Helmut Mall
„Wir kämpfen, solange wir können, gegen den Ausverkauf an.“ Helmut Mall über die Maßnahmen der Gemeinde, den Dorfcharakter und die Dorfgemeinschaft zu bewahren.
© Gemeinde St. Anton am Arlberg

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„Das Dorf muss noch Dorf bleiben“

Helmut Mall ist Bürgermeister in einem der bekanntesten Ski-Orte Österreichs. Seit über 15 Jahren ist er Ortschef von St. Anton am Arlberg. Mit KOMMUNAL spricht er über die Herausforderungen, die sich der Tourismusgemeinde stellen.
St. Anton
Dank der Verlegung der Bahntrasse anlässlich der Ski-WM 2001 und der neuen Umfahrungsstraße ist die Aufenthaltsqualität im Ortszentrum von St. Anton enorm gestiegen. Foto: TVB St. Anton am Arlberg/Patrick Bätz 

Wer sich in der ­Touristenhochburg St. Anton am Arlberg einen Ortskaiser à la „Piefke-Saga“ erwartet, wird von Helmut Mall enttäuscht sein. Der zweifache Vater gilt als ruhig, besonnen und zuverlässig, und so wirkt er auch im Gespräch mit KOMMUNAL – selbst zur turbulentesten Zeit des Jahres, denn in der Gemeinde herrscht gerade Hochsaison. Um welche Dimensionen es dabei geht, veranschaulichen ein paar Zahlen. Während die dörfliche Gemeinde über die warme Jahreszeit auf knapp 2.400 Einwohner kommt, schwillt diese Zahl während der Wintersaison um ein Vielfaches an.

„Inklusive der Saisonarbeitskräfte sind momentan um die 17.000 Leute da“, berichtet Mall. Für die Gemeinde bedeutet das eine riesige logistische Aufgabe. Glücklicherweise ist sie für den Bürgermeister bewältigbar, denn er kann auf mehrere Jahrzehnte Erfahrung im Gemeindedienst zurückgreifen.

„Ich bin 1986 in die Gemeinde gekommen und habe verschiedene Aufgaben bis hin zur Kassa übernommen. Dass ich selbst einmal in der Politik landen könnte, habe ich damals noch gar nicht gedacht. 1992 hat mich dann mein Vorvorgänger im Amt dazu animiert, für seine Liste zu kandidieren.“ Auf diese Weise kam der Gemeindebedienstete Mall in den Gemeinderat und erhielt sogleich das Resort Sport-Kultur-Schule. „Da habe ich mich gleich ein wenig profilieren können, denn mit dem Resort kannst du nicht viel falsch machen“, schildert Mall mit einem Augenzwinkern.

Untrennbar mit der Geschichte des Ski-Rennsports verbunden

Vor allem im Bereich Kultur setzt er in Folge eine Reihe von Projekten um und lässt die Partnerschaft mit einer japanischen Gemeinde wieder aufleben. 2003 stirbt der damalige Bürgermeister. Der Tourismusobmann folgt ihm nach. Als dieser wiederum nach sieben Jahren nicht mehr weitermachen möchte, übernimmt schließlich Mall den Chefsessel in der westlichsten Gemeinde Tirols.

Zu dem Bundesland gehört St. Anton nämlich und nicht nach Vorarlberg, wohin es besonders Ostösterreicher ganz gerne verorten. Und das, obwohl der Ort eigentlich sehr bekannt ist und eine illustre Geschichte aufweist. Natürlich ist er untrennbar mit der Geschichte des Skilaufs, insbesondere des Rennsports, verbunden.

St. Anton heißt erst seit 1927 so

Durch die Bruderschaft St. Christoph im gleichnamigen Ort der Gemeinde ist die Geschichte von St. Anton bis ins Jahr 1386 zurück bestens dokumentiert. Wobei die Gemeinde den Namen St. Anton noch keine hundert Jahre trägt. Erst seit 1927 tut sie das. Davor hieß sie unter anderem über 500 Jahre lang Stanzertal und weitere hundert Jahre Nasserein. 

Doch wie auch immer der Ort hieß, die Lage am Arlbergpass war immer die gleiche. Fremde passierten den Ort, kamen und gingen. Wie auch heute noch.

Der Tourismus ist fast zu hundert Prozent Haupttreiber der kommunalen Wirtschaft. Reich ist St. Anton dadurch aber nicht unbedingt, denn den 2.400 Einwohnern steht eine Gemeindefläche von 165 km²gegenüber, mit großteils schwieriger Topografie. Nicht nur die Infrastruktur muss für diese Fläche erhalten werden, die Gemeinde ist auch großer Grundeigentümer und besitzt zahlreiche Almen und Wälder.

St. Anton
High Life in St. Anton. Während der Wintersaison wächst die Bevölkerung von 2.400 auf 17.000 Personen an. Mehr als die Hälfte von ihnen spricht kein Deutsch. Englisch wird zur Verkehrssprache.    

Mall hebt daher die Bedeutung der Bauern für den Ort hervor, der ein deutliches Zeichen Richtung Landwirtschaft setzt, um die Kulturlandschaft zu erhalten. Geheizt wird in St. Anton ebenfalls nachhaltig. Das gemeinde­eigene Nahwärme-Heizwerk, das mit ­Biomasse arbeitet und im November in Betrieb ging, versorgt alle kommunalen Gebäude, Kirchen, Schulen, die Kongresshalle, das Schwimmbad- und Wellnesscenter sowie fast alle Großhotels und viele sonstige Tourismusbetriebe – in Summe über hundert Objekte. 

Eigene Kraftwerke schon seit 100 Jahren

In St. Anton handelt man schon lange mit Weitblick. Darum ist der Ort heute nahezu stromautark. Seit weit über hundert Jahren hat die Gemeinde eigene Kraftwerke. Betrieben werden die derzeit drei Wasserkraftwerke von einer GesmbH, die sich zu 100 Prozent im Gemeindebesitz befindet.

In die „Energie- und Wirtschaftsbetriebe der Gemeinde St. Anton am Arlberg“ sind noch weitere Teile der Gemeinde ausgelagert: vom Bauhof über Wertstoff- und Abfallwirtschaft bis hin zur Wasserversorgung und Abwasserentsorgung. „Kern der GesmbH ist aber die Stromproduktion“, stellt Mall klar: „Unser größter Stausee hat acht Millionen Kubikmeter Fassungsvermögen und wir produzieren an die 60 Millionen Kilowattstunden Strom selbst. Nur in Spitzenzeiten im Winter müssen wir ein bisschen zukaufen. Dass wir die eigenständige Energiegewinnung erhalten und ausgebaut haben, ist auf Dauer gesehen ein Glücksfall.“ 

Was beim Strom noch recht leicht fällt, ist in anderen Bereichen schon schwieriger. Denn die großdimensionierte Infrastruktur muss von den wenigen Einheimischen erhalten werden.

Tourismus ist Herausforderung für Infrastruktur

„Müll, Wasserversorgung, die Abwasser­reinigungsanlage – eigentlich alle Kapazitäten sind an den Dimensionen der Gästebetten bemessen“, erklärt Mall. Das alles auf dem Stand der Technik zu halten, ist schon eine riesige logistische Herausforderung und mit ein Grund, warum St. Anton keinen weiteren Ausbau der Gästebetten forciert. Die Gemeinde ist sehr sparsam mit neuen Widmungen. „Wir machen strikte Bebauungspläne, wir steuern unglaublich über die Raumordnung und kämpfen, solange wir können, gegen den Ausverkauf an“, bekennt der Bürgermeister. „Damit machen wir uns oft keine Freunde.“ 

Für jedes Gebäude mit einer Investitionssumme ab einer Million Euro verlangt die Gemeinde zwingend das Vorlegen eines Modells. „Das ist eine Vorgabe von uns, damit man das Geplante auch richtig zuordnen kann. Animationen oder Bilder sind oft nicht klar zu beurteilen. Da braucht man nur einen vorteilhaften Winkel wählen und alles sieht ganz nett und harmlos aus. Daher fordern wir explizit das Gebäude mitsamt der Parzelle und den Nachbargebäuden an. In der Hinsicht sind wir sehr streng“, stellt Mall klar. 

Ausgleich zwischen Hochtourismus und sozialen Themen

Dennoch tut sich in bautechnischer Hinsicht einiges in St. Anton. Eine neue Umfahrungsstraße wurde ebenso gebaut wie eine neue Fußgängerbrücke. Die Verlegung des Sicherheitszentrums ist ein Thema und auch die Verwaltung des Elektrizitätswerks soll ausgelagert werden. Dass sich Helmuts Malls politischer Fokus auf Bauprojekte beschränkt, wäre allerdings ein Trugschluss.

„Ich habe immer den Ausgleich gesucht – zwischen Hochtourismus und sozialen Themen. Jeder muss irgendwo Platz finden können. Es sind ja nicht nur reiche Leute in St. Anton. Es gibt auch einfachere Leute, die Wohnungen brauchen. Ich sag immer und immer wieder: Das Dorf muss noch Dorf bleiben! Das heißt, wir müssen den Ausverkauf verhindern, wo es nur geht. Dadurch, dass wir viel Grundbesitz haben, haben wir auch viel sozialen Wohnbau gemacht. Wir haben günstige Parzellen an Einheimische verkauft und Wohnbauträger geförderte Wohnungen errichten lassen. Wir haben aber mittels Verträgen immer sichergestellt, dass die Gemeinde ein Vorkaufsrecht hat, dass nicht parifiziert werden darf usw.“

So schützt die Gemeinde den sozialen Wohnbau und kämpft gegen die Abwanderung an, denn für die jungen Einheimischen sind die meisten Grundstücke und Immobilien, deren Preise in lichte Höhen geschossen sind, schlicht nicht mehr leistbar. In vielen Fällen wollen die Jungen gar nicht weg, sondern gehen notgedrungen. Gleichzeitig erlebt St. Anton Zuzug aus der ganzen Welt. „Neuseeländer, Amerikaner, Engländer – wir haben multikulti im Kindergarten, in der Schule, kurz: überall. Im Winter sind jede Woche Gäste aus 50 verschiedenen Nationen bei uns“, schildert Mall. 

Konzentration auf Wintertourismus

Zwar kümmere man sich auch um den Sommertourismus, aber dessen Zahlen kommen bei Weitem nicht an den Winter heran. Und das wollen die Einheimischen auch gar nicht. Die Wintersaison ist schon intensiv genug. Unlängst hat St. Anton am Arlberg beschlossen, sich für die Ski-Weltmeisterschaft 2033 oder 2035 zu bewerben. Die letzte Weltmeisterschaft in St. Anton fand im Jahr 2001 statt. Der damalige Sport-Referent hieß Helmut Mall.

„Da war ich mittendrin, hab vieles lernen dürfen, vieles gesehen und bin um die halbe Welt gekommen“, erinnert sich der heutige Bürgermeister, und er erzählt, wie sich St. Anton damals verändert hat. Anlässlich der Weltmeisterschaft wurde etwa die Bahnstrecke, die den Ort zerschnitt, samt Bahnhof auf die andere Talseite verlegt. Kostenpunkt: rund zwei Milliarden Schilling (ca. 145 Millionen Euro). Eine Summe, die die kleine Gemeinde niemals hätte aufbringen können.

„Bei der nächsten Weltmeisterschaft würden wir natürlich wieder schauen, was man an der Infrastruktur verbessern kann“, lacht Mall, denkt dabei aber noch an etwas anderes: „So ein Ereignis hat den Effekt, dass es dem Dorf wahnsinnig guttut. Denn dann müssen wir zusammenhalten, zusammen marschieren und gemeinsam Ideen entwickeln.“ Diese Herausforderung würden die St. Antoner gerne annehmen. 

Andere Herausforderungen blieben ihnen hingegen lieber erspart. Annehmen müssen die Bürger von St. Anton sie trotzdem. Die Rede ist von den diversen Krisen und Katastrophen, die die Gemeinde in jüngerer Vergangenheit betroffen haben.

Mall erinnert sich zurück, als im Zuge der Pandemie der Ort am 20. März 2020 binnen Minuten unter Quarantäne gestellt wurde: „Wie bewerkstelligt du das mit 13.000 Menschen innerorts?“ Lawinensituationen gab und gibt es immer wieder, und erst im vergangenen August gab es einen katastrophalen Murenabgang im Ausmaß eines 300-jährigen Ereignisses.

Mure in St. Anton
 Im August 2024 war St. Anton von einem enormen Murenabgang betroffen. 

„In 45 Minuten hat es 100 Liter geregnet. Das war lebensbedrohlich“, zeichnet Mall ein Bild der damaligen Lage. Immerhin sei man durch all die Ereignisse krisenerprobt und arbeite hervorragend zusammen. „Nicht, dass wir alles mit links meistern könnten, aber es ist doch eine Art Sicherheit für uns selbst, untereinander und auch für die Bevölkerung, dass wir vom Krisenstab weg über die Feuerwehr bis zu den freiwilligen Helfern sehr gut zusammenarbeiten. In der Hinsicht sind wir wirklich erprobt.“        

Zur Person

Helmut Mall

Alter: 62
Gemeinde: St. Anton am Arlberg
Einwohnerzahl: 2.366 (1. Jänner 2024)
Bürgermeister seit: 1. September 2009
Partei: Bürgermeisterliste