Modernes Gebäude mit Kirche im Hintergrund

Nutzungsdurchmischtes Dorfzentrum in Fließ

28. Mai 2015
In der der Vorarlberger Gemeinde Fließ ist in den letzten zwei Jahren ein neues Dorfzentrum mit einem vorbildhaften, nutzungsdurchmischten Ensemble mit den Funktionen Wohnen, Arbeiten und Einkaufen und einem neuen Dorfplatz als Treffpunkt entstanden. Das unter intensiver Beteiligung der Bevölkerung realisierte Projekt setzt einen entscheidenden, nachhaltigen Impuls zur Attraktivierung des Ortszentrums und garantiert, dass es wieder Mittelpunkt des Lebens wird. Das Projekt wurde für den IMPULS Gemeindeinnovationspreis in der Kategorie "Baukultur" nominiert.




Die Gemeinde Fließ plante ein Pilotprojekt zur nachhaltigen Aufwertung ihres Dorfzentrums. Es sollte ein nutzungsdurchmischtes Dorfhaus mit den Funktionen Wohnen, Arbeiten und Einkaufen entstehen. Der Projektentwicklungsprozess und die in der Folge zu errichtenden Gebäude und öffentlichen Räume sollten zudem einen wesentlichen Beitrag für die Zukunft der Tiroler Wohnbaudiskussion darstellen. Neben einer neuen Bürgerbeteiligungskultur in der Entwicklungsphase von Projekten sollte klar werden, dass der Wohnbau in Tirol nicht mehr als Solitär auf der grünen Wiese, sondern als Teil einer ganzheitlichen Orts- bzw. Ortskentwicklung gesehen werden kann.



Bei diesem Pilotprojekt wurde daher ein besonderer Entstehungsweg gewählt. Dabei stand der Dialog der Gemeinde und ihrer Bürgerinnen und Bürger mit den Architekten durch ein neues Architekturwettbewerbsmodell mit intensiver Bürgerbeteiligung im Vordergrund. Daraus entwickelte sich ein qualitativ hochwertiges und von vielen Beteiligten akzeptiertes Realisierungsprojekt in der Mitte des Ortskerns von Fließ.



Der besondere Entstehungsprozess



Umgesetzt wurde das gesamte Wettbewerbsverfahren als Verknüpfung eines Bürgerbeteiligungsverfahrens mit einem klassischen Architekturwettbewerb.



1. Gemeinderatsbeschluss



Als der Beschluss im Gemeinderat feststand, auf den leerstehenden Stuemergründen mitten im Dorfzentrum ein neues Gemeindezentrum zu errichten, entwickelte eine Arbeitsgruppe, bestehend aus Gemeinderäten und Bürgern, ein erstes grobes Raumprogramm, eine Art „Wunschkatalog“, was dort alles untergebracht werden könnte/sollte. Auf Basis dieser räumlichen Anforderungen wurden eine grobe Kostenschätzung erstellt, die Gebäude und notwendigen Grundstücke erworben und ein „GO“ für den Projektstart durch einen Gemeinderatsbeschluss gegeben.



2. Wettbewerbsstufe Eins



In der Folge wurde ein zweistufiger, offener Architekturwettbewerb nach den Kriterien des Bundesvergabegesetzes ausgeschrieben. Die erste Stufe war offen für alle interessierten Architekten und Architektenteams. Um daraus die interessantesten Architekturbüros auszuwählen, wurden Kriterien erstellt; alle Interessierten mussten insgesamt drei Anforderungen erfüllen. Dabei handelt es sich konkret um Punkte zum Thema Bürgerbeteiligung und leistbares Wohnen sowie um die Vorlage eines entsprechenden Referenzprojekts. Die Jury wählte – im Fall des Projekts in Fließ – aus 18 Abgaben jene fünf Büros aus, die zur Teilnahme am Wettbewerb eingeladen wurden.



3. Wettbewerbsstufe Zwei



Alle für die zweite Wettbewerbsstufe geladenen Wettbewerbsteilnehmer erhielten drei Wochen vor der Wettbewerbsdurchführung die Unterlagen zugesandt. Diese bestanden aus einen allgemeinen Teil über die Verfahrensregeln und einem inhaltlichen Teil mit dem Raumprogramm.



4. Eine Ideenwerkstatt mit den Bürgern, Architekten, Gemeinderat und Jury GEMEINSAM



Den Auftakt zum Wettbewerb bildete ein Hearing. Das Besondere dabei war aber, dass dieses Hearing zwei Tage dauerte und direkt vor Ort gemeinsam mit der Bevölkerung stattfand und so zu einer sogenannten vor ort ideenwerkstatt® (www.vorortideenwerkstatt.at) wurde. Das bedeutet, dass an diesen zwei Tagen zahlreiche Aktivitäten, wie z.B. Gespräche, Stammtische, Vorträge etc., angeboten wurden, bei denen die geladenen Architektenteams mit der Bevölkerung gemeinsam Ideen finden und diskutieren konnten. Begleitet wurde dieser partizipative Prozess von einer eigens eingerichteten Website inklusive einem Gewinnspiel, um insbesondere auch die Zielgruppe der jungen Gemeindebürger in das Projekt einzubinden. Unter anderem hatten die Lehrer mit den Schülern ihre Überlegungen für das zukünftige Gemeindezentrum erarbeitet und in einem Theaterstück den Architekten präsentiert. Die zukünftigen Nutzer hatten Zeit, ihre Raumwünsche nochmals im Gespräch zu präzisieren. Am Ende der zwei Tage stand die endgültige Fixierung des Raumprogramms, welches sich nun durch den intensiven Dialog gegenüber dem Stand zu Beginn (siehe Punkt 1) verändert hatte. Alle gemeinsam – Bevölkerung, Architekten und Gemeinderäte – beschlossen einstimmig dieses Raumprogramm, für welches die Architekten in den folgenden Tagen konkrete Vorschläge erstellten.



5. Ausarbeitungsphase



Die Konzeptentwicklung und der Projektentwurf erfolgten in den darauffolgenden fünf Tagen. Einige der Teams arbeiteten noch eine gewisse Zeit vor Ort, andere wiederum fuhren nach dem Hearing umgehend ins eigene Büro, da sie die gewohnte Umgebung und ihre Infrastruktur für das Arbeiten vorzogen. Schließlich entwickelte jedes der Teams einen eigenen Lösungsvorschlag für die Aufgabenstellung. Dabei stand die primäre Aufgabe des Architekten, die Ideenfindung, im Mittelpunkt. Die Darstellung war frei wählbar und sollte auch der kurzen Bearbeitungszeit angemessen sein. Lediglich die Farbe des Modells wurde vereinheitlicht, um eine optimale Vergleichsbasis zu haben.



6. Jurysitzung



Die Jurysitzung dauerte eineinhalb Tage. Der erste Teil – entsprechend dem Bundesvergabegesetz – war anonym. Das bedeutet, dass alle Architekten ihre Projekte ohne Namen abgeben mussten. In einem ersten Jurydurchgang wurde versucht, die einzelnen Projekte zu verstehen, Unklarheiten wurden notiert und in Fragen formuliert. Am Abend des ersten Jurytages erfolgte die Aufhebung der Anonymität und die Architekten wurden unabhängig voneinander vor der versammelten Bevölkerung eingeladen, ihre Projekte zu präsentieren. Dabei hatten sie auch Gelegenheit, die von der Jury formulierten Fragen zu beantworten; auch Fragen aus der Bevölkerung wurden zugelassen. Auch am darauffolgenden -Vormittag war die Jurysitzung für alle Bürger offen, die Projekte wurden jetzt – nicht mehr anonym – nochmals diskutiert und gemeinsam wurden Stimmungsbilder eingeholt. Ab Mittag wurden die Türen wieder geschlossen und die Jury hatte den gesamten Nachmittag Zeit, um in ausführlichen Diskussionsrunden die Entscheidung für das beste Projekt zu treffen.



7. Präsentation



Den Abschluss der Jurysitzung bildete eine öffentliche Präsentation mit kulinarischer und -musikalischer Umrahmung. Dabei wurden nicht nur das siegreiche Projekt und der Architekt vorgestellt, sondern die Entscheidung der Jury anhand der Stärken und Schwächen aller Projekte begründet. Gleichzeitig gab es eine Präsentation aller Projekte für die Bevölkerung. Die Medien wurden vom Verfahren und dessen Ausgang informiert.



8. Umsetzung



Das Architekturbüro mit dem erstgereihten Projekt wurde dann in unmittelbarer Folge vom Bürgermeister als Vertreter des Auftraggebers mit der Durchführung von Architekturleistungen zur konkreten Umsetzung des ausgewählten Konzepts betraut.



9. Reflexionsrunde



Einen Monat nach der Juryentscheidung fand eine ausführliche Feedbackrunde statt. Dabei diskutierten die Gemeindeverantwortlichen, die teilnehmenden Architekten, die Initiatoren, die Juroren sowie die Prozessbegleiter die Durchführung dieses neuen Wettbewerbs. Der grundsätzliche Tenor ergab eine hohe Zufriedenheit mit dieser neuen Art eines partizipativen Verfahrens. Einige Anregungen zur Verbesserung bzw. Veränderung einzelner Punkte werden in die weitere Arbeit aufgenommen.



10. Bauphase



Unmittelbar nach dem feststehen des Siegerprojekts wurden die Architekten mit der Planung beauftragt, es folgte die Genehmigung der Einreichplanung, die Detailplanung, die Ausschreibung der Gewerke und schliesslich die Bauphase. Die kalkulierten Kosten wurden eingehalten.



11. Eröffnung



Erfolgreiche Projekte muss man feiern! Deshalb wird die Eröffnung am 26.April ein großes Fest für die Bürgerinnen und Bürger



Resümee



Bei diesem Verfahren war die intensive Auseinandersetzung der Architekten mit den wirklichen Bedürfnissen der Bevölkerung der Schlüssel zum Erfolg. Diese Interaktion hat viele Barrieren auf beiden Seiten abgebaut und eine neue Qualität des Dialogs mit sich gebracht. Das gegenseitige Zuhören wurde wertgeschätzt.