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Der Spielball EU?

Die Europäische Union steht 2025 unter erheblichem Druck. Während Putin militärisch droht, Trump wirtschaftlich provoziert und Xi Jinping technologisch aufholt, stellt sich die Frage: Ist Europa zum Spielball der Großmächte geworden? Eine Einordnung, die von den Metropolen bis zu den österreichischen Landgemeinden reicht.

Die USA führen mit einem BIP von rund 29 Billionen US-Dollar, gefolgt von der EU mit etwa 19,4 Billionen und China mit knapp 19 Billionen Dollar. Was auf den ersten Blick nach einem respektablen zweiten Platz aussieht, verschleiert eine strukturelle Entwicklung: Das Pro-Kopf-BIP der EU lag in den 2000er-Jahren bei etwa 70 Prozent des US-Wertes und beträgt laut aktuellen IWF-Daten rund 72 Prozent – der Abstand ist also über die Zeit tendenziell gewachsen.

Die wirtschaftliche Schwäche zeigt sich besonders in der Wettbewerbsfähigkeit. Nur wenige EU-Staaten wie die Niederlande, Deutschland, Dänemark und Schweden sind in internationalen Standortvergleichen regelmäßig in den obersten Rängen vertreten, während der Großteil Europas im Mittelfeld liegt.

Das militärische Dilemma: Abhängigkeit von einem unzuverlässigen Partner

Die militärische Dimension offenbart Europas Verwundbarkeit. Die USA verfügen über einen Militäretat von 997 Milliarden Dollar, die EU-Staaten zusammen über rund 350–400 Milliarden, Russland über 149 Milliarden und China über 314 Milliarden Dollar.

23 der 32 NATO-Mitglieder erreichten 2024 das Zwei-Prozent-Ziel bei den Verteidigungsausgaben – 2021 waren es nur sechs Länder. Die Steigerung ist beachtlich, erfolgte aber unter erheblichem politischem Druck aus Washington. Donald Trump hat wiederholt eine Erhöhung der europäischen Verteidigungsausgaben gefordert und dabei zwischenzeitlich sogar eine Zielgröße von 5 Prozent des BIP ins Spiel gebracht – ein Wert, der innerhalb der NATO als politisch wie wirtschaftlich unrealistisch gilt und keine formale Verpflichtung darstellt.

Die Diskussion verdeutlicht jedoch die Lage: Europa agiert in Sicherheitsfragen weiterhin stark abhängig von US-Vorgaben und -Prioritäten.

Der nächste Schock für Europa

Kaum ist die Diskussion darüber eröffnet, ob Europa zum Spielball der Großmächte zu werden droht, liefert Washington den nächsten Beleg: Die neue National Security Strategy (NSS) der USA, Ende November 2025 veröffentlicht, markiert einen klaren Kurswechsel – und bestätigt viele der Befürchtungen, die in der europäischen Diskussion bislang eher als „Worst-Case-Szenario“ gehandelt wurden. 

Der Leitgedanke ist unmissverständlich: „America First“ durchzieht das 29-seitige Dokument. Die USA verabschieden sich darin explizit von der Rolle des selbsternannten „Atlas“, der die liberale Weltordnung trägt. Europa wird nicht mehr als Partner in einem gemeinsamen Projekt beschrieben, sondern als Problemfall mit „wirtschaftlichem Niedergang“ und der Warnung vor einem möglichen „zivilisatorischen Untergang“, sollte sich der aktuelle Kurs fortsetzen. 

Gleichzeitig fordert die Strategie, Europa solle seine eigene Verteidigung weitgehend selbst finanzieren und organisieren, während Washington sich auf seine Kerninteressen konzentriert – auch militärisch. In der Regionalsektion zu Europa ist von der Unterstützung „freier und sicherer europäischer Staaten“ die Rede, aber ebenso davon, dass die USA die Wahrnehmung korrigieren wollen, die NATO sei eine „permanent expandierende Allianz“. Der Fokus verschiebt sich hin zu Stabilität und Deeskalation mit Russland, inklusive des Ziels, die Feindseligkeiten in der Ukraine rasch zu beenden, um „strategische Stabilität“ wiederherzustellen. 

Für Europa ist das ein doppelter Schock: Einerseits signalisiert Washington, dass es keine automatische sicherheitspolitische Rückendeckung mehr geben wird. Andererseits deutet die NSS an, dass ein schneller Frieden in der Ukraine – inklusive territorialer Zugeständnisse – wichtiger sein könnte als eine langfristige Abschreckung gegen Russland. Analysen von CSIS, dem Council on Foreign Relations und anderen Thinktanks sprechen von einem „schmerzhaften, schockierenden Weckruf“ und einem Moment, in dem das Selbstbild Europas und das Amerikabild der Trump-Regierung dramatisch auseinanderdriften. 

Hinzu kommt eine ideologische Zuspitzung: Die Strategie verurteilt „transnationale Regulierungen“ und warnt vor einem Verlust nationaler Identität in Europa. Klimapolitik europäischer Prägung wird explizit als „katastrophale Ideologie“ dargestellt, die den USA schade und Europa bereits geschadet habe. Energieexporte – insbesondere fossile – werden dagegen als geopolitisches Instrument präsentiert, mit dem Washington loyale Partner belohnen kann. 

Politisch wird die Linie durch ein äußerst konfrontatives Europabild ergänzt: In einem aktuellen Interview mit „Politico“ bezeichnet Trump Europa als „schwach“ und „verfallend“ und stellt die Unterstützung der USA für die Ukraine offen in Frage. Europäische Spitzenpolitiker wie der deutsche Kanzler Friedrich Merz oder die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas sprechen von „inakzeptablen“ Vorwürfen, Frankreichs Regierung von einer „brutal klaren“ Standortbestimmung der USA. 

Für die kommunale Ebene in Europa verschärft sich damit das Bild, das im Haupttext bereits gezeichnet wurde: Wenn die USA sich sicherheitspolitisch zurückziehen, ihre Energie- und Handelspolitik noch stärker an nationalen Interessen ausrichten und gleichzeitig den europäischen Kurs bei Migration, Klima und Rechtsstaatlichkeit offen attackieren, dann werden Städte und Gemeinden noch direkter in den Sog globaler Entscheidungen gezogen – von der Finanzierung der Verteidigungsanstrengungen über die Energieversorgung bis hin zu integrations- und sicherheitspolitischen Aufgaben vor Ort.

Die digitale Kolonisierung: Zwischen Regulierungsmacht und technologischer Abhängigkeit

Im Digitalbereich zeigt sich ein paradoxes Machtgefüge. Seit 2020 hat die EU mehr als ein Dutzend Gesetze zur Regulierung des digitalen Raums erlassen – vom Digital Services Act über den Digital Markets Act bis hin zum AI Act, der zu den weltweit umfassendsten KI-Regulierungen zählt.

Doch wirtschaftlich dominieren andere: Die globale digitale Wirtschaft wird 2024/25 auf rund 16 Billionen US-Dollar geschätzt. Studien sehen dabei etwa zwei Drittel dieses Wertes von den USA und China getragen – ein Wert, der den technologischen Abstand zur EU unterstreicht.

Auch bei den Startup-Einhörnern zeigt sich das Bild: China beheimatet rund 30 Prozent aller Unicorns weltweit, die USA noch deutlich mehr. Die EU entwickelt sich zwar regulatorisch, technologisch aber bleibt sie hinter den beiden führenden Wirtschaftsräumen zurück.

Die US-Regierung äußert seit Jahren Kritik an europäischen Regulierungen, insbesondere wenn diese US-Konzerne betreffen. Von einer „wirtschaftlichen Kriegserklärung“ im offiziellen Sinne kann zwar keine Rede sein – klar ist jedoch, dass die Konfliktlinie zunehmend schärfer wird.

Menschenrechte: Europas moralische Stärke unter Beschuss

Hier zeigt sich ein fundamentaler Unterschied zu autoritäreren Systemen. 2024 wurden Menschen in Ländern wie Belarus, China, Kirgisistan, Russland, Saudi-Arabien, Tadschikistan und der Türkei in unfairen Verfahren wegen „Terrorismus“ oder „Extremismus“ verurteilt, obwohl sie friedlich ihre Meinungsfreiheit ausgeübt hatten – dokumentiert u. a. von Amnesty International und Human Rights Watch.

Die EU steht für Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und demokratische Werte – Stärken, die sie wirtschaftlich und diplomatisch attraktiv machen, militärisch aber nicht schützen. Eine bittere Lektion, die der Ukraine-Krieg täglich verdeutlicht.

Die kommunale Dimension: Wo Europa wirklich lebt

75 Prozent der EU-Bürger leben in Städten und urbanen Gebieten – bis 2050 werden es voraussichtlich 78 Prozent sein. Die Transformation Europas wird auf kommunaler Ebene entschieden. Mangel an bezahlbarem Wohnraum gehört dabei laut EU-Umfragen zu den vordringlichsten Problemen vieler Stadtbewohner, gefolgt von öffentlicher Infrastruktur und Sicherheit. Die genauen Prozentwerte variieren je nach Erhebung.

Die geopolitische Überforderung der Kommunen

Die großen globalen Machtverschiebungen treffen Städte und Gemeinden direkt:

  • Militärisch: Verteidigungsaufwüchse konkurrieren mit Infrastrukturinvestitionen.
  • Wirtschaftlich: US-Zölle, China-Abhängigkeiten und gestörte Lieferketten belasten Betriebe und Haushalte.
  • Digital: Kommunen sollen KI-Strategien entwickeln, verfügen aber kaum über Ressourcen oder technologische Souveränität.
  • Sozial: Integration Geflüchteter, Energiewende und Klimaanpassung erzeugen wachsenden finanziellen Druck.

Zahlreiche Studien (z. B. KfW-Kommunalpanel) weisen seit Jahren auf eine chronische Unterfinanzierung und einen strukturellen Investitionsrückstand in der kommunalen Infrastruktur Deutschlands hin. Die genaue Höhe des täglichen Werteverzehrs variiert je nach Berechnung – klar ist jedoch: Der Substanzverlust ist erheblich.

Der österreichische Blickwinkel

Für Österreichs Städte und Gemeinden bedeutet diese Lage:

  1. Föderale Stärke nutzen: Das Subsidiaritätsprinzip ist ein Schutzschild gegen Zentralisierung. Kommunen sollten ihre Stimme in EU-Entscheidungsprozessen selbstbewusster einbringen.
  2. Städtediplomatie ausbauen: Direkte Kooperationen können außenpolitische Spannungen abfedern – gerade in Zeiten unsicherer transatlantischer Beziehungen.
  3. Wirtschaftliche Resilienz stärken: Abhängigkeiten von China (Lieferketten), Russland (Energie – stark reduziert) und den USA (Technologie, Märkte) müssen durch regionale Kreislaufwirtschaft und Diversifizierung verringert werden.
  4. Digitale Souveränität lokal denken: Kontrolle über Daten und digitale Infrastruktur ist zu einer kommunalen Schlüsselaufgabe geworden – hier kann europäische Zusammenarbeit echten Mehrwert schaffen.

Spielball oder Spielgestalter?

Die EU ist kein Spielball – aber sie könnte einer werden. Wirtschaftlich unter Druck, militärisch abhängig, technologisch im Rückstand. Gleichzeitig ist sie der einzige große Machtblock, der auf Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechten basiert – ein Fundament, das 450 Millionen Menschen Freiheit ermöglicht.

Die Antwort liegt nicht nur in Brüssel oder Berlin, sondern auch in Wien, Graz, Linz und den 2.092 österreichischen Gemeinden. Wenn Europa sein föderales System ernst nimmt, Subsidiarität lebt und Kommunen als strategische Akteure versteht, kann aus dem vermeintlichen Spielball ein Spielgestalter werden.

Europa war lange eine Normativmacht – jetzt muss es lernen, diese Werte auch machtpolitisch zu verteidigen. Und dieser Kampf beginnt vor Ort, wo Europa Tag für Tag gelebt wird.

Die Alternative wäre, sich zwischen den Imperien zerreiben zu lassen – ein Schicksal, das keine österreichische Kommune akzeptieren sollte.

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