Urbane Entwicklung
Das städtische Quartier im Wandel
Wir wissen definitiv mehr über gute Lebensräume für Berggorillas, sibirische Tiger oder Pandabären als über einen guten städtischen Lebensraum für den Homo sapiens, sagt der dänische Stadtplaner und Stadtforscher Jan Gehl. „Denn mit dem Wiederaufbau nach dem Krieg und mit dem Siegeszug des Automobils haben wir viel von unserem jahrhundertealten Wissen ad acta gelegt.“
Erste kritische Stimmen, dass in vielen der neu errichteten Stadtviertel Dinge im Argen liegen und einige essenzielle urbane Elemente fehlen, meint Gehl, wurden bereits Anfang der 1960er-Jahre laut. Doch es mussten noch viele Jahrzehnte ins Land und in die Stadt ziehen, bis wir die urbanen und suburbanen Dysfunktionen der späten Moderne auch wirklich realisiert haben.
Was ist ein „Quartier“?
Begriffe wie „Speckgürtel“, „Schlafstädte“, „Monofunktionalität“, „kulturelle Verarmung“ und „hochgeklappte Bürgersteige“ prägen die stadtplanerische Debatte seit dem späten 20. Jahrhundert.
Eine große Rolle in dieser zumeist tragischen Entwicklung spielt das Quartier, das inmitten von Stadtautobahnen, Schnellstraßen und mehrspurigen Hauptverkehrsachsen oft die letzte Bastion einer irgendwie fußläufig determinierten Erreichbarkeit darstellt.
Hier verbringen Menschen ihren Alltag, hier sitzen sie an einem schönen Tag auf der Parkbank, hier bewegen sie sich durch den öffentlichen Raum, auf dem Weg von der Wohnung zum Supermarkt, zum Kindergarten, zur Bushaltestelle. Aber ist das genug?
Leben im öffentlichen Raum entsteht nicht von alleine
Nein. „Das städtische Leben hinkte weit hinterher“, schreibt Gehl in seinem 2013 erschienenen Buch „Leben in Städten. Wie man den öffentlichen Raum untersucht“. „Obwohl der städtische Raum und das städtische Leben eine vorrangige Rolle im Laufe der Siedlungsgeschichte gespielt hatten, war es erst ab den 1960er-Jahren klar, dass sich das Leben im öffentlichen Raum nicht von alleine einstellen würde, denn es stand stark unter dem Einfluss von Bedingungen wie Bevölkerungsdichte und den städtischen Gegebenheiten.“ Das größte Problem jedoch:
„Niemand wurde verantwortlich gemacht für das Leben zwischen den Gebäuden.“ Das ändert sich jedoch mit dem Auftreten einiger starker Protagonist:innen wie etwa Jane Jacobs und Kevin A. Lynch, später auch Robert Venturi, Denise Scott Brown und dem französischen Soziologen Henri Lefebvre, der mit seinem Buch „Le Droit à la ville (Das Recht auf Stadt, 1968) auf die „Schachteln“, „Käfige“ und „Wohnmaschinen“ sowie die allzu rasche Urbanisierung der Nachkriegszeit aufmerksam macht.
Das Erbe dieser Stadtdenker:innen und Kritiker:innen im Sinne einer tief greifenden Thematisierung von urbanen Problemen und einer Ermunterung zur Emanzipation eines immer stärker werdenden Stadtbürgertums ist gewaltig.
Autobahn durch New York wurde verhindert
Den ersten international viel beachteten Kampf gegen das Automobil zettelt die kanadische Stadtforscherin und Aktivistin Jane Jacobs an. Ihr Widersacher, der US-amerikanische Stadtplaner Robert Moses, will quer durch das New Yorker Stadtzentrum eine gigantische Autobahnschneise in Hochlage errichten. Mithilfe einer überaus engagierten Bürgergruppe kann Jacobs die Planungen für den LOMEX – die Abkürzung steht für Lower Manhattan Expressway – stoppen und auf diese Weise den Abbruch einiger bis heute weltbekannter Viertel wie SoHo, Nolita, Lower East Side, Chinatown und Little Italy verhindern.
Nicht nur im Süden Manhattans, sondern auch in Greenwich Village, eine Meile weiter nördlich, engagiert sich Jacobs für den Erhalt der bestehenden Stadtquartiere und die Rettung des Genius Loci.
Jahrelang unternimmt sie Basisanstrengungen, um die Nachbarschaft vor Stadterneuerung und sogenannter „Slumräumung“ zu schützen, gründet eine eigene Bürgergruppe und wird 1968 sogar verhaftet, als sie bei einer öffentlichen Anhörung eine größere Menschenmenge zum Widerstand anstiftet. In einer Zeit, in der die Arbeitswoche im globalen Norden verkürzt wird, die Zahl der Urlaubstage in vielen Ländern Europas und Nordamerikas zugleich angehoben wird und allmählich eine sozial und wirtschaftlich potentere „Freizeitgesellschaft“ entsteht, ist dies ein wichtiger Hebel für die zivile Aneignung von Stadt.
Stadtplanerisches Umdenken auch in Europa
In London, Paris, Berlin, Amsterdam und Kopenhagen gehen die Menschen auf die Straßen, protestieren gegen das Zubetonieren und Vollpferchen mit Autos und fordern erstmals ein Umdenken von stadtplanerischen und städtebaulichen Top-down-Prozessen. Während die Ölkrise 1973 dem boomenden Glauben an Fortschritt und Geschwindigkeit einen ersten tiefen Dämpfer versetzt, befeuert sie zugleich die linken Bewegungen und oppositionellen Bottom-up-Kräfte in der Bevölkerung.
In vielen historischen Innenstädten in ganz Europa werden die Autos zurückgedrängt, Straßen und Parkplätze rückgebaut, großflächige Fußgängerzonen angelegt.
Allmählich wurden Bürger einbezogen
Die neue urbane Kultur konzentriert sich nicht allein aufs Zentrum, sondern strahlt auch auf die umliegenden Stadtteile aus. In den 1980er-, 1990er- und 2000er-Jahren wird die Reparatur der Städte und ihrer von der Moderne in Mitleidenschaft gezogenen Stadtquartiere zu einem immer bedeutenderen Thema in den Stadtplanungsämtern.
In einer noch nie da gewesenen Power verschmilzt die Disziplin der Architektur mit der Theorie der Stadtforschung und bildet auf diese Weise einen neuen Aufgabenbereich, dem Jan Gehl sogar ein eigenes Buch widmet: „Life Between Buildings“. Als logische Konsequenz der kontinuierlichen Emanzipation der zivilen Bürgerschaft werden mehr und mehr auch Bürgerinnen und Bürger in die Planungsprozesse einbezogen. Hier kommt nun die Planungs- und Kommunikationskompetenz von auf Partizipation spezialisierten Büros wie etwa Gehl People (Kopenhagen), Assemble (London) oder nonconform ins Spiel.
„In der Planung und Entwicklung von städtischen Quartieren ist in den letzten Jahrzehnten vieles schiefgegangen, weil Kubaturen maximal ausgenützt wurden und großteils nicht Städtebau, sondern nur Siedlungsbau betrieben wurde“, sagt nonconform. „Vor diesem Hintergrund ist es eine wichtige und auch logische Konsequenz, die Menschen in den Planungsprozess von großen, neuralgisch verorteten Quartieren einzubeziehen und die Transformation gemeinsam mit ihnen zu gestalten.“
Ziel ist es, die kollektive Sensibilisierung und über mehrere Generationen erlernte Stadtkompetenz zu nutzen und in die Genese eines Projekts einzubeziehen. Damit wird der Bürger vom Konsumenten zum immateriellen Produzenten.
Der Molkenmarkt in Berlin wird repariert
Auf dem Molkenmarkt in Berlin, der bereits im 13. Jahrhundert angelegt wurde, gibt es schon lange keine urbane Verweilqualität mehr. Die lieblose Freifläche im Spannungsdreieck von Nikolaikirche, Altem Stadthaus und Rotem Rathaus ist heute vor allem ein transitorischer Raum, den man bloß durchwegen und schnell wieder verlassen möchte.
Im Rahmen einer Ideenwerkstatt lotete nonconform daher Assoziationen, Ängste, Wünsche, Ideen und Visionen aus, die in den kommenden Jahren nun sukzessive umgesetzt werden sollen. Der heterogene, zerstückelte Platz wird damit erstmals als Einheit betrachtet und soll „aus den Impulsen der Umgebung und den Qualitätsansprüchen der Akteurinnen und Akteure“ – wie es in den Leitlinien offiziell heißt – ganzheitlich repariert werden.
Gemeinwohlorientierte Entwicklung des Kreuzberger Dragonerareals
Drei Kilometer südwestlich davon liegt das Kreuzberger Dragonerareal. Als Resultat mehrerer Ideenwerkstätten wird das Areal kooperativ und gemeinwohlorientiert entwickelt. Bezirk, Senatsverwaltung, Zivilgesellschaft sowie eine Handvoll landeseigener Wohnbau- und Immobiliengesellschaften arbeiten gemeinsam eine „Kreuzberger Mischung“ heraus: urbanes, durchmischtes Quartier mit Wohnen, Gewerbe, Kunst- und Kulturstätten, Kinder- und Jugendeinrichtungen und sehr ambitionierten baukulturellen Qualitäten, die nicht zuletzt klimaadaptive und klimaschutzrelevante Elemente beinhalten.
Quartiersprojekte in Wien
Auch bei großstädtischen Quartiersprojekten in Wien, etwa dem Oberen Hausfeld oder den Stadtentwicklungsgebieten Pilzgasse und Berresgasse, bringt nonconform seine Expertise mit ein – mal durch die Errichtung eines Wohnquartiers mit über 160 Wohnungen und einer identitätsstiftenden Mitte, mal mit einem Leitkonzept für ein durchmischtes Wohn- und Gewerbegebiet im Sinne der „produktiven Stadt“, mal in einem mehrstufigen Analyse- und Beteiligungsprozess, in dem Anforderungen und Qualitäten für den bisher größten Bauträgerwettbewerb des wohnfonds_wien ausformuliert werden.
„Die gründerzeitliche Stadt war bei Weitem kein problemloses Paradies, wie sie retrospektiv oft verklärt dargestellt wird“, sagt nonconform.„Aber sie war sinnbildlich für eine gewisse Bebauungs- und Nutzungsmischung, die wir seit der Charta von Athen 1933 und der damals niedergeschriebenen Funktionstrennung von Wohnen, Arbeiten, Verkehr und Naherholung nach und nach verlernt haben.“
Auch heute noch funktioniert die Gründerzeitstadt reibungslos, sie hat viele Moden und unterschiedliche Nutzungsanforderungen gut integrieren können.
Verloren gegangene Qualitäten und heutige Anforderungen verweben
Die Herausforderung besteht nun darin, daraus zu lernen und auf Basis der Defizite und Erkenntnisse die verloren gegangenen Qualitäten der letzten 100 Jahre mit den heutigen Anforderungen an Stadt und städtische Infrastruktur neu zu verweben.
Die im europäischen Vergleich überaus innovativen Fachkonzepte Mobilität, Grün- und Freiraum, Produktive Stadt und vor allem Polyzentrale Stadt, die in die Wiener Stadtentwicklungsplanung 2035 einfließen sollen, zeigen auf, wie diese urbane Melange in Zukunft aussehen kann. Ähnliche innovative Initiativen und Rahmenprogramme sind auch in Berlin, München, Paris, Amsterdam, Kopenhagen und Barcelona zu beobachten.
Andere Herausforderungen in kleineren Städten
Auch in Klein- und Mittelstädten widmet sich nonconform der Reparatur und Weiterentwicklung von Quartieren – ob das nun das Kardinalviertel in der Klagenfurter Innenstadt, das Goldbach-Quartier rund um das Einkaufszentrum Breuninger-Land in Sindelfingen, das Zanders-Areal rund um eine ehemalige Papierfabrik im Zentrum von Bergisch Gladbach oder das durchmischte Wohnquartier auf den Christiani-Wiesen in Konstanz ist. All diese Projekte sind essenzielle Impulse, und mit einem gut aufgesetzten Partizipationsprozess können hier wichtige Weichen gestellt werden.
„Allerdings haben wir erkannt“, sagt nonconform, „dass es zu partizipativen Planungsprozessen in kleineren Kommunen einen erheblichen Unterschied gibt – und zwar betrifft dies die Gefühlsebene der Menschen.“
Während eine Ideenwerkstatt und die darauffolgenden Planungs- und Entwicklungsschritte in einem Dorf meist als ein positiver Ausnahmezustand, als eine Art euphorische Baukulturkirmes, wahrgenommen werden, im Zuge dessen viel Neues entsteht, das dem Ort eine Aufwertung bringen wird, dominiert in bestehenden, bereits etablierten Quartieren – wenn es um weitere Planungs- und Entwicklungsschritte geht – oftmals das Gefühl der Angst und Sorge. Die Menschen fürchten sich vor Veränderung, vor Nachverdichtung, vor der Wegnahme von Freiraum, vor neuen Nachbarn sowie vor dem Verlust von Gewohnheitsrechten.
„Bei Quartiersentwicklungen“, meint nonconform, „steht der Flächenkampf im Mittelpunkt. Es geht also darum, den Bürgerinnen und Bürgern diese Angst zu nehmen, sie mit den wesentlichen Stakeholdern an einen Tisch zu bringen, einen Aushandlungsprozess zu moderieren und sie wieder an ihre eigene Kompetenz und Selbstwirksamkeit zu erinnern.“
Lokalkolorit wahren
Funktionalität – und im besten Falle Multifunktionalität – ist jedoch bei Weitem nicht alles, was ein Quartier, einen Bezirk, ein Grätzel, ein Barrio, eine Hood, ein Veedel oder einen Kiez auszeichnet.
Lokale und regionale Ausdrücke für diesen elementaren städtischen Baustein gibt es unzählige. Nein, es geht um weit mehr:
„Das Ziel muss sein, eine gewisse Öffentlichkeit und ein gewisses Lokalkolorit zu wahren“, sagt die US-amerikanische Soziologin Saskia Sassen. „Die Aufgabe von Städten ist es, nicht alles zu verkaufen und zu privatisieren. 70 Prozent der Londoner Immobilien sind in Besitz von Ausländern, nur ein Drittel der Stadt gehört den Briten. In New York City sind die wichtigsten Landmarks ebenfalls fest in ausländischer Hand. Das muss man sich einmal vorstellen!“
Ausverkauf städtischen Raumes droht
Wenn Stadtplanung und Stadtverwaltung nicht einschreiten, wenn die Menschen nicht in die Gestaltung und in grundsätzliche Zukunftsfragen ihrer Wohn- und Lebensquartiere miteinbezogen werden, meint Sassen, die das Phänomen als „buy-out of urban land“ bezeichnet, drohe der Ausverkauf städtischen Raumes. „Und wenn das passiert, dann geht das urbane Leben verloren, dann sterben die Stadtviertel aus und reduzieren sich nur noch auf ihre archaische Schutzfunktion des Shelter, dann schaut es nur noch so aus wie Stadt, dann ist es aber nicht mehr Stadt. Wollen wir das wirklich?“
Die Antwort auf diese Frage fällt unmissverständlich aus. Wie sonst erklären wir uns, dass wir zu einigen, zum Teil gar nicht so großen Quartieren in aller Welt sofort ein Bild vor Augen, ja oft sogar einen Geruch in der Nase und einen Klang in den Ohren haben?
Ob nun Prenzlauer Berg, Barri Gótic, Plaka, Taksim, Nørrebro, Le Marais, Quartier Latin, Notting Hill, SoHo, Chelsea, Greenwich Village, The Castro, Bo-Kaap, The Bund, Shibuya, Condesa oder Copacabana: Es ist unsere Aufgabe und liegt in unserer Verantwortung, diese Liste kraft der Menschen und der uns heute zur Verfügung stehenden Mittel und Methoden fortzusetzen.