Brauchtum in Österreich im Winter
Der Pongauer Perchtenlauf in St. Johann im Pongau.

Brauchtumspflege in Österreichs Gemeinden

Vom Schleicherlaufen bis zum Sonnwendfeuer, vom Maibaumaufstellen bis zum Aperschnalzen, vom Grasausläuten bis zum Perchtenlauf: In Österreich leben alte Bräuche und Traditionen bis heute. Auch deshalb, weil die Gemeinden im ganzen Land mit Überzeugung dahinter stehen.

Tradition ist nicht das Anbeten der Asche, sondern das Weitergeben der Flammen, besagt eine vielzitierte Metapher. Wirft man einen Blick in Österreichs Gemeinden, spürt man erst, was dieser Satz bedeuten kann. Denn auch im 21. Jahrhundert leben dort alte Brauchtümer weiter – teils bunter und lebendiger als je zuvor. Und das nicht um ihrer selbst Willen: Denn lebendige Bräuche schaffen Identität und Gemeinschaft – sind die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister überzeugt. 

Heimat bist du großer Bräuche

Ein Brauch ist – laut Duden – eine „aus früherer Zeit überkommene, innerhalb einer Gemeinschaft fest gewordene und in bestimmten Formen ausgebildete Gewohnheit“.

In Österreich gibt von diesen „Gewohnheiten“ unzählige: Landauf, landab rücken, quer durch alle Jahreszeiten, festlich gekleidete, geschmückte, manchmal auch skurril anmutende Gestalten mit traditionellen Symbolen aus, lärmen und jubeln, tanzen und singen oder sorgen für andächtige Stille. Ob mit kirchlichem Hintergrund oder aus alpenländischer Tradition, ob als Zeichen der Dankbarkeit für gute Zeiten oder um die bösen Geister zu vertreiben, ob zur Erinnerung an historische Ereignisse oder als Mahnmal für die Zukunft: Bräuche sind Teil des Kulturguts.

Das hat auch die UNESCO erkannt. Seit 2009 sammelt und dokumentiert sie im nationalen Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes mündlich überlieferte Traditionen, darstellende Künste, gesellschaftliche Rituale und Feste, Wissen um die Natur oder Handwerkskünste – und das in 178 Nationen unserer Erde.

Mit der Sichtbarmachung von bislang oft im Verborgenen existierenden Bräuchen und Praktiken möchte die UNESCO ein neues Verständnis für regionale Besonderheiten, funktionierende Gemeinschaften sowie einen nachhaltigen Umgang mit lokalen Ressourcen fördern. Allein das nationale österreichische Verzeichnis umfasst derzeit 117 Elemente – und Jahr für Jahr kommen neue dazu.

Lebendige Bräuche brauchen „gestaltende Persönlichkeiten“

„Dass alte Bräuche bis heute lebendig bleiben und überliefert werden, dazu braucht es vor allem gestaltende Persönlichkeiten. Wenn da keiner ist, der ein Brauchtum weiterträgt, dann stirbt es – und kann nur mühsam wiederbelebt werden. Es hängt also immer davon ab, ob es in einer Region Menschen gibt, die sich um die Traditionen bemühen. Natürlich ist es hilfreich, wenn in den einzelnen Gemeinden gute Rahmenbedingungen geschaffen werden“, meint der ehemalige Professor am Institut für Kulturanthropologie und europäische Ethnologie der Karl-Franzens-Universität Graz, Univ.-Prof. Günther Jontes. Ganz viele Städte und Gemeinden tun das aus völliger Selbstverständlichkeit; sie pflegen ihre Bräuche seit Generationen oder entwickeln neue Traditionen, die zum fixen Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens werden.

Der Trend zum Ursprünglichen

Gerade in den letzten Jahren scheint das Brauchtum überhaupt eine Renaissance zu feiern. Das Bodenständige wird wieder salonfähig, das Interesse am Althergebrachten wächst.

Für Volkskundler Jontes eine gute Entwicklung: „Im Zeitalter der Globalisierung, wo Welt überschwemmt wird mit globalen Brauchtümern, ist umso wichtiger, lokales Brauchtum zu erhalten und zu fördern“, betont der emeritierte Professor, der sich als Mitglied der historischen Landeskommission für Steiermark bis heute mit der österreichischen Kulturgeschichte beschäftigt. Auch er beobachtet, dass man sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten wieder verstärkt auf Althergebrachtes besinnt. „Es dauert oft lange, bis man sich erinnert, dass es da Bräuche gab, die sich nutzen lassen – ob touristisch oder um Gemeinschaft und Identität zu schaffen“, so der Volkskundeprofessor.

Allerdings: „Dass jetzt wieder mehr Leute Lederhosen tragen, hat noch nichts mit lebendigem Brauchtum zu tun“, sagt der Bad Goiserner Bürgermeiste Peter Ellmer. Aber auch er spürt, dass das Bodenständige wieder stärker ins Bewusstsein rückt, man sich wieder eher traut, dazu zu stehen. Diese Bewegung stärkt auch die Brauchtumsvereine, die innerhalb der Gemeinden wichtige Brückenbauerfunktionen haben. Denn „Es ist wichtig, dass die Menschen einander kennen, miteinander verbunden sind. Dazu trägt lebendiges Brauchtum bei – vor allem dann, wenn es gemeinsam gelebt und gestaltet wird“, bestätigt auch Professor Günter Jontes. 

Brauchtum schafft Bindung

Diese Einschätzung teilen viele Bürgermeister. Überall dort, wo Brauchtümer fest verankert sind, wird ihr Wert hoch geschätzt.

„Keine Frage, dass Brauchtum für die Gemeinden sehr wichtig ist. Man erreicht darüber einen großen Teil der Bevölkerung und fördert die Gemeinschaft“, betont etwa der St. Johanner Bürgermeister Günther Mitterer, der sich deshalb auch ganz selbstverständlich als Partner und Unterstützer der Vereine sieht.

Gemeinsam mit den Nachbargemeinden Altenmarkt, Bischofshofen und Bad Gastein ist St. Johann für den „Pongauer Perchtlauf“ bekannt, der jährlich seinen Schauplatz unter den vier Gemeinden wechselt. In St. Johann zählt der traditionelle Umzug der Schönperchten am 6. Jänner an die 400 Mitwirkende, aufgeteilt in 34 Gruppen bzw. Einzelfiguren.

Auch im steirischen Murau genießen alte Bräuche hohen Stellenwert und werden von der Gemeinde so gut es geht unterstützt. Der Samsonumzug, bei dem der fast sieben Meter hohe und 100 kg schwere Samsonriese einen ganzen Tag lang durch den Ort getragen wird, hat es sogar in die Liste des Immateriellen Kulturerbes geschafft.

„Das hat nicht nur einen hohen historischen Wert bei uns, sondern auch einen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen“, sagt Bürgermeister Thomas Kalcher. Keine Frage, dass die Bürgermeister immer dahinter waren, diesen Brauch zu erhalten: „Vor 30 Jahren etwa schaute es für den Fortbestand unserer Bürgergarde einmal gar nicht gut aus. Da haben Einzelpersonen und der damalige Bürgermeister, mein Vater, eine breit angelegte Initiative gestartet, um aus der gesamten Bürgerschaft wieder Leute zu ,rekrutieren‘, die den Verein und damit den Brauch weitertragen wollten“, erzählt er.

Samson-Umzug in Murau
Die Bürgergarde in Murau, die den Samson-Umzug organisiert.

Auch in der Region um Retz waren es die Gemeinden, die vor 25 Jahren das Retzer Kürbisfest als folkloristisches Erntedankfest ins Leben gerufen und zu einem gelebten Brauchtum entwickelt haben. „Beim Kürbisfest ist die ganze Stadt auf den Beinen: Die einen an den Ständen, die anderen beim Konsumieren. Das fördert die Kommunikation und bringt die Leute wieder zusammen“, ist der Retzer Bürgermeister Helmut Koch überzeugt. 

„Was man von oben einführen will, hält sich nicht lange.“

Doch allein können die Gemeinden Bräuche nicht lebendig machen und halten: „Unsere Brauchtumsvereine fördern das dörfliche Leben und holen auch die jungen Menschen mit ins Boot. Das finde ich besonders wichtig: Alt und Jung finden sich, lernen voneinander, arbeiten zusammen. Gerade im Brauchtum verschmelzen die Generationen“, so Bürgermeister Peter Ellmer, und fügt hinzu: „Das kann man aber nicht erzwingen. Wenn man ,von oben‘ etwas einführen will, weil es vielleicht ganz schön wäre, dieses oder jenes in der Gemeinde zu haben, dann hält sich das nicht lange. Gerade das Brauchtum muss von innen heraus gelebt werden.“

Volkskultur als Teil des kulturellen Lebens

1299 Brauchtumsvereine gab es laut Statistik Austria im Jahr 2015 in Österreich, dazu kommen 2167 Blasmusikkapellen. Volkskulturelle Vereine sind also flächendeckend in ganz Österreich Teil des kulturellen Lebens. Auch die Gemeinde St. Gallenkirch im Montafon erfreut sich eines regen Vereinslebens.

Die vielen traditionellen „Funkenfeuer“, immer am Wochenende nach dem Aschermittwoch, werden von unterschiedlichen Funkenzünften getragen. Ein besonderer Höhepunkt ist dabei das einzigartige Scheibenschlagen, wie es in der Ortschaft Gortipohl praktiziert wird. „Die Funken werden, wie die Traditionen insgesamt, vor allem von den Vereinen getragen. Sie halten auch kirchliche Brauchtümer am Leben“, so Bürgermeister Josef Lechthaler aus St. Gallenkirch. 

Lokale Besonderheiten

In vielen Gemeinden gibt es neben regionalen Traditionen auch einzigartige Bräuche.

Ein solcher ist der Bad Eisenkappler „Kirchleintragen“. Entstanden nach einer lokalen Hochwasserkatastrophe, werden alljährlich zu Mariä Lichtmess Kirchlein aus Papier und Holz, im Inneren von einer Kerze beleuchtet, in einer bunten Lichterprozession unter lautem Geschrei des einer Litanei ähnlichen Spruches: „Ante pante populore, kocle vrate cvilelore“ zur Schlossbrücke getragen und dort den Fluten des Vellachbaches übergeben.

„Das Kirchleintragen verbindet die Bevölkerung: Kindergarten und Schulen basteln die Kirchlein und sind ganz stark beteiligt, die Kinder haben dann sogar am Tag nach dem Umzug schulfrei. Und zum Umzug kommen viele ehemalige Bad Eisenkappler zurück, damit auch ihre Kinder und Enkel mit dabei sein und dieses Brauchtum erleben können“, so Bürgermeister Smrtnik. Die einzigartige Tradition macht Bad Eisenkappel außerdem in ganz Kärnten bekannt und bringt viele Besucher in die Gemeinde.

Wie eng die Verbindungen zwischen Gemeinde und Brauchtum mancherorts sind, zeigt ein Blick in die Tiroler Gemeinde Telfs. Denn dort gibt es eine Besonderheit: Immer ist der amtierende Bürgermeister zugleich Fasnachtsobmann und damit in zweifacher Hinsicht für das „Telfer Schleicherlaufen“ verantwortlich.

Alle fünf Jahre bringt die ursprüngliche Fasnachtsveranstaltung mit ihren typischen Masken bis zu 20.000 Zuschauer in die Gemeinde, 500 Fasnachtler sind aktiv beteiligt und ein großer Teil der Telfer Bevölkerung ist durch das Herrichten der Gewänder, das Ausbessern des Schmucks etc. in die Fasnachtsvorbereitungen eingebunden.

Das Telfser Schleicherlaufen
Das Telfser Schleicherlaufen. Foto: MG Telfs/Dietrich

Keine Frage, dass eine Veranstaltung dieser Größenordnung nur mit gemeinsamer Anstrengung zu bewältigen ist. Bürgermeister Christian Härting: „Alle fünf Jahre entscheidet man sich im Vorjahr, ob man in die Fasnacht geht. Das ist ein Ritual, aber für uns ist klar, dass die Antwort immer JA ist.“ Aus Telfs wegzudenken ist das Brauchtum auf keinen Fall, viel zu stark ist die gesamte Bevölkerung damit verbunden. „Unsere Fasnachtsgruppen haben keine Nachwuchsprobleme, die müssen eher schauen, dass sie nicht zu groß werden. Die Jungen stieren da voll drauf (drängen nach)“, so der Bürgermeister. 

Die Jungen vom „Alten“ begeistern

Apropos Junge: Die Bürgermeister sehen im Brauchtum durchaus einen Anker für all jene, die wegen Ausbildung und Beruf die Gemeinden zumindest kurzzeitig verlassen.

„Es gibt bei uns viele Beispiele, wo die jungen Leute, die in Salzburg oder Wien oder anderswo studieren, jede Woche zurück nach Goisern kommen, weil sie zur Musikprobe oder zum Schützenverein gehen. Da halten die Vereine die Verbindung zum Ort aufrecht“, beobachtet Peter Ellmer, Bürgermeister in Bad Goisern.

Goisern ist eine der wenigen Gemeinden im Salzkammergut, in der der traditionelle „Salzkammergut Vogelfang“ bis heute praktiziert wird. Die Vogelfänger sind seit mehr als 150 Jahren in Vereinen organisiert, die aktiv am dörflichen Leben teilnehmen. Im Herbst rücken sie zum Vogelfang aus und präsentieren die Vögel bei der traditionellen Ausstellung rund um Kathrein. Die Vogelfreunde sind grundsätzlich kleine Gruppierungen, doch gerade in den letzten Jahren kommen wieder mehr Junge und Neue dazu. 

Der Vogelfang-Umzug in Goisern.
Der Vogelfang-Umzug in Goisern.Bad 

„Es wird die Zukunft sein, Brauchtümer wieder zu leben.“

Anders stellt sich Lage in Murau dar: „Es gab immer ein Auf und Ab, was die personelle Ausstattung unserer Bürgergarde (Anm.: organisiert den Samsonumzug) betrifft. Es ist eine ständige Aufgabe, junge Menschen für diese Traditionsvereine zu begeistern. Dazu braucht es ein gemeinsames Bemühen aller im Ort“, so Bürgermeister Kalcher. Denn für identitätsstiftend hält er die Bräuche jedenfalls, genau wie sein Salzburger Amtskollege Günter Mitterer: „Wenn ich mich wo wohlfühle, komme ich eher wieder – und gerade die Vereine und Brauchtümer erzeugen da eine starke Bindung“, meint er.

Ähnlich sieht es Bürgermeister Härting aus Telfs: „Es hat natürlich viel mit Verwurzelung, zu tun, ein Brauchtum zu leben. Ich beobachte es so: Wer bei der Fasnacht dabei ist, der engagiert und interessiert sich auch rundherum besonders für Telfs und hat allein dadurch einen Bezug und eine Bindung.“ Für die Gemeinden ist also klar: Der Erhalt, die Weiterentwicklung und auch Initiierung von Bräuchen und Traditionen ist – gerade im ländlichen Raum (über-)lebenswichtig. Oder, wie es Bürgermeister Koch aus Retz formuliert: „Es wird die Zukunft sein, Brauchtümer wieder zu leben – weil sie die Menschen zusammenbringen und für Kommunikation sorgen.“

Traditionsbewusstsein: Eine Geldfrage?

Doch: Einer aktuellen Umfrage zufolge investieren die Gemeinden heuer in den Bereich „Freizeit, Tourismus, Kunst & Kultur“ 239 Millionen Euro (Harald Pitters, „Gemeindeinvestitionsbericht 2019“, Seite 10). Das ist nur etwa die Hälfte dessen, was noch im vorigen Jahr ausgegeben wurde. Ist es also eine Frage des Geldes, ob Bräuche auch an die nächsten Generationen überliefert werden können?

„Man muss sich das leisten wollen! Und jeder investierte Euro kommt doppelt zurück“, hat Bürgermeister Helmut Koch eine klare Meinung. Bürgermeister Härting, der alle fünf Jahre 100.000 Euro aus der Gemeindekassa ins Telfer Schleicherlaufen investiert, betont: „Natürlich lässt sich der Wert nicht ausschließlich in Zahlen berechnen, auch wenn natürlich Betriebe und Gastronomie rund um die Fasnacht den einen oder anderen Euro umsetzen können. Aber es geht noch um mehr.“ Nämlich um Image- und Gemeinschaftspflege, die nach Ansicht der Bürgermeister eine große Umwegrentabilität erzeugen.

„Gerade heute, wo man durch die sozialen Medien und andere Kanäle unglaubliche Breitenwirkung mit den Veranstaltungen erzielen kann“, meint Bürgermeister Kalcher aus Murau. Doch es bedarf natürlich einiger Anstrengung, die finanziellen Mittel für die Brauchtumspflege zur Verfügung zu stellen.

„Gelebtes Brauchtum kostet Geld. Und es ist eine Herausforderung, diese Kosten in den öffentlichen Haushalten unterzubringen. Ich denke aber, die Gemeinden sind gut beraten, Vereine nach ihren Möglichkeiten zu unterstützen – und die allermeisten tun das auch. Denn das kommt mehrfach zurück – wenn auch nicht ausschließlich finanziell“, so der St. Johanner Bürgermeister Günter Mitterer, zugleich Präsident des Salzburger Gemeindebundes. 

„Menschen, die sich mit dem Brauchtum befassen, sind ein Segen.“

Ganz klar: Ohne die Eigenleistung in den unterschiedlichen Vereinen wäre die Brauchtumspflege nicht leistbar. „Bei über 100 Vereinen in Goisern sind wir auf die Eigenständigkeit angewiesen. Aber ich glaube, man muss vermitteln: Wenn einmal der Hut brennt, dann sind wir da“, so Bürgermeister Ellmer. Oft geht es bei der Unterstützung der Vereine nicht nur um Geldleistungen: Lokalitäten, Haftungsfragen oder ein ehrliches Danke für die geleistete Arbeit zählen genauso.

„Der Aufwand, den die Einzelnen einbringen, ist unbezahlbar. Die Fasnachtler sind bei uns im Vorfeld des Schleicherlaufens zwei bis drei Monate fast im Dauereinsatz“, so Christian Härting. Das sieht auch sein Amtskollege aus Bad Goisern so: „Menschen, die sich so mit dem Brauchtum befassen, sind ein Segen. Sie vermitteln ein Wertegefühl und begeistern andere“, so Peter Ellmer.