Matthias Horx auf Bühne
Matthias Horx: „In Österreich gibt immer mehr urbanisierte Regionen und Dörfer.“
© Event-Fotograf/Gemeindebund

Die „Progressive Provinz“

16. September 2019
Zukunftsforscher Matthias Horx sprach bei den Kommunalen Sommergespräche darüber, warum Regionen, Städte und Gemeinden eine Zukunft haben. Trends der Urbanisierung und der Lokalisierung verbinden sich und bedingen neue Wohnformen und urbanisierte Dörfer und Regionen, so Horx.

Horx erläuterte zu Beginn die großen Megatrends unserer Zeit. Die Urbanisierung ist dabei ein weltweites Phänomen, das etwa in China mittlerweile 30 Städte mit mehr als 8 Millionen Einwohnern hervorgebracht hat.

“Jeder Megatrend erzeugt auch einen Gegentrend, woraus neue Möglichkeiten entstehen”, betonte Horx und verwies auf den wachsenden Trend der “Glokalisierung”, also die Verbindung von globalem und lokalem Denken und Handeln. Für ihn gibt es deswegen auch nicht den Widerspruch Stadt gegen Land, sondern nur die Frage, wie beide voneinander profitieren können.

Urbanisierte Dörfer und Regionen

Städte in Europa zeigen ein anderes Bild als die schnell wachsenden industriellen Städte. “Das langsame Wachstum der europäischen Städte seit dem Mittelalter brachte die Grundform ziviler Lebensgestaltung hervor. Rund um den Marktplatz haben sich Menschen angesiedelt und so für langsames Wachstum gesorgt”, so Horx. Gewerbe, Handel, Produktion und Wohnen haben sich ihre Räume geschaffen und dabei ein Miteinander auf kurzen Wegen ermöglicht. Im Gegensatz zu den großen Reißbrett-Städten.

In Österreich gibt es laut Horx immer mehr urbanisierte Regionen und Dörfer. Vor allem entlang der West- und Südachsen siedeln urban denkende Menschen, die neue Kreativität in die Regionen bringen und diese auch von den Gemeinden erwarten. Die “progressive Provinz” zeigt dabei Weltoffenheit, Neugier und Mut.

Die “Architektur des Dorfes”, also das bekannte Bild vom Dorfplatz mit der Kirche und den verschiedensten Kommunikationsräumen, hält Einzug in die Stadtplanung und führt auch zu einer Re-Regionalisierung. Die Trends der Urbanisierung und der Heimatssehnsucht sollten aus Sicht von Horx kombiniert werden und eine neue lokale Ökonomie ermöglichen.

Neue Trends in den Regionen

Für die Zukunft von Regionen sind für den Zukunftsforscher folgende Bereiche wichtig: Verkehrsanbindung und schnelles Internet, landschaftliche Schönheit, Arbeitsplätze, Subventionen des Zentralstaates, kreative Ideen und positive Kooperation und Aktivität der Bürger.

Blühende Dörfer und Regionen brauchen deswegen aktive Heimkehrer, lokale Kreative, die neue Ideen bringen, ein klares Selbstverständnis für die Geschichte des Ortes, die auch die Zukunft prägt, mutige Projekte, die Menschen stolz machen, traditionsreiche Weltoffenheit, Kooperationsgeist über Gemeindegrenzen hinweg sowie Selbstvertrauen und Jammerverzicht.

Für KOMMUNAL nahm sich Matthias Horx Zeit für ein paar ergänzende Fragen:

Das Beispiel „Flexitarismus“ aus ihrem Vortrag ist aus meiner Sicht auch eine Frage der Bildung. Ist die Bildung der Angelpunkt, um mit Veränderungen besser umgehen zu können?

Horx: Immer. Aber wir müssen uns auch bewusst sein, dass das ein Allgemeinplatz ist. Auf vielen Reden, die ich kenne, sagt man ‚Bildung‘, wenn einem nichts mehr einfällt.

Bildung ist ja nicht nur Abschlüsse und Spezialisierungen, sondern ist letzten Endes auch Herzensbildung, ist Weltverständnis und vieles, was man unter menschliche Kompetenz versteht. Das haben wir aber oft zu sehr formalisiert. Bildung muss man heute neu denken.

Ein Beispiel, wo das in die falsche Richtung gegangen ist: Wir hatten einmal den Begriff der Wissensökonomie verbreitet. Der Hintergedanke, war, dass wenn das Wissen im Internet – Wikipedia – ist und jeder hat Zugang zu allem Wissen, dann wären wir alle klug. Es ist aber eher das Gegenteil der Fall, weil wir gewissenmaßen Wissen ins Internet auslagern. Es hat noch sehr viel mehr psychologische Komponenten – es gibt durchaus hochgebildete, die auf gewisse Art menschlich ganz ungebildet sind.

Diese Art der Wesens- oder Herzensbildung kann man aber nicht an Schulen auslagern.

Eine gute Schule kann das. Die kann auch Problematiken, die aus dem Elternhaus kommen, kompensieren. Unser Bildungssystem ist stark geprägt von der Idee der Ausbildung für den späteren Beruf. Aber das menschliche Wesen braucht auch sowas wie Werte, wie Haltung, wie Verankerung und mehr.

Heute haben wir eine ganz starke Tendenz zu einem manchmal apokalyptischen Pessimismus – Angst ist immer etwas, was die Menschen verformt. Die politischen Debatten, die wir heute haben, der ganze Hass, der entsteht ja letztendlich aus Angst.

Die von Ihnen angesprochen Systematik von „Trend und Gegentrend“ wird bei jenen, die sich für benachteiligt halten, vermutlich eine Menge Angst auslösen. Und wenn Angst Gewalt erzeugt, steigt auch das Konfliktpotenzial.

Eben, aber das war nie anders. In unserer Zeit, wo alles nach dem Aufbau des materiellen Wohlstands strebt, da sind die Dinge einfach. Nach den 30, 40 Jahren des Aufbaus kommen wir in eine Phase der notwendigen Irritation. Es ist einfach nicht mehr sicher, dass uns die weitere Steigerung des Bruttosozialproduktes eine höhere Lebensqualität verschafft.

Auf der anderen Seite ist es eine Chance, unsere Wertigkeiten zu überdenken. Das spiegelt sich auch in der Kommunalpolitik. Wenn man früher dachte, man muss was tun, hieß es, wir brauchen ein neues Gewerbegebiet. Heute fängt man langsam an, darüber nachzudenken, dass es auch sowas wie die Seele eines Ortes, ihre Bewohner und die Kommunikation untereinander gibt. Die Frage des Verhältnisses zu den Bewohnern stellt sich heute auch oft – und oft mit der Conclusio, dass wir eine neue Form von Demokratie brauchen.

Wir nennen das auch „design Democracy“ – wir brauchen eine neue Form der Demokratie, eine, die tatsächlich funktioniert, um nicht nur Unmut, Protest und „wir wollen mehr Subvention-Stimmung“ zu schüren, sondern mehr Partizipation zu generieren. Hier kann man sich aber Beispiele aus den Angelsächsischen Ländern oder vor allem aus den skandinavischen Ländern ansehen, die sind teils viel weiter als wir.

Wo dieser neue Weg funktioniert, ist es großartig, dort wo nicht, führt es zum Zerfall von gewachsenen Strukturen.

Reicht die Zeit, dass wir die von Ihnen angesprochene „notwendige Irritation“ auch erleben?

Die Rufe, dass wir „keine Zeit mehr hätten“, ist der üblich Alarmismus. Wir haben so viel Zeit, wie wir uns Zeit nehmen. Die Menschen sind immer schon adaptiv gewesen, haben sich angepasst und soziale Strukturen und Techniken entwickelt, um überall auf der Welt überleben zu können. Wir werden auch auf einem wärmeren Planeten überleben. Müssen. Oder können.

Das ist aber gar nicht die Frage. Ich halte es für einen Trick, um Aufmerksamkeit zu erreichen. Im Moment werden alle Leute hektisch, haben das aber im nächsten Moment resignieren.

Ich glaube auch nicht, dass es zu einem großen Zusammenbruch kommt. Das sind alles dystopische* Phantasien, die schon so alt sind wie die Religion.

  • Eine Dystopie, auch Antiutopie, selten auch Kakotopie oder Mätopie genannt, ist ein Gegenbild zur positiven Utopie. Sie entwirft ein zukunftspessimistisches Szenario von einer Gesellschaft, die sich zum Negativen entwickelt, und stellt somit einen Gegenentwurf zu Thomas Morus’ Utopia dar. Häufig wollen die Autoren dystopischer Geschichten mit Hilfe eines pessimistischen Zukunftsbildes auf bedenkliche Entwicklungen der Gegenwart aufmerksam machen und vor deren Folgen warnen.

Man muss aber wissen, dass die Möglichkeiten zur Weltgestaltung und die technischen Voraussetzungen – Nahrungsmittelproduktion, Bewässerung, Energie – zur Reaktion auf Entwicklungen heute unendlich viel höher sind als früher. Nur die geistigen Möglichkeiten hinken hinterher. Wenn aber beides zusammenkommt, die geistigen und technischen Möglichkeiten, sind wir als Spezies in der Lage, großartige Dinge zu bauen. Wir haben großartige Städte, wir leben in Komfortabilitätszonen, die wir gar nicht schätzen können.

Die Welt war auch noch nie so friedlich wie heute, auch wenn es immer heißt, die Welt wird brutaler. Das stimmt nicht – und es ist auch unwahrscheinlich, dass die brutale Zeit von früher wieder zurückkommt.

Provokante Frage: Wissen wir es nicht zu schätzen, weil wir keinen Krieg mehr erlebt haben?

Haben wir ja. Kriege, wie wir sie in Europa erlebt haben, haben eine Nachwirkung von mindestens fünf Generationen. Ich bin nach dem Krieg geboren, aber er steckt mir in vielerlei Hinsicht in den Knochen. Allein die Erfahrungen und Traumata meiner Eltern.

Europa ist hier in einem Lernprozess. Wir haben auch 20 Jahre geglaubt, dass wir weitermachen können wie wir‘s früher erlebt haben. Also im Sinn von alle werden immer reicher und so.

Im normalen Leben werden wie auch immer erst schlauer, wenn wir durch eine Krise gegangen sind. Und sei es nur die Pubertät, ohne die das jugendliche Hirn nie was anderes machen würde. Dann würden wir schon mit zehn vergreisen.

Matthias Horx
"Die Aufgabe einer Gemeinde ist immer, eine Lebensqualität für ihre Bewohner zu garantieren und die Bewohner zu halten."

Was ist die Aufgabe der kleinen Gemeinden? Einfach nur gute Beispiel bringen?

Die Aufgabe einer Gemeinde ist immer, eine Lebensqualität für ihre Bewohner zu garantieren und die Bewohner zu halten. Ich plädiere dafür, auch hier eine Form höherer Gelassenheit walten zu lassen.

Es wird viele Gemeinden geben, die weiterhin Bevölkerung verlieren werden, weil die Verstädterung ein Megatrend ist. Aber es gibt auch Chancen für eine Renaissance, für Wiederkehr der Menschen. Viele kommen ja auch wieder zurück in ihren Heimatort.

Aber dann heißt es letzten Endes, die nächste Gemeinde zu erfinden. Also die Zukunftsgemeinde. Dort geht’s es um Positionierung, was ist mein Lagenvorteil, wo kann ich Dinge machen, die andere noch nicht gemacht haben, wo kann ich nach außen sichtbarer werden. Auch das, was „Provinzia“ immer war, nämlich Langeweile, zu überwinden.

Es gibt ja den Verein Zukunftsorte schon genauso wie es ein Projekt für die Heimkehrer (das Konzept nennt sichAusheimische“) schon gibt.

Ich kann ihnen hunderte von Beispielen geben, wie sich Dörfer, Kleinstädte und Regionen neu erfinden, die tolle Stories und tolle Projekte machen. Nur sind diese Geschichten oft nicht bekannt. Die beschämen uns dann ja auch oft, weil man ja wie in der ganzen Zukunftsdebatte die positiven Beispiele oft nicht wissen will.

Es gibt auch sowas wie Zukunftsneid – der macht sich dann in Jammerei und Kritizismus bemerkbar. Diese Art von konservativer Gemeinde, die sich in die Jammerei und die Negativität einschließen, die haben ihre Zukunft tatsächlich verspielt.

Gestern wurde in der Diskussion festgestellt, dass ein „Aufgeben der Räume“ nicht in Frage kommt.

Ich kenne Leute, die sagen, meinen SUV gebe ich niemals her. Ma kann das sagen, es wird nur nichts nützen. Aber das klingt für mich auch so wie die Fehlprognosen der 90er und Nullerjahre, wo es hieß, die Österreich und die Deutschen sterben aus. Das Gegenteil ist eingetreten: Die Bevölkerung wächst.

Insofern kann man sagen, wir wollen möglichst kleinen Standort aufgeben, aber es gibt keine Garantie auf diesem Planeten, dass die Bevölkerungsdichte an jedem beliebigen Ort immer so bleibt, wie es einmal war.

Die Dinge verändern sich – warum soll es nicht Gemeinden geben, die sich auf einen kern beschränken und ein schönes Naturschutzgebiet um sich herum haben. Das wäre auch eine Strategie.