Krise meint er den „Zusammenstoß“ von Schattendorf, der in den Augen vieler Morde waren. Die Freisprüche der Täter mundeten in den Brand des Justizpalastes mit schweren Tumulten und 90 Toten. Der große Börsencrash von 1929 gab der Ersten Republik dann sozusagen den Rest.

Das Ende der Ersten Republik 

Mit der Ausschaltung des Parlaments und der Errichtung des sogenannten „Ständestaates“ verstieß „die Regierung Dollfuß ausgiebigst gegen den Geist der österreichischen Verfassung und büßte auch stark an Autorität ein“ (Zollner, Seite 512).

Im Februar 1934 kam es dann zur langst erwarteten offenen und blutigen Auseinandersetzung zwischen der Regierung und der Sozialdemokratie. Und an den Wunden, die der „Ständestaat“ und der Bürgerkrieg schlugen, laborierte die Politik heute noch – jedenfalls konnte man diesen Eindruck bekommen, wenn man des von Zeit zu Zeit aufflackernden Streits denkt.

Nach 1934 ging es immer schnelleren Schrittes dem Untergang, der eigenen Auflösung entgegen. Im Marz 1938 war es dann soweit: Als die Nationalsozialisten praktisch ohne Widerstand in Österreich einmarschierten, war die Erste Republik nun wirklich Geschichte. Was danach kam, ist bekannt – aber auch Teil der Geschichte Österreichs: Die Grauel der Judenverfolgungen und die Ermordung zahlloser Andersdenkender, die Deportationen, die Konzentrationslager auf österreichischem Boden, die Zerstörungen durch den Krieg selbst und die Verbrechen im Krieg, begangen auch von Österreichern, sind Dinge, die niemals in Vergessenheit geraten sollten.

Befreiung und Wiedererstehung 1945 

Mit der Niederlage des Großdeutschen Reichs und der Wiedererstehung der Republik Österreich begann ein neues Kapitel der Republik. KOMMUNAL hat diesen Teil der Geschichte 2005 in einer 136 Seiten starken Sonderausgabe ausgiebig beleuchtet.

Die Leistungen, die die Gemeinden 1945 und den Folgejahren bis zur Befreiung 1955 meisterten, brauchen sich vor denen des Jahres 1918 nicht zu verstecken. Und auch diesmal ist der Satz berechtigt, dass die Wiedergeburt Österreichs in den Gemeinden stattfand. Karl Renner, der 1945 an der Spitze des Staates stand, wusste um die Fehler von 1918 und trachtete danach sie zu vermeiden. Die Schaffung der Sozialpartnerschaft war eines der Werkzeuge, die es ermöglichte, den Aufbau nach dem Krieg ohne die Spannungen der Ersten Republik zwischen den politischen Lagern zu leisten. Nur so konnte es gelingen, dass Österreich sich zu einem der prosperierendensten und friedlichsten Staaten der Welt entwickeln konnte.

Aber es scheint, als ob allzu viel schon in Vergessenheit geraten ist. In so manchen „rhetorischen Ergüssen“ ist heute wieder das „Nur wir sind wichtig“ zu hören.

Es gibt einen Ausspruch, der da lautet: „Wer sich nicht an die Vergangenheit erinnern kann, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.“ Er stammt vermutlich vom amerikanischen Philosophen, Schriftsteller und Literaturkritiker George Santayana (1863-1952). Und dieser Ausspruch trifft zu, denn wer die Fehler seiner Vergangenheit nicht kennt oder verdrängt, muss sie wiederholen. Wir sollten aufpassen, dass uns und unserer Republik das nicht passiert.