Pflege
Die Hilferufe werden immer lauter
Herr Vorsitzender, was hat sich denn seit der Taskforce Pflege 2021 getan?
Reinhard Waldhör: (lacht) Na, das Interview wird kurz! Nichts hat sich getan!
Es gibt jede Menge Hilferufe, und das nicht nur vom Pflegepersonal. Es gibt zu wenig Plätze, die Kosten steigen ständig, um nur zwei Punkte anzusprechen. Wie dringend ist es tatsächlich und was wären die wichtigsten Schritte, die getan werden müssten?
Wir sind schon seit einiger Zeit in der absolut höchsten Dringlichkeitsstufe angelangt. Sie kennen ja die GÖG-Studie (Gesundheit Österreich), die noch 2021 unter Rudi Anschober (damals Gesundheitsminister, Anm. d. Red.) erstellt wurde. Je nach Lesart fehlen uns bis 2030 76.000 bis 115.000 zusätzliche Pflegekräfte. Die Pflegereform steht ja auch im Regierungsprogramm – allerdings nur auf dem Papier. Die Taskforce Pflege wurde zwar vorgestellt, aber dann ist auch da nichts mehr passiert.
Das hat einerseits mit Ministerwechseln zu tun, mittlerweile muss man ja in der Mehrzahl reden. Es hat andererseits auch damit zu tun, dass das Ressort sehr viel mit Covid und anderen Dingen beschäftigt war. Das kann in diesem Fall aufgrund der Dringlichkeit allerdings keine Entschuldigung sein.
Es geht den Pflegepersonal auf allen Ebenen sehr schlecht: in den Kliniken, genauso wie in Pflegeheimen, wie im extramuralen Bereich, sowie auch im Freiberuf. Wir wissen, es kommt eine riesige Pensionierungswelle auf uns zu. Die Baby-Boomer bewegen sich in Richtung Ruhestand. Wir kennen auch den zusätzlichen Bedarf, der aufgrund der demographischen Entwicklung auf uns zukommt und laufen sehenden Auges in diese Katastrophe hinein.
Wir brauchen dringend Strategien, wie wir mehr Menschen dazu bewegen können, einen Pflegeberuf zu ergreifen. Als „Offensive Gesundheit“ haben wir Gewerkschaften, gemeinsam mit der Arbeiterkammer und der Ärztekammer schon im September 2020 dem damaligen Minister Anschober klare Punkte auf den Tisch gelegt.
Da geht es etwa um Dienstplansicherheit. Unsere Kollegen werden es auf Dauer nicht mehr hinnehmen können, sich jederzeit und rund um die Uhr bereithalten zu müssen, weil es schlicht und ergreifend zu wenig Personal gibt. Das ständige Einspringen macht sie mürbe. Das hat zwar jetzt auch mit Covid zu tun, war allerdings schon vor der Corona-Zeit laufend ein latentes Problem. Der ständige Personalmangel ist raschest zu beheben. Das geht nur mit verstärkter Ausbildung, daher sind auch die Ausbildungsbedingungen rasch zu verbessern.
In Niederösterreich und Tirol hat man mit Bonuszahlungen einen Vorstoß gewagt. Wer sich in eine Ausbildung begibt, erhält 420 bzw. 450 Euro pro Monat, sofern er sich verpflichtet in diesem Bundesland einige Zeit die Tätigkeit zu verrichten. Studiengebühren und Schulgelder werden ebenfalls übernommen. Das sind erste Schritte in die richtige Richtung, um die Ausbildung zu attraktivieren.
Wir bräuchten aber noch gemeinsam mit dem AMS ein rasches Paket für Querein- und Berufsumsteiger, damit sich jene, die aus anderen Bereichen in die Pflege einsteigen wollen, während der Ausbildung ihr Leben leisten können. Wir wissen, dass gerade Querein- und Umsteiger die sind, die dann stabil im System bleiben - eher als Grundausgebildete. Die sind in der Berufswahl viel mobiler und flexibler.
Einhergehend braucht es Maßnahmen im Bereich der Arbeitsbedingungen. Etwa veränderte Personalschlüssel, die an die Veränderungen angepasst sind, die mit den Menschen passieren. Keine Nachdienste alleine, weil die in den Abteilungen von Pflegeheimen mit z.B. dementen Menschen sehr aufwändig sind.
Die Pflegeschlüssel aus den Anfängen der 90er-Jahre stimmen schon lange nicht mehr mit der medizinischen und pflegerischen Entwicklung zusammen. Meine KollegInnen wünschen sich mehr Zeit am Patienten, am Bewohner, am Klienten – um ihrer Pflegetätigkeit in einer angemessenen Qualität nachkommen zu können. Derzeit ist es durch den Personalmangel eher so, dass Pflege mit der Stoppuhr passiert.
Das Thema besteht seit Jahrzehnten ...
Ich bin als Personalvertreter 1996 in meinem ersten Vorsitz eingestiegen und seitdem trage ich das Thema wie einen Bauchladen vor mir her. Das Problem ist die schwierige Föderalismus-Landschaft. Pflegethemen sind eigentlich Landesthemen. Da geht es um die Abstimmung untereinander. Die Länder fordern vom Bund, und der Bund fordert ein gerüttelt Maß an Einigung.
Viele Ihrer Forderungen decken sich mit jenen des Gemeindebundes. Die Attraktivierung des Pflegeberufes zum Beispiel. Gibt es da Schulterschlüsse?
Ich sitze selbst in mehreren solcher Netzwerke. Das eine ist die „Offensive Gesundheit“. Das sind die vier Fachgewerkschaften, die (GÖD, Younion, gpa und vida) plus AK und Ärztekammer. Das ist eine reine Arbeitnehmergeschichte.
Ich sitze aber auch in der sogenannten „Motivallianz Pflege“. Das ist eine Arbeitsgemeinschaft, in der die Sozialwirtschaft Österreich, die Bundesarbeitsgemeinschaft freie Wohlfahrt, die AK und wir als Gesundheitsgewerkschaft drinnen sind. Das sind auch auf Dienstgeberseite die großen Player: Volkshilfe, Rotes Kreuz, die Diakonie, das Hilfswerk etc. Mit ihnen haben wir im Sommer 2021 Minister Mückstein in einem offenen Brief unsere Forderungen dargestellt, ebenso in einer Pressekonferenz, und hatten dann einen Termin im November 2021, der ergebnislos war.
Seither gibt es seitens den Gesundheits- und Pflegeministeriums nur Ankündigungspolitik, die in Ministerwechsel mündet. Natürlich muss man dem Politprofi Johannes Rauch ein bisschen Eingewöhnungszeit zugestehen. Die wird aber viel kürzer sein als bei Wolfgang Mückstein. Der ist im April 2021 eingestiegen und war eigentlich erst vor dem Sommer handlungsfähig, dann war die Urlaubszeit, und bis in den Herbst hat sich nichts getan. Soviel Zeit wird ein Johannes Rauch nicht bekommen.
Wir haben jetzt eine sogenannte Parlamentarische Bürgerinitiative, mit dem Titel „Achtung Gesundheit - es ist 5 nach 12“ gestartet. Die wird jetzt noch mit handschriftlichen Listen geführt, aber mit 31. März in eine Online-Phase übergehen, bei der man mit eine QR-Code per Handy relativ einfach auf die Parlamentsseite kommt und mit wenigen Klicks unterstützen kann. Da werden wir auch sehr breit in die Bewerbung gehen, um unseren Forderungen Ausdruck zu verleihen. Wir wollen damit aus unserer Blase der Mitarbeiter im Gesundheitswesen herauskommen.
Wie sieht es mit dem Bürokratieabbau aus?
Wir wünschen uns mehr Geschwindigkeit in den behördlichen Abwicklungen wie der Pflegegeldeinstufung etc. Aber auch da geht es natürlich um Personal.
Wir wissen, dass wir zu wenig Personal haben um das zu leisten, was man von uns fordert, und sollten nicht den Fehler machen, die Forderung auf andere abzuwälzen, die mit dem Personal genauso wenig bestückt sind.
Wir wünschen uns die Abnahme bürokratischer Aufgaben, die jetzt von der Pflege wie selbstverständlich mitgemacht werden. Nehmen wir als klassisches Beispiel den Krankenhausbereich her. Es gibt beinahe auf jeder Abteilung eine Administrationskraft. Die beginnt um 7 Uhr und geht um 15 Uhr nach Hause. Und alles was nach 15 Uhr in diesem Bereich anfällt, macht automatisch die Pflege mit. Das ist relativ viel Aufwand, denn es kommen viele Aufnahmen nach 15 Uhr. Oder es passieren häufig Visiten nach 15 Uhr, die zu dokumentieren sind, und und und ...
Es ist klar, dass Anamnesestellungen durch die Fachkraft gemacht werden müssen, aber die klassische Fieberkurve auf die nächste Woche zu übertragen muss keine Fachkraft machen. Das kann auch eine Verwaltungskraft übernehmen.
Viele Gemeinden schauen, dass die Leute so lange wie möglich in den gewohnten vier Wänden bleiben können, bzw. sie mit Wohnungen für ältere Personen, die in die Pflege gehen müssen, leichter betreubar sind. Wie kommentieren sie den Ansatz?
Er ist absolut zu befürworten. Wir wissen, dass die Menschen am liebsten so lange wie möglich in den eigenen vier Wänden sind. Man sollte ein System im Bereich „Mitalterndes Wohnen“ schaffen.
Wir brauchen eine Denkumkehr. Diejenigen, die Wohnraum schaffen, sollten dessen Mitentwicklung in das Alter gleich mitdenken. Im Wohnungsbau passiert das zum Teil schon, aber wo es noch relativ wenig Feedback gibt, ist das klassische Eigenheim.
Es gibt zwar viele Bungalows, die ebenerdig sind, und damit glaubt man, man sei barrierefrei, doch das ist es nicht. Da gehören viele andere Dinge mitgedacht, die man oft erst später einbaut. Da gilt es Bewusstsein zu schaffen. Es gilt auch, Strukturen in Gemeinden zu schaffen, wie man Betreuungsformen gestalten kann, sowohl im Ehrenamt, als auch professionell. Eine Dorfstruktur, wie es sie früher gegeben hat, gibt es meist nicht mehr. Heute ist auch die Vereinsamung der Leute ein Problem. Die Familien sind kleiner und nicht mehr da.
Die Dorfstruktur hat früher mit Nachbarschaftshilfe funktioniert. Heute kommt da schnell das Thema Haftung dazu.
Man muss die Tätigkeitsbereiche klar auseinanderhalten. Wenn jemand als Heimhilfe kommt, oder wie im Waldviertel vom Projekt „Nachbarschaftshilfe Plus“, dann sind das einfache Betreuungstätigkeiten, wie Einkaufen gehen, nach dem Rechten sehen etc.
Wie stehen Sie zu dem Konzept der Community Nurses?
Ich halte es für absolut wichtig in Schwung zu bringen, weil es genau die Informationsdrehscheibe ist, die man aus meiner Sicht in den Gemeinden braucht. Zwischen den Kommunen, zwischen den Gemeindeärzten, den Angehörigen, den Bewohnern, und all den anderen, die es betrifft. Auch im Bereich Prävention und Bewusstseinsbildung kann man die Maßnahmen sehr fachkundig treffen. Ich halte es für ein sehr gutes System.
Wie sieht die Finanzierung der Community Nurses langfristig aus?
Finanziert werden sie derzeit noch bis zum 31. Dezember 2024 aus dem Resilienzfond der EU über das Pflegeministerium. Die Projekte sind schon vergeben und laufen jetzt über einen Zeitraum von drei Jahren. Die weiterführende Finanzierung fehlt noch, das muss man klar sagen. Die Projekte, die jetzt laufen, haben die Aufgabe, alle davon zu überzeugen, dass sie gut und wichtig sind, und in erster Linie natürlich den Bund.
Die Finanzierung sehen Sie auf Bundesebene?
Ja, nachdem sie der Bund quasi ins Leben gerufen hat, und damit in der Kommune diese Erwartungshaltung weckt. Nachdem die Bürger es drei Jahre lang gewohnt sind, und auch die BürgermeisterInnen gewohnt sein werden diese Struktur zu haben, wird der Wunsch auch weiterhin bestehen. Zu hoffen bleibt, dass das Kabinett auch nach dem 31. Dezember 2024 hinter der Maßnahme steht. Gegenwärtig gibt es eine hundertprozentige Refundierung aus Europa. Irgendwann könnte der Bund dann auch einmal in die eigene Tasche greifen um so etwas zu finanzieren.
Bei vielen BürgermeisterInnen verursacht das Bauchweh, denn das kennt man. Erst gibt es eine Anschubfinanzierung, dann ist er Stichtag da, alle sind daran gewöhnt, jeder will es haben, und die Gemeinden müssen schauen, dass sie da irgendwie einspringen.
Ich habe das Glück bei einem Projekt im Waldviertel, das 13 Gemeinden umfasst, beratend tätig zu sein. Da wissen die Bürgermeister ganz klar, dass es dieses Risiko gibt. Natürlich kann in einem Worst-Case-Szenario das Projekt am 31. Dezember 2024 enden. Die 13 Bürgermeister der Region, die in dem Projekt tätig sind, sind aber schon sehr davon überzeugt, dass man Finanzierungsmöglichkeiten finden wird.
Die Kosten für die Pflege belaufen sich in Österreich auf drei Milliarden Euro im Jahr. Stimmt das?
Die absolute Zahl kann ich nicht sagen. Wir geben aber in etwa 1,5 % des BIP für die Langzeitpflege aus. Übrigens, weil wir ja gerne die Systeme aus Ländern wie Dänemark oder Norwegen unter die Nase gerieben bekommen, die den Leuten viel besser gefallen: dort gibt man halt 3,5 - 4 Prozent des BIP für die Pflege aus.
Seit zwei Jahren hat uns Corona fest im Griff, jetzt der Ukraine-Krieg. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass beim Thema Pflege wirklich schnell etwas weitergeht?
Eine gute Frage. Was sehr rasch passieren muss, ist, dass sich Bund und Länder aufeinander zubewegen. Derzeit redet sich einer auf den anderen aus. So lange es da keine Veränderungen gibt, werden wir Schwierigkeiten haben. Wenn es nicht sehr rasch Signale konkreter Veränderungen in Richtung der Pflegepersonen gibt, werden wir in einen Exodus hineinlaufen.
Viele sagen glaubhaft: „Die Krise stehe ich noch durch. Da lasse ich meine Kollegen und Patienten nicht im Stich. Aber wenn sie vorbei ist, bin ich weg.“ Umfragen zeigen, rund 42 bis 43 Prozent der Pflegepersonen denken mehr als einmal pro Woche daran auszusteigen. Das ist nicht wenig. Sieben bis neun Prozent arbeiten bereits aktiv daran auszusteigen. Die suchen schon Alternativen. Es geht aber auch um Stundenreduzierung, beispielsweise statt 40 nur mehr 30 Stunden zu arbeiten. Auch diese Stunden fehlen uns.
Die Work-Life-Balance für das Pflegepersonal existiert also nicht?
Nein. Das Problem ist, dass derzeit ein Leben mit Familie, mit Partner, und mit Freizeit absolut und ausschließlich vom Beruf geprägt ist, weil man selbst zu den Zeitpunkten, an denen man eigentlich frei hat, ständig parat stehen muss. Diese ständige Spannung ist permanent da, und wir wissen aus den Statistiken wie viele Überstunden in den letzten Jahren angefallen sind, wie viele Urlaubsstunden nicht gemacht werden konnten. Das sind Riesensummen.
Ich bin Betriebsrat am Landesklinikum Horn und erlebe selbst – irgendwann sind die Menschen an einem Punkt, an dem sie sagen: „Ich schaffe es nicht mehr. Ich kündige!“ Da sind Personen in ihren 50ern dabei, die seit mehr als 20 Jahren mitarbeiten. Die lassen 12 Monate Abfertigung liegen und sagen. „Ich will hier nur raus!“
Wie motiviert man junge Menschen einen Pflege-Job zu ergreifen?
Man kann ganz klar sagen, die Pflege ist ein absolut krisensicherer Job. Wir brauchen aber auch eine Situation, durch die sie attraktiver wird. Das Krisensichere alleine ist nur für einige ein Argument. Zudem ist nicht jeder für diesen Job geeignet.
Wir sehen, dass durchaus Menschen in den Pflegeassistentenausbildungen drinnen sitzen, weil das AMS dafür eine Förderung hergibt, sie somit nicht wo anders hinmüssen, und die nach erfolgreich abgeschlossener Ausbildung keinen Tag in dem Beruf arbeiten. Das trifft uns, weil es verschwendete Ressourcen sind.
„Wenn wir den Bedarf an professionell pflegenden Menschen über das Jahr 2030 hinaus mit Inländern decken wollen, dann müsste jeder Fünfte, der geboren wird, 2030 in die Pflege gehen.“
Wir müssen die Richtigen aussuchen und in diesem Fall trifft uns die Demografie. Wenn wir den Bedarf an professionell pflegenden Menschen über das Jahr 2030 hinaus mit Inländern decken wollen, dann müsste jeder Fünfte, der geboren wird, 2030 in die Pflege gehen. Damit wissen wir – das schaffen wir nicht. Wir brauchen gezielte und gute Programme Menschen aus dem Ausland dazu zu holen.
Und ganz klar sei gesagt, nicht von den benachbarten europäischen Ländern, weil die alle das gleiche Problem haben. Europa ist einfach alt. Wir müssen uns dort umschauen, wo es viele Junge gibt, und wir müssen uns dort umschauen, wo es auch ethisch passt. Vor allem die Senioren akzeptieren nicht gleich jede ausländische Pflegeperson. Da geht es um sehr viele intime Dinge und ist daher besonders schwierig. Da braucht man Feingefühl.