Othmar Karas
Othmar Karas: „Aufgrund unserer geopolitischen Lage, unserer Exportabhängigkeit, unserer hohen Tourismuszahlen und unserer Geschichte profitieren wir enorm vom EU-Beitritt und von der Erweiterung der EU.“
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„Europa ist nie entweder oder. Es ist immer ein Kompromiss!“

Anlässlich des Europäischen Gipfels der Städte und Regionen in der belgischen Stadt Mons sprach KOMMUNAL mit dem Ersten Vizepräsidenten des Europäischen Parlaments, Othmar Karas.

Der Europäische Gipfel der Städte und Regionen, der alle zwei Jahre stattfindet, ist eine der größten Veranstaltungen des Ausschusses der Regionen (AdR). Karas hielt als Vertreter des Europaparlaments vor dem Plenum der Gipfelkonferenz eine vielbeachtete Rede.

Im Interview hakt KOMMUNAL bei jenen Punkten ein, die Karas in seiner Rede ansprach – von den bevorstehenden Europaparlamentswahlen, die er als fundamentale Richtungsentscheidung sieht, über die Bedrohungen, denen die europäische Demokratie ausgesetzt ist, bis hin zum Verhältnis der Politikebenen zueinander. Auch das „Young Elected Politicians“-Programm ist Thema, fanden doch aus ganz Europa zahlreiche Jungpolitiker von kommunaler und regionaler Ebene dank dieser Initiative des AdR ihren Weg nach Mons.

Herr Karas, sie waren selbst in diversen Jugendorganisationen engagiert. Ist das Young Elected Politicians-Programm (YEP) aus Ihrer Sicht das am besten geeignete Mittel für junge Politiker um die Politikgestaltung in der EU kennenzulernen?

Othmar Karas: Es ist ein gutes Beispiel. Grundsätzlich ist es ganz wichtig, dass wir alle Programme, die die Europäische Union generell für junge Menschen anbietet, ausreichend nützen. Da gehören Erasmus, Erasmus Plus oder DiscoverEU mit dem Interrail-Ticket genauso dazu.

Jede Begegnung mit anderen Ländern, Kulturen und Menschen macht die europäische Idee erlebbar und motiviert. Was das Politische betrifft: Wenn man auf Plattformen wie dem YEP-Programm tätig bzw. politisch aktiv ist, trifft man viele Menschen und kann sich ein Netzwerk aufbauen, das in Europa für die Mehrheitsbildung und für die Durchsetzung von Interessen dringend notwendig ist.

Wir haben ähnliche Programme auch in den Fraktionen und vom Europaparlament aus. Dadurch hat sich übrigens auf europäischer Ebene der Altersdurchschnitt der Politiker stark gesenkt. Wir sind in den letzten Jahren im Schnitt viel jünger und weiblicher geworden. Es ist für jede und jeden, die oder der in der Kommunalpolitik, Regionalpolitik oder nationalen Politik tätig ist, eine Bereicherung, derartige Plattformen zu nützen und ihnen anzugehören.

Ich kann europäische Programme zum Austausch und zur Vernetzung grundsätzlich jedem empfehlen, auch wenn er keine politische Karriere anstrebt oder nicht ins Europaparlament will.

Othmar Karas sprach vor dem Plenum der Gipfelkonferenz in Mons.
Othmar Karas sprach vor dem Plenum der Gipfelkonferenz in Mons. © European Committee of the Regions CC BY-NC-SA 2.0 DEED

In Ihrer Rede sagten Sie, die EU kann nur dann funktionieren, wenn alle vier Ebenen – europäisch, national, lokal und regional – ihre Verantwortung wahrnehmen und keine davon getrennt betrachtet wird. Welche Rolle haben die untergeordneten Ebenen für den Demokratieprozess in der EU, speziell die kommunale Ebene?

Hier muss ich erst einmal Einspruch erheben. Ich lehne den Begriff Unterordnung ab. Europa ist nicht hierarchisch. Die europäische Demokratie vernetzt die verschiedenen politischen Ebenen. Die kommunale, regionale, nationale und europäische Ebene gehören zusammen. Das ist wie ein Kleeblatt mit vier Blättern - und der Stängel, der die vier Blätter zusammenhält, sind die Bürgerinnen und Bürger.

Jede dieser politischen Ebenen hat ihre Verantwortung, aber die Menschen bleiben immer die gleichen. Es werden übrigens fast 90 Prozent des gesamten Geldes der Europäischen Union in unseren Gemeinden und Regionen ausgegeben, hingegen nur fünf Prozent des gesamten EU-Budgets in den Institutionen der europäischen Ebene. Das ist ein ganz wesentlicher Punkt. Europa lebt in unseren Gemeinden und deshalb ist mir dieses Zusammenwirken von Gemeinde, Region, Nation und Europa so wichtig.

Dennoch haben die verschiedenen Ebenen unterschiedliche Zuständigkeiten?

Alle Parlamente, also Gemeinderat, Landtag, Nationalrat und Europaparlament sind dafür verantwortlich, was auf der jeweiligen Ebene entschieden wird. Und sie alle sind kommunizierende Gefäße in einem gelebten Subsidiaritätsprinzip, das besagt, dass die Entscheidungen nur dann auf einer höheren Ebene getroffen werden, wenn eine Herausforderung zum Beispiel nicht von einer Gemeinde oder einem Bundesland allein getroffen werden kann.

Am 9. Juni sind Europawahlen. Sie meinten, dass diese eine fundamentale Richtungsentscheidung zwischen liberaler Demokratie und Autokratie darstellen, und Sie warnten in dem Zusammenhang vor Populismus, Fake News und dem Zerfall in Nationalismen.

Es ist eine Herausforderung für alle Demokraten. Wir haben in unserer Geschichte noch nie eine Themenlandschaft gehabt, die auf allen politischen Ebenen - kommunal, national, europäisch und auch global - die gleichen Themen hat.

Wir haben die Frage des Klimawandels, der Digitalisierung, der Migration, von Krieg und Frieden, künstlicher Intelligenz, Standortsicherung und Wettbewerbsfähigkeit. Es ist der größte wirtschaftliche, ökologische, soziale und bildungspolitische Transformationsprozess seit 1945. Das macht vielen Menschen Sorge, manche überfordert es - vor allem die Menge und die Gleichzeitigkeit der Herausforderungen. Das macht manchen Menschen auch Angst. Daher ist es so wichtig, dass die Politik ehrlich ist. Dass sie die eine Ebene nicht gegen die andere und das eine Thema nicht gegen das andere ausspielt, sondern die Zusammenhänge erklärt und an Lösungen arbeitet. Sie muss die Menschen in diesem Transformationsprozess begleiten. Das setzt voraus, dass wir uns wie in einer Gemeinde zusammensetzen und zusammenreden, um miteinander diesen Weg zu gehen.

Die Menge und die Gleichzeitigkeit der Herausforderungen macht manchen Menschen Angst. Daher ist es so wichtig, dass die Politik ehrlich ist.“

Das klingt recht normativ. Die Realität scheint jedoch eine andere zu sein.

In Situationen wie der jetzigen gehen extreme oder nationalistische Parteien immer den Weg der Schuldzuweisung, der Spaltung und des Spielens mit den Ängsten.

Hier stehen wir bei der Europaparlamentswahl vor der Entscheidung: Zusammenarbeit oder Nationalismus? Wollen wir an Lösungen gemeinsam arbeiten oder mit dem Finger aufeinander zeigen? Die Europaebene ist diesmal besonders herausgefordert, weil alle die genannten Themen eine europäische Antwort benötigen. Einerseits, um nach innen die Probleme zu lösen, und andererseits, um nach außen eine Rolle in der geopolitischen Auseinandersetzung zu spielen.

Herr Trump und Herr Putin wollen Europa destabilisieren. Die Desinformation will Europa destabilisieren und nationalisieren, damit Europa nicht gestärkt, sondern geschwächt aus diesen Herausforderungssituationen hervorgeht. Daher kommt es auf jede Stimme an und deshalb ist jede Stimme eine Entscheidung zwischen Zusammenarbeit, um Lösungen zu finden, und Spaltung und Nationalismus, der kein Problem löst.

Dieses destruktive Wirken findet sich aber nicht nur auf europäischer Ebene.

Nein, dasselbe haben wir auch in den Mitgliedstaaten und abgewandelt in vielen Fällen auch auf kommunaler Ebene. Es gibt überall Kräfte, die immer nur wissen, wer schuld ist. Und es gibt Kräfte, die sich hinsetzen, engagieren und etwas zusammenbringen wollen.

Der entscheidende Punkt ist: Haben wir den politischen Willen zur Zusammenarbeit? Haben wir den politischen Willen und die Kraft, die Herausforderungen anzunehmen und zu einer Chance zu machen? Oder vermitteln wir den Bürgern den falschen Eindruck, es gäbe die eine, einfache Antwort, die es in Wahrheit nicht gibt?

Die Europa-Studie zur EU-Politik zeigt in Österreich eine sehr hohe EU-Skepsis. Warum sind die Österreicher so kritisch eingestellt?

Der Umstand bereitet mir große Sorge. Natürlich muss man immer auch seine eigene Arbeit hinterfragen.

Es gibt viel Verbesserungspotenzial, von der Entbürokratisierung bis hin zur Kommunikation. Die wichtigsten Punkte sind Ehrlichkeit, Ernsthaftigkeit, Glaubwürdigkeit und Vertrauen. Die Umfrageergebnisse bedrücken mich besonders, weil Österreich einer der Hauptprofiteure der Mitgliedschaft bei der EU ist. Aufgrund unserer geopolitischen Lage, unserer Exportabhängigkeit, unserer hohen Tourismuszahlen und unserer Geschichte profitieren wir enorm vom EU-Beitritt und von der Erweiterung der EU.

Wenn sich die EU nicht um die ost- und mitteleuropäischen Staaten erweitert hätte, würden wir noch immer am Rande Europas liegen statt wie heute im Zentrum. Sicherlich reden wir auch zu wenig über die positiven Veränderungen. Tatsächlich geht es darum, wie wir in Europa Probleme lösen, die wir alleine nicht bewältigen können. Das ist auch im Zusammenhang mit der Europaparlamentswahl wichtig. Deren Dimensionen sollten uns bewusst sein.

Bei der Wahl des amerikanischen Präsidenten am 5. November dieses Jahres werden weniger Amerikanerinnen und Amerikaner an der Wahl teilnehmen als Bürgerinnen und Bürger Europas am 9. Juni ihr Parlament wählen. Mehr noch: Bei der Europaparlamentswahl sind mehr Bürgerinnen und Bürger wahlberechtigt, als Nordamerika überhaupt Einwohner hat. Das Europaparlament ist das einzige multinationale Parlament der Welt mit direkt gewählten Abgeordneten und Gesetzgebungskraft.

Wir dürfen uns nicht immer kleiner machen. Der europäische Gesetzgeber macht Gesetze für 450 Millionen Bürger. Leider reduzieren wir in Österreich die Kommunikation ständig darauf, ob und wo wir uns durchgesetzt haben. Wir argumentieren zu wenig den Kompromiss, in dem auch wir uns wiederfinden. Europa ist immer Kompromiss. Es ist immer Zusammenarbeit und Rücksichtnahme aufeinander. Europa ist nie entweder, oder. Das müsste die Politik viel stärker darstellen.

Das grundlegende Bekenntnis zu Europa steht dennoch außer Diskussion, oder?

Die EU-Mitgliedschaft wird in Österreich von einer deutlichen Mehrheit der Menschen nicht infrage gestellt. Die FPÖ arbeitet allerdings thematisch und kommunikativ am Öxit.

Natürlich ist Europa nicht perfekt. Europa ist aber auch nie fertig, denn es entwickelt sich immer weiter. Wir haben uns durch den Klimawandel bzw. die Maßnahmen gegen ihn weiterentwickelt und reden heute von der Energie-Union. Wir haben uns durch die Pandemie weiterentwickelt - in der stärkeren Unabhängigkeit der Produktion von Impfstoffen und Medikamenten.

Wir müssen uns durch die beiden aktuellen Kriege in der Ukraine und Nahost in der gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik weiterentwickeln. Die Herausforderungen zeigen, dass wir in der Zusammenarbeit stärker werden müssen, um sie bewältigen zu können. Kein Land kann heute alleine für die Sicherheit der eigenen Bevölkerung garantieren. Die Zusammenarbeit ist die Antwort auf die Probleme. Das gilt in der Gemeinde genauso wie in Europa.

Sie konstatierten, Österreich sei „vom Motor der Veränderung zum Bremser des Notwendigen“ geworden. Was muss geschehen, damit wir den Bremser aufgeben?

Es braucht den politischen Willen, zu argumentieren, anstatt Schuld zuzuweisen. Für mich heißt Politik, Verantwortung zu tragen, zur Mitverantwortung zu stehen und die Entscheidungen zu begründen. Das geschieht mir zu wenig. Und das arbeitet den Extremen in die Hände.

Wir sind bei jeder Entscheidung in der EU dabei und daher mitverantwortlich. Wir müssen mutiger, ehrlicher und entschlossener werden. Es ist eine Frage des politischen Selbstverständnisses, die Bürgerinnen und Bürger nicht alleine zu lassen.

Sie haben auch harsche Kritik an der derzeitigen Bundes-ÖVP geübt, Diese sei „nicht mehr die Kraft der Mitte, die sie sein sollte. Bei der jetzigen Europaparlamentswahl treten Sie nicht mehr für sie an. Stattdessen hieß es zuerst, Sie treten im Herbst mit einer eigenen Liste an, später, Sie brächten sich für das Bundespräsidentenamt in Stellung. Was stimmt denn nun?

Ich war, bin und bleibe ein politischer Mensch, der gerne Verantwortung für andere übernimmt. Für mich gilt „Sag, was du denkst und tu, was du sagst.”

Ich kandidiere nicht mehr für die Europaparlamentswahlen und das habe ich begründet. Ich werde bis zum 16. Juli meine Funktion als Erster Vizepräsident des Europaparlaments voll ausüben. Das ist mit ein Grund, warum ich mich natürlich auch bei der Wahl zum Europäischen Parlament engagiere, obwohl ich nicht kandidiere.

Ich werde jetzt mit dem überparteilichen BürgerInnen Forum Europa, das ich gegründet habe, alle Spitzenkandidaten zu Gesprächen mit einem Vertreter der Wirtschaft und einem Journalisten einladen, um aus dieser tagespolitischen Debatte herauszukommen und über Visionen und Einstellungen zu reden. Dafür haben mir alle fünf Spitzenkandidaten zugesagt.

Die Veranstaltungen finden zwischen 30. April und 4. Juni statt. Ich werde dann durch jedes Bundesland fahren und für die Europaparlamentswahlen werben, für die Rolle des Europaparlaments in der europäischen Demokratie und für die Problemlösung. Danach werde ich sehen, welche Türen aufgehen. Und ich werde nur durch jene Türe gehen, wo es im Interesse Österreichs ist und Österreich in Europa und Europa in der Welt stärkt.

Othmar Karas
Neben seiner Funktion im Europäischen Parlament ist Othmar Karas unter anderem auch Präsident des Österreichischen Hilfswerks. Foto: OK

Wie sehen Sie die Entwicklung der Europagemeinderäte?

Ich freue mich sehr über die positive Entwicklung der Europagemeinderäte. Sie übernehmen Verantwortung in der Gemeinde und tragen dazu bei, dass alle Bürgerinnen und Bürger wissen, wie das Zusammenspiel zwischen Gemeinde, Region und Europäischer Union funktioniert. Sie haben die Chance, Europa in den Gemeinden ein Gesicht zu geben.

Und es ist wichtig, dass man an Projekten, an Gesichtern und an Beispielen die Europäische Union zu Hause erlebbar macht. Ich stehe gerne jeder Gemeinde und jedem Europagemeinderat mit Rat und Tat zur Verfügung, weil mir das ganz wichtig ist, dass wir die Informationen über die Zusammenhänge und das Gespräch in den Mittelpunkt der Politik stellen. Die Plattform der Europagemeinderäte ist eine gute Einrichtung. Ich bitte nur, dass man Europa in der Gemeinde nicht nur auf die Europagemeinderäte reduziert.

Spätestens seit Österreichs EU-Beitritt galt Alois Mock als der heimische Parade-Europäer. Später nahm Franz Fischler diese Position ein und heute sehen viele Sie in dieser Rolle. Wer wird das nun in Zukunft sein?

Im Idealfall sind das alle Politiker oder zumindest alle Europaabgeordneten, die sich konstruktiv einbringen. Jeder von ihnen kann es sein. Und jeder, der für Österreich und Europa tätig ist, sollte es sein. Das ist nicht auf eine Person reduzierbar.

Veranstaltungstipp

Die im Interview erwähnten Gespräche mit den fünf SpitzenkandidatInnen zur EU-Wahl finden im Wiener Café Landtmann an folgenden Tagen statt:

  • am 30.April mit Lena Schilling
  • am 2. Mai mit Reinhold Lopatka
  • am 13. Mai mit Harald Vilimsky
  • am 22. Mai mit Andreas Schieder
  • am 6. Juni mit Helmut Brandstätter

Die Anmeldung dafür ist auf Webseite www.buergerforum-europa.at möglich.

Zur Person:

Dr. Othmar Karas M.B.L.-HSG ist noch bis zum 16. Juli 2024 Erster Vizepräsident des Europaparlaments. Des Weiteren ist er Präsident des Österreichischen Hilfswerks sowie Obmann des BürgerInnen Forum Europa.

Transparenz-Hinweis

Das Interview mit Othmar Karas führte Andreas Hussak anlässlich des 10. Europäischen Gipfels der Städte und Regionen, der dieses Jahr in Mons stattfand. Die Reise nach Mons erfolgte auf Einladung des Europäischen Ausschusses der Regionen.