Bargeld in einer Kassa
Kartenzahlungen haben viele Vorteile. Bargeld aber auch.
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Warum Europa über Digitalisierung neu nachdenkt

Drei Stunden Systemausfall in Dänemark, Schwedens Kehrtwende vom digitalen Vorreiter zurück zum Bargeld – Nordeuropa zeigt die Grenzen ungezügelter Digitalisierung auf. Die Lehre: Digitalisierung braucht Resilienz, Redundanz und ein Bewusstsein für ihre Verwundbarkeiten. Ein Plädoyer für den ausgewogenen Weg.

Es ist ein sonniger Sommertag 2025 an der Mautbrücke über den Großen Belt in Dänemark. Hunderte Autos stauen sich. Die Fahrer sind nervös, einige bereits aggressiv. Der Grund: Das digitale Kartenzahlsystem des Dienstleisters Nets ist ausgefallen. Nur drei Stunden lang – auch wenn einzelne alternative Zahlwege weiterhin funktionierten, reichten diese drei Stunden für Chaos. Schranken werden beschädigt, das Brückenpersonal angegriffen. Als das System wieder läuft, ist eine Gewissheit erschüttert: Die bargeldlose Gesellschaft ist verwundbarer, als viele gedacht hatten.

"Der dünne Firnis der Zivilisation ist in solchen Situationen schnell ab", fasst die österreichische Tageszeitung „Der Standard“ den Vorfall nüchtern zusammen. Was in Dänemark an jenem Tag sichtbar wurde, beschäftigt mittlerweile ganz Nordeuropa: Wie abhängig darf sich eine moderne Gesellschaft vom funktionierenden Internet, vom Strom, von amerikanischen Zahlungsdienstleistern machen?

Schwedens bemerkenswerte Kehrtwende

Die Antwort kommt ausgerechnet aus jenem Land, das jahrelang als leuchtendes Vorbild der digitalen Zukunft galt. Schweden, wo 2023 noch 90 Prozent der Bevölkerung per Karte oder App zahlten, wo Bargeldnutzung als so altmodisch galt, dass selbst die Bankomatkarte als "retro" durchging. J

etzt ruft Erik Thedeen, der Chef der schwedischen Notenbank, sein Volk dazu auf, sich wieder mit Bargeld einzudecken. „Wenn alles zusammenbricht, brauchen wir Bargeld. Wir haben ja eine neue sicherheitspolitische Ordnung, und es ist klar, dass ein kleines Land in Nordeuropa etwas besorgter ist. Wenn man nicht bezahlen kann, kommt die Gesellschaft zum Stillstand.“

Eine Zivilschutzbehörde schlägt Alarm

Die schwedische Zivilschutzbehörde MSB hat mittlerweile eine klare Empfehlung ausgesprochen: Jeder Haushalt solle Bargeld für mindestens eine Woche vorrätig haben. Eine bemerkenswerte Kehrtwende für ein Land, in dem Bargeld in vielen Geschäften bereits nicht mehr akzeptiert wurde.

Was ist passiert? Die Antwort hat viel mit der veränderten geopolitischen Lage zu tun. Hybride Kriegsführung, Cyberangriffe auf kritische Infrastruktur, die Erkenntnis, dass Zahlungssysteme genauso verwundbar sind wie Stromnetze oder Kommunikationsinfrastruktur. Die schwedische Zentralbank stuft die Bedrohungslage für den Finanzsektor mittlerweile als hoch ein.

Dänemark und Norwegen ziehen nach. Und während die schwedische Regierung nun Lebensmittelgeschäfte und Apotheken wieder zur Bargeldannahme verpflichten will, arbeiten Finnland, Schweden, Norwegen, Dänemark und Estland gemeinsam an einer Bezahlkarte, die auch ohne Internet funktioniert. Eine bemerkenswerte Kehrtwende für Länder, die das Bargeld fast vollständig abgeschafft hatten.

Das Klumpenrisiko: Wenn Visa und Mastercard die Macht haben

Der finnische Notenbanker Tuomas Valimaki bringt das Problem auf den Punkt. In einem Interview warnt er eindringlich vor der einseitigen Abhängigkeit Europas von wenigen Zahlungsanbietern. „Wir haben vielleicht das Gefühl, dass wir Optionen haben, mit Debit oder Kredit, oder beispielsweise mit Apple Pay zu zahlen. Aber all das funktioniert über die Infrastruktur von Visa und Mastercard. Wir sollten die Abhängigkeit von Kartenzahlungen verringern.“

Die Zahlen belegen diese Abhängigkeit eindrücklich: Rund zwei Drittel aller elektronischen Zahlungen im Handel im Euroraum werden nach den Vorgaben von nur zwei Zahlungsanbietern im EU-Ausland durchgeführt. In Österreich sind es bei Kartenzahlungen sogar mehr als 80 Prozent.

Mehrere Risiko-Ebenen

Stefan Schnitzler von der Unternehmensberatung Eurogroup Consulting fasst die verschiedenen Risiko-Ebenen zusammen: „Wir haben die geopolitischen Risiken, eine Cyberattacke könnte alle Akteure betreffen. Die Banken, die Payment Services Austria, die die Verbindung herstellt zu Visa und Mastercard. Wir haben zweitens das Risiko der systemischen Abhängigkeit. Würden die USA plötzlich sagen, man bediene bestimmte Länder nicht mehr, wäre Sendepause bei Google Pay oder Apple Pay.“

Die Infrastruktur-Frage

Rainer Schamberger, ein ausgewiesener Bankenexperte, ergänzt einen weiteren wichtigen Aspekt, der bei der ganzen Digitalisierungs-Euphorie oft vergessen wird: „Bloß, wenn der Strom weg ist, hilft mir der Bankomat auch nichts. Um den fein ziselierten Geldkreislauf aufrecht zu halten, braucht es Strom, Internet und Telekommunikation. Nicht nur der Bezahlende braucht Geld, der Händler muss es auch annehmen können. Wäre das nicht möglich, kämen vorsintflutliche Praktiken wieder zum Zug: Im Geschäft anschreiben lassen, wie früher, und später nachtragen.“

Die Vorteile der Digitalisierung – nicht verschweigen

Bei aller berechtigten Kritik an ungezügelter Digitalisierung dürfen die unbestreitbaren Vorteile nicht verschwiegen werden. Digitale Zahlungssysteme haben das Leben für Millionen Menschen erleichtert:

  • Effizienz und Geschwindigkeit: Transaktionen werden in Sekundenbruchteilen abgewickelt, was den Handel beschleunigt und Warteschlangen verkürzt.
  • Transparenz und Nachvollziehbarkeit: Jede Zahlung hinterlässt eine digitale Spur, was Buchhaltung vereinfacht und Steuerhinterziehung erschwert.
  • Hygiene und Sicherheit: Kontaktloses Bezahlen reduziert physischen Kontakt – ein Vorteil, der während der Pandemie besonders deutlich wurde.
  • Globale Vernetzung: Digitale Zahlungen ermöglichen grenzüberschreitenden Handel und Dienstleistungen ohne Währungswechsel-Hürden.
  • Innovation und neue Dienste: Vom Online-Shopping bis zu Mikrozahlungen – digitale Systeme haben völlig neue Geschäftsmodelle ermöglicht.
  • Kostenreduktion: Für Händler sind digitale Zahlungen oft günstiger als Bargeldhandling mit Transport, Zählung und Versicherung.

Diese Vorteile sind real und haben die Lebensqualität verbessert. Die Frage ist nicht "digital oder analog", sondern: Wie nutzen wir die Vorteile der Digitalisierung, ohne uns gefährlich abhängig zu machen?

Die Lehren aus dem Norden

Was können kommunale Entscheidungsträger aus den skandinavischen Erfahrungen lernen? Hans-Gert Penzel, der ehemalige EZB-Generaldirektor, plädiert für einen differenzierten Ansatz:

„Bargeld ist tendenziell dezentral und schafft ein gutes Back-up in Krisen. Es abzuschaffen wäre töricht. Allerdings reichen aus meiner Sicht Bargeldquoten von 20 Prozent, statt wie in Deutschland oder Österreich noch fast 50 Prozent. Schweden ist tendenziell an der Untergrenze angelangt.“ 

Lehren

Diese Einschätzung eines ausgewiesenen Experten weist den Weg: Die Lösung liegt nicht im Entweder-Oder, sondern im Sowohl-als-auch. Vier konkrete Lehren lassen sich ziehen:

  1. Digitalisierung ist kein Selbstzweck. Sie muss resilient sein, sie muss Alternativen zulassen, sie darf nicht in neue Abhängigkeiten führen. Die Schweden haben das schmerzhaft lernen müssen.
  2. Zweitens: Infrastruktur ist mehr als Effizienz. Die Bargeldversorgung mag teurer sein als reine Kartenzahlung, aber sie erfüllt eine gesellschaftliche Funktion. Sie ist inklusiv, sie ist krisenresistent, sie schützt Privatsphäre.
  3. Redundanz ist ein Wert an sich. Ein robustes System braucht Backup-Lösungen. Bargeld ist die einfachste Form von Redundanz im Zahlungsverkehr. In Krisenzeiten zeigt sich, was wirklich trägt.
  4. Die Balance ist entscheidend. Weder die vollständige Abschaffung des Bargelds (wie fast in Schweden) noch die Ablehnung digitaler Innovation sind der richtige Weg. Die Mischung macht's.

Österreichs pragmatischer Ansatz

Österreich scheint mit seiner Mischung aus Tradition und Innovation auf einem guten Weg zu sein. Die hohe Bargeldquote von 50 Prozent ist vielleicht gar nicht rückständig, sondern eine robuste Absicherung. Die gleichzeitige Offenheit für digitale Zahlungsmethoden und die aktive Beteiligung an europäischen Digitalisierungsprojekten zeigen, dass man die Zukunft nicht verschläft.

In einer Zeit, in der hybride Kriege geführt werden, in der kritische Infrastruktur verwundbar ist, in der die Abhängigkeit von amerikanischen Tech-Konzernen wächst, ist die Möglichkeit, auch offline, auch ohne Smartphone, auch ohne Internetverbindung am Wirtschaftsleben teilnehmen zu können, tatsächlich ein Stück Freiheit und Sicherheit.

Die Schweden haben das erkannt – nach Jahren der Euphorie über die bargeldlose Gesellschaft. Österreich hatte diese Euphorie nie. Vielleicht war das gar nicht so schlecht.

Bargeld in Europa

Bargeldnutzung im Vergleich (2023/2024; Anteil der Transaktionen am Point of Sale):
Schweden: 10% Bargeld, 90% digital
Österreich: rund 56% Bargeld, rund 44% digital
Deutschland/Österreich: ca. 50% Bargeldquote
Empfohlene Mindestquote (Penzel): 20%

Abhängigkeit von US-Anbietern:

2/3 aller elektronischen Zahlungen im Euroraum über US-Anbieter
Über 80% der Kartenzahlungen in Österreich über nur zwei Zahlungsanbieter im EU-Ausland

Politische Unterstützung für Bargeld in Österreich:

530.000 Österreicher: Volksbegehren für Bargeldzahlung
65% der Österreicher: für Bargeld in der Verfassung (OGM-Umfrage)

Quellen

Der Standard (8./9. November 2025, Artikel "Retro statt Risiko" von Regina Bruckner und Isabella Hain), Oesterreichische Nationalbank (www.oenb.at), Sveriges Riksbank, Europäische Zentralbank, diverse Fachpublikationen und Experteninterviews