Mann steckt Kopf in den Sand
Ähnliche Entwicklungen wie die Gelbwesten in Frankreich finden sich, in unterschiedlicher Ausprägung, in der gesamten westlichen Welt. Und meist werden die Proteste der Menschen vor allem von der politischen Elite nicht wirklich ernst genommen.
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Die Ignoranz der Politik spaltet das Land

Die Politik muss heute ehrlich und ernsthaft die Grundlagen für die Entwicklung des ländlichen Raumes sichern. Vor allem auch im Interesse des urbanen Raumes, denn nur mit einem gedeihlichen Miteinander und gleichwertigen Lebensverhältnissen können wir die Spaltung der Gesellschaft verhindern und den sozialen Frieden sichern.

Die Revolte der Gelbwesten in Frankreich scheint auf den ersten Blick wie ein Phänomen, das aus dem Nichts aufgetaucht ist und alle überrascht hat. Allen voran den französischen Präsidenten. Dem ist jedoch nicht so.

Die Überraschung liegt allein im Knall, wenn der schon lange überspannnte Bogen endgültig bricht. Frankreich hat diese Entwicklung einfach übersehen – oder aber einfach nicht sehen wollen. Seinen überbordenden Zentralstaat, das Ausdünnen des ländlichen Raumes und das dramatische Auseinanderdriften der Gesellschaft – und steht nun vor schwierigen Konsequenzen.

Ähnliche Entwicklungen finden sich, in unterschiedlicher Ausprägung, in der gesamten westlichen Welt. Und meist werden sie vor allem von der politischen Elite nicht wirklich ernst genommen.

Spaltung zwischen urbanen Metropolen und dem Rest des Landes

Der britische Ökonom Paul Collier beschreibt in seinem neuen Buch „Sozialer Kapitalismus“ die Situation sehr klar, den Frust der Menschen auf dem Land und in den Provinzstädten und den Hochmut der gebildeten Eliten und politischen Entscheider in den Metropolen. Für ihn ist nicht mehr der Unterschied zwischen Arm und Reich die zentrale gesellschaftspolitische Agenda, sondern eine unübersehbare Spaltung zwischen urbanen Metropolen und dem Rest des Landes, zwischen den meist städtischen Eliten und dem Rest der Bevölkerung. Er ortet eine Kluft zwischen dem ländlichen Raum und den urbanen Zentren und boomenden Städten. 

Riss zwischen den Hochgebildeten und den weniger Gebildeten

Einen zweiten Riss identifiziert Collier zwischen den Hochgebildeten und den weniger Gebildeten. Zwei Entwicklungen, die sich überlagern. Denn in den Städten leben überproportional sehr gut Gebildete, weil ihnen hier auch alle Möglichkeiten, Infrastrukturen und vor allem adäquate Arbeitsplätze und Karrieremöglichkeiten geboten werden, mit denen sie erfolgreich sein können, während den Menschen auf dem Land und in den kleinen Provinzstädten diese Möglichkeiten nicht zur Verfügung stehen. Sie fühlen sich abgehängt, nicht ernst genommen und ohne große Zukunftschancen.

Brexit ist ein Aufschrei der wütenden Gesellschaft

So führt er auch den Brexit auf diese Entwicklung zurück. In dem historisch elitären Königreich wurden die Lebensrealitäten der abgehängten ruralen Regionen und Menschen nicht beachtet und jahrzehntelang vernachlässigt. Ihre Situation hat nicht wirklich mit der EU zu tun. Aber die EU wurde über Jahrzehnte als Sündenbock missbraucht und die tatsächlichen Probleme wurden nicht angegangen.

Der Brexit ist auch ein Aufschrei dieser wütenden Gesellschaft, welche nun in der Geiselhaft einer populistischen Elite von nostalgisch Rückwärtsgewandten gehalten wird, die tatsächlich glauben, das britische Empire in einer neuen Form wieder erstehen zu lassen, während Probleme wie ein extrem ungleiches Bildungssystem, fehlende Infrastruktur auf dem Land, ein marodes Gesundheitssystem sowie ein besorgniserregendes Auseinanderdriften der Gesellschaft tatsächlich auf der Zunge brennen und das Land spalten.

Produktive Beschäftigungsmöglichkeiten in den Provinzstädten als Lösung

Als eine zentrale Lösung sieht Paul Collier die Schaffung von produktiven Beschäftigungsmöglichkeiten in den Provinzstädten und im ländlichen Raum. Und er verweist darauf, dass der Wohlstand und die Ressourcen der Metropolen ja auch durch jahrzehntelange nationale öffentliche Anstrengungen und Steuergelder generiert wurden.

Es gilt nun dringend Ausgleich zu schaffen. Dabei geht es auch um gegenseitige Verpflichtungen und um die Verpflichtung des Staates gegenüber dem ländlichen Raum. Dazu bedarf es eines klaren politischen Bekenntnisses zur Entwicklung des ländlichen Raumes.

Auch die österreichische Politik erkennt die Zeichen nicht

Diese Analyse wird je nach Staat unterschiedlich zu gewichten sein, der Lösungsansatz gilt jedoch gleichermaßen auch für Österreich. So mag Österreich weniger zentralistisch und elitär ausgelegt sein, aber es scheint fast so, als ob die Politik in Wien und auch in den Bundesländern, ungeachtet dessen, was da draußen in der Welt passiert, die Zeichen nicht erkennt oder nicht erkennen will und auch in Österreich diese Entwicklung verschlafen wird.

Auch unsere Gesellschaft ist schon lange gespalten. Auch in weiten Teilen Österreichs herrschen Abwanderung und Perspektivenlosigkeit, während die urbanen Räume boomen und bis ins Jahr 2050 Einwohnerzuwächse bis zu 30 Prozent und mehr zu erwarten sind.

Es braucht ein Bekenntnis zur Sicherung der ländlichen Regionen 

Vor diesem Hintergrund brauchen wir von der Politik in Wien und in den betroffenen Bundesländern ein klares Bekenntnis und den nachhaltigen politischen Willen, die ländlichen Regionen zu sichern und zu entwickeln.

Tatsächlich scheint es jedoch so, dass vor allem in Wien, aber auch in den betroffenen Bundesländern das Problem und die Dringlichkeit dieser Entwicklung und die daraus resultierenden gesellschaftlichen Verwerfungen und Folgen nicht erkannt sind. Obwohl die Folgen dramatisch sind, steht dieses Thema nicht im Zentrum der österreichischen Politik – und das ist eigentlich fahrlässig und verantwortungslos.  

Es ist dies eine dramatische Entwicklung, die wir ernst nehmen müssen, wollen wir nicht dominante und unliebsame Verwerfungen, soziale Frustrationen und negative Veränderungen in unserer Gesellschaft zulassen. Vor diesem Hintergrund müssen wir daher die Entwicklung im ländlichen Raum ganz anders initiieren und unterstützen. 

Arbeitsplätze für den ländlichen Raum

Zentrales Thema ist die Schaffung von produktiven Beschäftigungsmöglichkeiten, wie sie Paul Collier fordert. Es geht um die Schaffung von Arbeitsplätzen in den regionalen Räumen und Provinzstädten.

Vor allem im ländlichen Raum gibt es nur mit Arbeitsplätzen in zumutbarer Entfernung auch Zukunft und Perspektiven. Sie sind die Grundlage der Daseinsvorsorge überhaupt. Zur nachhaltigen Entwicklung des regionalen Raumes sind Arbeitsplätze in einer auspendelqualitativen, zumutbaren Entfernung der zentrale Faktor.

Im Sinne gleichwertiger Lebensverhältnisse dürfen wir die Bemühungen um Arbeitsplätze nicht wie bisher primär auf den urbanen Raum fokussieren, sondern wir müssen auch den ländlichen Raum mit aller Dringlichkeit miteinbeziehen.

Und wenn von einem Masterplan ländlicher Raum gesprochen wird, dann müssen wir für diesen ländlichen Raum auch über die bisherigen Maßnahmenpakete hinaus gehen und dürfen nicht immer weiter dieselbe Medizin verabreichen, sondern wir müssen vor allem auch die Wirtschaftsentwicklung und die Schaffung von Arbeitsplätzen integrieren. Reine Gimmick- und Placebopolitik ist hier zu wenig.

Nur mit Arbeitsplätzen ist die Daseinsvorsorge der Menschen im ländlichen Raum gesichert und nur mit Arbeitsplätzen können die Menschen im ländlichen Raum auch wohnen bleiben.

Arbeiter an einer Fräsmaschine. Foto: www.BilderBox.com
Nur mit Arbeitsplätzen ist die Daseinsvorsorge der Menschen im ländlichen Raum gesichert und nur mit Arbeitsplätzen können die Menschen im ländlichen Raum auch wohnen bleiben.

Die Menschen wollen auf dem Land leben

Der Run auf die Städte und die Ausdünnung des ländlichen Raumes vermittelt auf den ersten Blick den Eindruck, als ob das Land für die Menschen einfach nicht mehr attraktiv genug ist, als hätte der ländliche Raum schlichtweg an Attraktivität verloren und dass die Menschen früher oder später zwangsläufig in die Städte ziehen wollten. So ist es aber nicht.

In Wahrheit ist das Land ein hoch attraktiver Wohnort und verfügt über zahlreiche inhärente Stärken und Potenziale, vor allem auch sozialer und intellektueller Qualität, und bietet Entwicklungsmöglichkeiten, wie sie insbesondere im Zeitalter der Digitalisierung und veränderter Mobilität im urbanen Raum oftmals nicht mehr zu finden sind.

Tatsächlich hat mehr als die Hälfte der österreichischen Bevölkerung ihren Lebensmittelpunkt in einer Gemeinde im ländlichen Raum. Für diese Menschen ist das Leben auf dem Land keinesfalls die zweite Wahl, sondern sie ziehen es entschieden dem urbanen Raum vor.

Neue Studien aus Deutschland zeigen darüber hinaus, dass Menschen, wenn sie frei wählen könnten, inzwischen zu 45 Prozent am liebsten in einer Landgemeinde, zu 33 Prozent in einer Mittel- oder Kleinstadt und nur noch zu 21 Prozent - und das sind dann vor allem die Jungen - in einer Großstadt leben würden.

Menschen werden gezwungen, den ländlichen Raum zu verlassen

Es ist also keineswegs so, dass die Menschen den ländlichen Raum verlassen wollen, sondern vielmehr, dass sie dazu gezwungen werden.

„Die Menschen wollen […] dort Arbeit finden, wo sie auch ihren Lebensmittelpunkt haben, wo sie wohnen. Und dennoch müssen derzeit knapp zwei Millionen Menschen in Österreich täglich in die Ballungsräume einpendeln.“

Diesem zentralen Problem wird im Rahmen der klassischen Regionalentwicklung kaum oder überhaupt nicht Rechnung getragen. Und so sind auch in weiten Teilen des ländlichen Raumes die Zukunftsbilder verloren gegangen. Es werden tatsächlich primär flache pragmatische Lösungsversuche initiiert, welche jedoch nicht den Kern des Problems treffen. 

Warum ist das so?

Der ländliche Raum wird in der Tat intensiv gefördert. Die Verwendung der Gelder und der daraus resultierende Nutzen muss allerdings kritisch hinterfragt werden, ebenso die Struktur der Regionalentwicklung. Die diesbezüglichen Förderstellen sind in der Regel in ganz Europa bei den Agrar- und nicht etwa bei den Wirtschaftsministerien angesiedelt. Und die Akteure der Regionalentwicklung sind Raumplaner, Geographen, Architekten, Ökologen und Soziologen – jedenfalls keine Ökonomen.

So liegen denn auch die klassischen Schwerpunkte der Regionalentwicklung im raumplanerischen, ökologischen, agrokulturellen, architektonischen, touristischen und soziologischen Bereich. Es werden Fuß- und Wasserwanderwege konzipiert, Leitsysteme prämiert, Alp- und Vorsäßregionen gerettet, Alpinforschung betrieben, Kulinarikangebote, Naturparks und Dorfkerne entwickelt, für die es dann keine Einwohner mehr gibt, weil es am Notwendigsten fehlt, nämlich qualifizierten Arbeitsplätzen.

Wir laufen so Gefahr, am Ende nur noch riesige regionale Museumslandschaften zu fördern, die wir dann chinesischen Touristen als alpine Attraktionen vorzeigen können. Vielfach wird auch einfach das gemacht, was von Brüssel gefördert wird. Man orientiert sich an den angebotenen Finanzierungen und konzipiert entsprechende Projekte. Es müsste jedoch umgekehrt sein – Projekte müssen sich an den tatsächlichen Notwendigkeiten und Bedürfnissen orientieren und dann muss die Finanzierung sichergestellt werden.

Erst in den letzten paar Jahren hat sich Wirtschaftsentwicklung vorsichtig in die Programme der Regionalentwicklung eingeschlichen, ist aber nach wie vor ein Stiefkind der Entwicklung des ländlichen Raumes. Letztlich fehlt es vor allem auch an Entwicklungs- und Umsetzungskompetenz, denn Regionalentwicklung ist eine Domäne der genannten Akteure und Förderstellen, und diese fokussieren ihre Arbeit natürlich auf die Umsetzung ihrer alten und bisherigen Ziele. Und so wird immer wieder und mehr von derselben Medizin verabreicht, die aber schon in der Vergangenheit die wirklichen Probleme nicht gelöst hat.

Solche Strukturen führen dann zu Stillstand, Mut- und Perspektivenlosigkeit und zu einer Spaltung unserer Gesellschaft mit den dargestellen Entwicklungen und Folgen.

Wir müssen stattdessen auch gegenüber den Menschen in den ländlichen Regionen ein Zeichen setzen und Zukunftsglauben statt Hoffnungslosigkeit anbieten. Deshalb brauchen wir neue Ansätze und ein klares politisches Bekenntnis und vor allem auch die dazu notwendigen finanziellen Mittel zur Entwicklung des ländlichen Raumes.         

Regionalentwicklung und Entwicklung des ländlichen Raumes neu denken

Es gilt, auch im ländlichen Raum den richtigen Nährboden und die Rahmenbedingungen für wirtschaftliche Entwicklung und die Schaffung von Jobs zu planen und sicherzustellen. Und es genügt nicht, wenn wir wieder einmal mehr, auch noch so professionelle Start-up-Programme initiieren, die dann wiederum nur den urbanen Raum präferieren.

Vielmehr geht es um die Erhöhung der Gründungsintensität, die Schaffung von kreativen, unternehmerischen Milieus, die Ansiedelung von (peripheren) Betrieben sowie die Bestandspflege und Entwicklung bestehender Betriebe, verbunden mit einer professionellen Servicierung der Wirtschaft und einem nachhaltigen Flächenmanagement, um nur ein paar Eckpunkte zu nennen.

Das Bekenntnis zur Wirtschaft sowie aktive Maßnahmen zur Wirtschaftsentwicklung und Wirtschaftsförderung, zur Ansiedlung und zur Gründung von Unternehmen sind jedoch traditionsgemäß und tendenziell eher in den urbanen Räumen zu finden. Dort funktioniert Wirtschaft aber ohnehin. Genau hier gilt es umzudenken. Es muss auch im ländlichen Raum ein anderes, eine neue Art von Bewusstsein Platz greifen. Es ist dringend notwendig, den ländlichen Raum in diese Richtung effizienter zu managen und zu entwickeln. Wir müssen den Menschen im ländlichen Raum ihre Zukunfts- und Abstiegsängste nehmen und positive Alternativen anbieten.

Die Lösung der Probleme der Städte liegt in den regionalen Räumen

Die demographische Entwicklung mit der Flucht von jungen Menschen in die Städte ist darüber hinaus ein zweischneidiges Schwert. Es birgt nicht nur für die ländlichen Regionen Probleme und ganz neue Herausforderungen, sondern auch die städtischen Agglomerationen müssen mit dem Dichtestress, mit überhitzten und zu engen Flächen und Räumen und damit verbundenen Verkehrs- und Infrastrukturproblemen zurechtkommen. Damit einher gehen vielfach eine dramatisch zunehmende Überteuerung von Wohnraum und Infrastruktur sowie soziale Probleme und Verwerfungen. 

Mit anderen Worten, sowohl die urbanen als auch die ländlichen Räume stehen vor Herausforderungen und Problemen, welche nur durch eine vorausschauende und zwischen Stadt und Land abgestimmte gemeinsame Planung gelöst werden können. Die Lösung der Probleme der Städte liegt in den regionalen Räumen. Ein Grund mehr, die Sicherung und Entwicklung der ländlichen Räume gezielt zu initiieren.