Europarat
Der Europarat beschloss eine Empfehlung an die Mitgliedstaaten über die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger am lokalen öffentlichen Leben.
© www.coe.int

Selbstverwaltung ist Wesenselement Europas

Die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung ist weltweit das einzige völkerrechtliche Abkommen, das überprüfbare Kriterien für die Gemeindeautonomie enthält. Am 1. September 2018 jährte sich zum dreißigsten Mal ihr Inkrafttreten.

Die Präambel beschreibt die kommunale Selbstverwaltung als ein Wesenselement des europäischen Gesellschaftsmodells, denn „die kommunalen Gebietskörperschaften [sind] eine der wesentlichen Grundlagen jeder demokratischen Staatsform“. Die Mitgliedstaaten verpflichteten sich u. a. zu Konsultationen mit den kommunalen Dachverbänden, zur freien Ausübung kommunaler Wahlmandate, zu einer ausreichenden Finanzausstattung und zur Einführung von Rechtsmitteln zur Verteidigung der Gemeindeautonomie. Die Einhaltung der Bestimmungen der Charta durch alle 47 Mitgliedstaaten des Europarats wird vom Kongress der Gemeinden und Regionen alle fünf Jahre überprüft.

Trend zur (Re-)Zentralisierung von Zuständigkeiten

Eine Analyse der Monitoring-Berichte des Kongresses der letzten acht Jahre zeigt, dass unzureichende Finanzausstattung, die restriktive Definition und Ausübung kommunaler Zuständigkeiten und das Fehlen transparenter Konsultation Teil eines Trends zu einer (Re-)Zentralisierung von Zuständigkeiten sind. Meist beanstandet der Kongress eine stark eingeschränkte Entscheidungsfreiheit der Gemeindeorgane in finanziellen Fragen.

Stärkere Beteiligung der kommunalen Dachverbände in Finanzfragen gefordert

Der Kongress fordert eine stärkere Beteiligung der kommunalen Dachverbände in Finanzfragen, einschließlich der Gesetzesfolgenabschätzung für neue Vorschriften. Ausreichend diversifizierte Einnahmen sollen stabilere Gemeindefinanzen bringen.

Manche Rechtsordnungen tendieren dazu, die Zuständigkeiten von Gemeinden restriktiv zu definieren. Spanien schränkte 2013 eine Generalklausel für die Zuständigkeit der Gemeinden  stark ein, was dazu führte, dass die Gemeinden nicht rasch auf neue Herausforderungen, wie etwa die Flüchtlingskrise, reagieren konnten, weil ihnen die Zuständigkeiten und die Mittel fehlten.

Die Rechtslage in der Slowakischen Republik verbietet eine extensive oder dynamische Auslegung der Gemeindekompetenzen. Dies führt in Zweifelsfällen dazu, dass eine Gemeinde mangels ausdrücklicher Ermächtigung nicht tätig werden kann. Auch in anderen Staaten zeigt sich eine Tendenz, Residualklauseln zu Lasten der Gemeinden zu verändern. Dieser Trend geht auch auf Kosten der Anwendung des Subsidiaritätsprinzips.

Trend zu strengerer Gemeindeaufsicht durch übergeordnete Ebenen

Besorgniserregend ist auch der Trend zu strengerer Gemeindeaufsicht durch übergeordnete Ebenen. War in den vergangenen Jahrzehnen eine Tendenz zu spüren, wonach Genehmigungen vor Beschlussfassungen oder Ex-ante-Kontrollen abgeschafft wurden, so feierten im Beobachtungszeitraum Zweckmäßigkeitsprüfungen und  -kontrollen eine Auferstehung; teilweise verkleidet als Notwendigkeit zur „Koordination“, um Vorhaben zu harmonisieren oder gemeindeübergreifende Projekte auf Wunsch der Aufsichtsbehörden in Gang zu setzen.

Anlässlich des dreißigjährigen Bestehens der Charta stellt sich die Frage, ob die Bestimmungen noch zeitgemäß sind. Ermutigend sind in diesem Zusammenhang die kürzlich vom Ministerkomitee des Europarats angenommenen Leitlinien für die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an politischen Entscheidungsprozessen vom 27. September 2017.

Bekenntnis des Europarats zur kommunalen Demokratie

Am 21. März 2018 ging das Ministerkomitee noch weiter und beschloss eine Empfehlung an die Mitgliedstaaten über die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger am lokalen öffentlichen Leben. Dieser Meilenstein im Bekenntnis des Europarats zur kommunalen Demokratie verweist auf zahlreiche Eckpfeiler der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung.

Es liegt in der Natur der Sache, dass anlässlich eines Jubiläums versucht wird, für die Zukunft auf der Grundlage der bisherigen Erfahrungen weitere Verbesserungen zu erreichen. Die erwähnten Tendenzen mögen daher den Eindruck erwecken, dass es um die kommunale Selbstverwaltung in Europa schlecht bestellt sei. Dies ist die eine Seite der Medaille, die die bestehenden Mängel und den Verbesserungsbedarf herausarbeitet.

Auf der anderen Seite konstatierte der Kongress in nahezu allen seiner Monitoring-Berichte Fortschritte bei der Anwendung der Charta. Der Fünf-Jahres-Rhythmus der Monitoring-Besuche erlaubt es den Regierungen und Parlamenten der Mitgliedstaaten, Reformprogramme zu initiieren, umzusetzen und zu evaluieren. Deren Ergebnisse werden in den kommenden Jahren sichtbar und können dann vor dem Hintergrund der Charta bewertet werden.

Im Jahr 2019 bestehen mehrere Gelegenheiten, an die in der Präambel zur Charta der kommunalen Selbstverwaltung zum Ausdruck gebrachten Grundsätze zu erinnern: das 25. Gründungsjubiläums des Kongresses vom Frühjahr 1994 und der 70. Jahrestag der Gründung des Europarats am 5. Mai 1949. Davon kann ein neuer Impuls ausgehen, die kommunale Selbstverwaltung als Wesensmerkmal des pluralistischen europäischen Gesellschaftsmodells zu sichern und weiter zu entwickeln. Und: Im Jahr 2019 steht wieder ein Monitoring des Kongresses in Österreich auf dem Arbeitsprogramm.