Die Gemeinde-Verfassungsnovelle 1962

24. November 2017
Im Juli 1962 hat der Nationalrat die „Gemeinde-Verfassungsnovelle“ beschlossen. Diesem Gesetzeswerk wurde – nicht nur in Österreich – viel Lob gespendet. Es wurde als vorbildlich und bahnbrechend bezeichnet. Der Weg zu diesem Verfassungsgesetz war lang und beschwerlich gewesen, hatte aber schließlich zu einem Ergebnis geführt, das ein Beispiel für die Leistungsfähigkeit des in der Zweiten Republik entwickelten Modells der österreichischen Konsensdemokratie ist.

Es versteht sich, dass es in der politischen Auseinandersetzung, die im Vorfeld dieser Novelle geführt worden war, auch um Fragen der Machtverteilung zwischen den politischen Kräften Österreichs gegangen ist.



Besonders deutlich geworden ist dies in der Diskussion um die Frage, in welchem Umfang den Gemeinden eine Kompetenz zur Rechtserzeugung zukommen sollte. Dieser Aspekt der Entstehungsgeschichte sei im Folgenden beleuchtet.

Selbstverwaltungskörper und Sprengel der staatlichen Verwaltung



Die Stellung der österreichischen Gemeinden im rechtlichen Gefüge des Gesamtstaates ist erstmals durch das provisorische Gemeindegesetz von 1848 geregelt worden. Danach sollten die Gemeinden – so wie heute – einerseits Selbstverwaltungskörper und anderseits Sprengel der staatlichen Verwaltung sein.



Die Wirkung dieses Gesetzes war aber sehr begrenzt. Zwischen den Gemeindegesetzen der einzelnen Kronländer bestanden nämlich erhebliche Unterschiede, auch hinsichtlich dessen, was Inhalt des eigenen Wirkungsbereichs sein sollte.



Nach Gründung der Republik sollte die rechtliche Stellung der Gemeinden für alle Bundesländer einheitlich geregelt werden, aber nach einem anderen Konzept als jenem, das dem provisorischen Gemeindesgesetz zugrunde gelegen war: Das B-VG von 1920 hat Bestimmungen enthalten, nach denen die allgemeine staatliche Verwaltung in den Ländern durch Selbstverwaltungskörper, nämlich „Ortsgemeinden“ und die „Gebietsgemeinden“, besorgt werden sollte.

Unterschiedliche Regelungen waren unbefriedigend



Die diesbezüglichen Regelungen sind aber nicht in Kraft getreten, sondern durch Provisorien suspendiert worden. Dies hatte zur Folge, dass es weiterhin länderweise unterschiedliche Regelungen über die Gemeinden und den Inhalt dessen, was in den eigenen Wirkungsbereich fallen sollte, gab.



Dies wurde nach Wiedererrichtung der Republik Österreich als unbefriedigend empfunden; schon 1950 hat eine literarische und bald darauf die rechtspolitische Diskussion um eine Neugestaltung der verfassungsrechtlichen Grundlagen der Gemeinden1 begonnen. Deren Ergebnis war schließlich die „Gemeinde-Verfassungsnovelle 1962“.

Gemeinden sollten ermächtigt sein, „Satzungen“ zu erlassen



In allen Beiträgen zur literarischen und zur rechtspolitischen Diskussion über eine Neugestaltung der Bestimmungen des B-VG, welche die Gemeinden betreffen, ist – mit einer einzigen Ausnahme - die Position vertreten worden, die Gemeinden als Selbstverwaltungskörper dürften nicht darauf beschränkt werden, Durchführungsverordnungen i. S. des Art 18 Abs. 2 B-VG erlassen zu können.



Vielmehr müssten sie durch die Bundesverfassung ermächtigt sein, „Satzungen“, d. h. selbstständige Verordnungen zu erlassen. Sehr unterschiedliche Positionen hat es allerdings hinsichtlich der Frage gegeben, welchen Umfang eine einschlägige Regelungsbefugnis haben sollte.

Der erste Entwurf



Der erste Entwurf für eine derartige Regelung im B-VG findet sich in einem 1958 veröffentlichten Vorschlag für eine Verfassungsnovelle, erarbeitet von der vom Österreichischen Städtebund eingerichteten „Studienkommission für die Fortentwicklung des Gemeinderechts“.



In diesem war vorgesehen, dass die Gemeinden ermächtigt sein sollten, in allen „behördlichen Angelegenheiten des eigenen Wirkungsbereiches nach freier Selbstbestimmung selbstständige Verordnungen (autonome Satzungen) zu erlassen. Solche Verordnungen dürfen nicht gegen bestehende Gesetze verstoßen.“



Die Verordnungen sollten der Landesregierung „spätestens mit der Kundmachung“ mitgeteilt werden. Die Landesregierung sollte gesetzwidrige Verordnungen aufheben können.

Gemeinsamer Entwurf von Städtebund und Gemeindebund



Der Österreichische Gemeindebund schloss sich dem Vorschlag des Städtebundes grundsätzlich an; beide Bünde veröffentlichten 1960 einen gemeinsamen „Bündeentwurf“ einer Novelle des B-VG. In diesem war vorgesehen, dass das Recht der Gemeinden zu Erlassung selbstständiger Verordnungen einen größeren Umfang haben sollte als jenen, der im Entwurf des Städtebundes vorgesehen war: Die Ermächtigung zur Erlassung selbstständiger Verordnungen sollte nämlich nicht auf „behördliche Angelegenheiten“ beschränkt sein.



Es ist bemerkenswert, dass die Vorschläge der beiden Interessenvertretungen der Gemeinden vom Bundeskanzleramt-Verfassungsdienst ohne Widerspruch aufgegriffen wurden, sodass der im März 1960 zur Begutachtung versendete Entwurf einer B-VG-Novelle auf diesen basierte.

Widerstand der Länder gegen den „Bündeentwurf“



Die im „Bündeentwurf“ und im Entwurf des Bundeskanzleramtes enthaltenen Vorschläge zur Rechtsetzungsbefugnis der Gemeinden stießen jedoch auf heftigen Widerspruch von Seiten der Länder – ausgenommen Wien. Es wurde vorgebracht, mit der Einräumung eines so weitgehenden Rechts zur Schaffung selbstständiger Verordnungen komme den Gemeinden eine „Quasi-Gesetzgebungsgewalt“ zu. Die Folge würde eine Rechtszersplitterung sein, weil bald von Gemeinde zu Gemeinde erhebliche Unterschiede in der Rechtslage bestehen würden.



In einigen Stellungnahmen wurde sogar gesagt, ein so weitgehendes Verordnungsrecht der Gemeinden sei mit dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbar und müsste als Gesamtänderung der Bundesverfassung qualifiziert werden.



Für die Länder hätte eine Zunahme des Umfangs der von Gemeinden geschaffenen Regelungen in Angelegenheiten, die durch Bundesgesetz hätten geregelt werden können, die Folge gehabt, dass die Anwendung der einschlägigen Rechtsvorschriften nicht mehr in mittelbarer Bundesverwaltung erfolgt wäre. Dies hätte für jedes Land – abgesehen von jenem, das auch Gemeinde ist – einen Verlust bedeutet.

Angst vor „autonomen“ Regelungen



In den einschlägigen Stellungnahmen der Länder ist freilich nirgends ausdrücklich gesagt, welche Überlegungen und Befürchtungen Grundlage für die so heftig formulierte Ablehnung einer weitreichenden Ermächtigung der Gemeinden zur Rechtsetzung gewesen waren. Personen, die in die Auseinandersetzungen involviert waren, haben aber in Gesprächen keinen Zweifel daran gelassen, dass es um Folgendes gegangen ist:



Da den Gemeinden im eigenen Wirkungsbereich ein Verordnungsrecht praeter legem – also in allen nicht ausdrücklich durch Gesetz geregelten Bereichen – zukommen sollte, hätte es sich in der politischen Wirklichkeit der frühen Sechzigerjahre ergeben können, dass eine Partei eine bundesgesetzliche Regelung verhindert, um Gemeinden, die von ihr dominiert werden, die Möglichkeit zu „autonomen“ Regelungen zu verschaffen. Die Mehrheitsverhältnisse im Nationalrat und das Erfordernis der Einstimmigkeit in der Bundesregierung hätten dazu die Möglichkeit geboten.



Zudem war es fraglich, wie weit der Ermächtigungsbereich der Gemeinden zur autonomen Rechtserzeugung sein würde, weil der Inhalt dessen, was der eigene Wirkungsbereich der Gemeinden sein sollte, in allen Entwürfen nur sehr allgemein umschrieben war.



Dies wiederum hätte die Quelle für nicht endende rechtliche Auseinandersetzungen und für Streitigkeiten zwischen den großen politischen Parteien werden können. Da der Umfang der Rechtsetzungsbefugnis durch den Umfang des eigenen Wirkungsbereichs bedingt war, lag es auf der Hand, dass diese Frage für den Umfang die jeweiligen Einflusssphären der Großparteien wesentlich sein konnte.

Gegenentwurf der Länder



Die Länder haben sich jedoch nicht darauf beschränkt, den vom Bund vorgelegten Entwurf zu kritisieren: von ihnen – ausgenommen Wien – wurde im Jahr 1961 in einem eigenen Entwurf einer Gemeinde-Verfassungsnovelle ein Gegenvorschlag zum selbständigen Verordnungsrecht erstattet. Darin wird eine Beschränkung der Rechtsetzungsbefugnis der Gemeinden auf „ortspolizeiliche Verordnungen“ angeregt.



Dadurch sollte eine Einschränkung des Verordnungsrechts auf repressive Maßnahmen im örtlichen Interesse erfolgen.



Das BKA hat diesen Vorschlag aufgegriffen und in einem Entwurf vom November 1961 den Gegenstandsbereich des selbstständigen Verordnungsrechts auf die Abwehr oder Beseitigung von Missständen beschränkt. Damit war eines der wesentlichsten Hindernisse für eine politische Einigung beseitigt.



Wirksam konnte die Novelle erst werden, wenn die Bundesländer Gemeindeordnungen, also Durchführungsbestimmungen, erlassen hatten. Eine Expertengruppe des Gemeindebundes unter Federführung von Ernst Brosig, damals Geschäftsführer des NÖ Gemeindevertreterverbandes der ÖVP, erarbeitete in Absprache mit dem Städtebund eine Muster-Gemeindeordnung, die allen Landesregierungen übermittelt wurde. Sie findet bis 1965 in ihren Grundzügen Eingang in fast alle Landesgemeindeordnungen



von Univ.-Prof. Gerhard Wielinger, ehemaliger Landesamtsdirektor der Steiermark. Er lehrt am Institut für Öffentliches Recht an der Karl-Franzens-Universität Graz



gerhart.wielinger@uni-graz.at