Alexander Schallenberg
„Wir werden eine Plattform mit den regionalen Partnern einrichten, wo wir uns als EU stark engagieren.“ Außenminister Alexander Schallenberg zur Vorgehensweise in Afghanistan.
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„Die Fehler von 2015 dürfen sich nicht wiederholen“

28. September 2021
Afghanistan, Belarus, die noch nicht überstandene COVID-19-Krise, der Westbalkan und die Gefahren aus dem Internet – Außenminister Alexander Schallenberg gab Antworten auf Fragen, die Österreich bewegen.

Herr Bundesminister, die Welt blickt fassungslos nach Afghanistan. Die Lage ist dramatisch, es drohen weitreichende Fluchtbewegungen. Was kann Österreich in dieser prekären Situation unternehmen?

Schallenberg: Wir arbeiten mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln daran, dass Afghanistan zu keinem sicherheitspolitischen schwarzen Loch wird, das seine Nachbarstaaten in eine gefährliche Gewaltspirale mitreißt. Um dem gegenzusteuern, senden wir schon jetzt starke Signale, stehen im Austausch auch mit Staaten in der Region und haben das größte Soforthilfepaket über 18 Millionen Euro unter anderem für den UNHCR und UN Women geschnürt. Eines muss klar gesagt werden: Die Fehler aus der Flüchtlingskrise von 2015 dürfen sich nicht wiederholen. 

Vor zwei Jahrzehnten haben die Taliban grausam über Afghanistan geherrscht, politische Rivalen öffentlich exekutiert und Frauen sämtliche Gleichstellung verwehrt. Wie soll Österreich gegenüber einer Taliban-geführten Regierung Afghanistans auftreten?

Wir müssen hier ganz klar zwischen einer technischen Zusammenarbeit und einer diplomatischen Anerkennung unterscheiden. Wir haben als EU beim Gymnich-Treffen eine klare Marschrichtung gegenüber Afghanistan, einen Leitfaden für den Umgang mit der künftigen afghanischen Regierung festgelegt.

Wir werden eine Plattform mit den regionalen Partnern einrichten, wo wir uns als EU stark engagieren. Dies wird alle Bereiche einbeziehen, von humanitärer Hilfe, wirtschaftlicher und entwicklungspolitischer Kooperation bis hin zur Terrorismusbekämpfung und Vermeidung von Migrationsströmen. Ich halte auch die vorgesehene diplomatische Präsenz der EU-Staaten vor Ort für sinnvoll. Wie schnell das gelingen wird, hängt allerdings von der Sicherheitssituation an.

Zuletzt hat sich die Krise mit Belarus durch sprunghaft angestiegene illegale Grenzübertritte über die litauische Grenze in die EU dramatisch zugespitzt. Herr Bundesminister, was tun die EU und Österreich angesichts dieser Situation?

Wir haben es mit einem unglaublichen Akt des Zynismus seitens des belarussischen Regimes zu tun. Hier werden gezielt MigrantInnen dazu missbraucht, um politischen Druck auf die EU auszuüben, doch wir lassen uns nicht erpressen! Die EU muss hier eine klare Antwort senden, Personen, die dafür verantwortlich sind, sollten auf die Sanktionsliste kommen.

Ende August konnte ich mir bei meinem Besuch an der litauisch-belarussischen Grenze gemeinsam mit Innenminister Nehammer persönlich ein Bild von der Lage machen und auch mit den Beamten der Spezialeinheit Cobra sprechen, die Österreich gemeinsam mit dringend benötigter Ausrüstung zur Unterstützung Litauens geschickt hat. Litauen schützt hier die EU-Außengrenze und damit auch die Österreichische Grenze.

Die COVID-19-Pandemie hält die Welt seit über einem Jahr in Atem. Was waren die besonderen Herausforderungen der Pandemie für Sie als Außenminister?

Zu Beginn der Pandemie galt meine oberste Sorge als Außenminister den vielen Österreicherinnen und Österreichern, die sich noch im Ausland aufhielten und die wir in der größten Repatriierungsaktion des Außenministeriumssicher nach Hause gebracht haben. In der Pandemie selbst war eine der größten Herausforderungen dann sicher, dass Treffen nur mehr per Video stattfinden konnten.

Die Diplomatie lebt von feinen Zwischentönen, von Gesprächen unter vier Augen am Rande von Treffen und Konferenzen. Das hat ganz massiv gefehlt und hat mit Sicherheit den einen oder anderen Konflikt noch verschärft. Die Außenpolitik ist in dieser Zeit ja nicht stehengeblieben – ganz im Gegenteil.

Besonders während der Urlaubszeit blicken viele Österreicherinnen und Österreicher mit großem Interesse auf die Reisewarnungen des Außenministeriums.

Der Service-Charakter des Außenministeriums für die Bürgerinnen und Bürger ist mir ein Herzensanliegen. Das BMEIA verfügt mit seinem weltweiten Netz an Botschaften und Konsulaten und hochqualifizierten MitarbeiterInnen über unschätzbare Ressourcen, um den Bürgerinnen und Bürgern weltweit zur Seite zu stehen. Reiseinformationen und die 24-Stunden-Hotline für konsularische Notfälle sind schon seit Jahren zentrale Serviceleistungen. Im Jahr 2020 wurde das Bürgerservice temporär massiv aufgestockt und zeitweilig mussten alle MitarbeiterInnen des Außenministeriums mitanpacken.

Seit dem Beginn der Urlaubssaison 2021 und der Aufhebung der Reisewarnungen für weite Teile Europas verzeichnet das Call-Center des BMEIA täglich gut 1.000 Anrufe, die Reiseinformationen auf unserer Website wurden seit Beginn des Jahres mehr als 16 Millionen Mal aufgerufen.

COVID-19-Impfstoff ist in vielen Ländern außerhalb der EU nach wie vor ein rares Gut. Welchen Beitrag leistet Österreich zur weltweiten Bekämpfung der Corona-Pandemie?

Wir können in Österreich noch keinen Schlussstrich unter die Pandemie ziehen, denn niemand ist sicher, solange nicht alle sicher sind.

Ein besonderer Fokus gilt dabei dem Westbalkan und der unmittelbaren europäischen Nachbarschaft sowie den Schwerpunktländern der österreichischen Entwicklungszusammenarbeit. Gemeinsam mit der Europäischen Kommission haben wir als Impfstoffkoordinator seit Mai 651.000 Dosen an die Westbalkanstaaten geliefert. Lieferungen aus österreichischen Impfstoffbeständen gingen an den Libanon, Bosnien und Herzegowina, Tunesien, die Ukraine, Georgien und zuletzt an den Iran. Insgesamt werden so mehr als 2,8 Millionen Impfdosen auf österreichische Initiative bzw. aus österreichischen Bestand anderen Staaten zu Gute kommen. Zudem leistet Österreich einen Beitrag von 5 Mio. Euro zur internationalen COVAX-Initiative.

Die Heranführung von Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Nordmazedonien, Montenegro und Serbien an die EU ist seit vielen Jahren ein außen- und europapolitisches Anliegen Österreichs. Warum eigentlich?

Diese sechs Länder sind Österreich geografisch, historisch, wirtschaftlich und kulturell besonders nahe, gut 550.000 Menschen in Österreich haben ihre Wurzeln in der Region. Als „Innenhof“ des europäischen Hauses ist der Westbalkan aber auch von strategischer Bedeutung für die Sicherheit und Stabilität Europas. So hat auch die Migrationskrise von 2015 gezeigt, wie wichtig eine enge Kooperation mit den Ländern der Region ist. Wenn es uns nicht gelingt, diese Staaten dauerhaft an unsere Wertegemeinschaft zu binden, werden andere Staaten wie China, Russland oder die Türkei ihren Einfluss ausweiten. Das kann nicht in unserem Sinne sein.

Auch aus dem Internet drohen uns Gefahren in Form von bewusster Desinformation und Fake-News. Externe Akteure haben dabei ganz gezielt das europäische Demokratiemodell im Visier. Wie können wir uns als Österreich dagegen wehren?

Wir sind tatsächlich mit einer exponentiellen Zunahme von Desinformation konfrontiert. COVID-19 hat diesen Trend zusätzlich beschleunigt. Der wirksamste Schutz vor „Fake News“ sind zweifellos Medienvielfalt und eine wachsame Zivilgesellschaft. Doch das ist nicht genug. Ich habe daher die EU-Entscheidung voll mitgetragen, etwa das Schnellwarnsystem oder die Task-Forces für strategische Kommunikation weiter auszubauen. Nur gemeinsam können wir unsere Gesellschaft vor dieser besonders perfiden Bedrohung schützen.

Können wir Ihre Forderung nach Medienvielfalt so interpretieren, dass Sie einen seit vielen Jahren immer wieder geforderten unabhängigen und überparteilichen europäischen Nachrichtensender unterstützen würden? Also eine Art aufgewertete „Euro News“ im Stil von CNN oder BBC?

Unabhängige Qualitätspresse und freier Zugang zu zuverlässiger Information sind unsere Hauptverbündeten im faktenbasierten Kampf gegen jede Art von Desinformation. Ein europäischer Nachrichtensender könnte dazu einen wertvollen Beitrag leisten - besonders in jenen Ländern, in denen Pressefreiheit leider nicht selbstverständlich ist. Doch müsste dabei auch sichergestellt sein, dass diese Unabhängigkeit sowie der europaweite Zugang zu dem Medium auch wirklich gewahrt werden.

Die 76. Generalversammlung der Vereinten Nationen beginnt in diesen Tagen in New York. Welche konkreten Erwartungen haben Sie als Außenminister an dieses Treffen?

Das Pandemie-Jahr hat wie gesagt klar gezeigt, dass neue Kommunikationsformen wie Videokonferenzen persönliche Treffen gerade in der Diplomatie nicht ersetzen können. Angesichts aktueller globaler Herausforderungen ist es umso wichtiger, dass wir heuer in New York wieder physisch zusammenfinden können, um gemeinsam an Lösungen zu arbeiten – man denke etwa an die Herkules-Aufgabe des weltweiten Wiederaufbaus nach der Pandemie oder die Bekämpfung der Klimakrise.