Bei der Pflegereform ist ein gemeinsamer Kraftakt notwendig
Der türkis-grüne Reformstart im Bereich der Pflege, der eigentlich zeitnahe nach der Budgetrede des Finanzministers zum Bundesvoranschlag 2020 (ursprünglich für 18. März vorgesehen) erwartet wurde, wird sich – wie viele andere Vorhaben – nun durch Covid-19 nach hinten verschieben, da größere Arbeitsgruppensitzungen von Vertretern des Bundes, der Länder und der Gemeinden in den nächsten Wochen nicht zu erwarten sind.
Auch könnte sich angesichts der steigenden Staatsausgaben (Stichwort Covid-19-Krisenbewältigungsfonds) und sinkender Staatseinnahmen (Lohnsteuer, Einkommensteuer, Umsatzsteuer etc.) der Fokus der Reform auf die weniger ausgabenintensiven Maßnahmen verschieben.
30 % mehr Pflegekräfte notwendig
Laut der aktuellen Prognose der Gesundheit Österreich GmbH wird der Personalbedarf im Jahr 2030 (gegenüber den 2017er-Zahlen) bei gut 34.000 zusätzlichen Pflegekräften liegen – vom Diplompersonal in Krankenanstalten über die Pflege(fach)assistenz bis hin zur Heimhilfe.
Bei einem aktuellen Ist-Stand von rund 127.000 Personen entspricht das einem Plus von fast 30 Prozent (ohne Berücksichtigung von Nachbesetzungen wegen Pensionierungen, Job-Wechseln etc.). Die Gründe dafür sind weithin bekannt und liegen vor allem in der demografischen Entwicklung, im gesellschaftlichen Wandel sowie im starken Anstieg demenzieller Erkrankungen.
Die öffentlichen Ausgaben Österreichs für die Pflege und Betreuung liegen mit rund 2 Prozent des BIP im oberen Mittelfeld der EU-Staaten, lediglich die Benelux- und die skandinavischen EU-Staaten liegen teils deutlich darüber. Deutschland – das im Gegensatz zu Österreich die Pflege nicht über Steuern, sondern über Sozialversicherungsbeiträge samt Zuzahlungen der Pflegebedürftigen und Angehörigen finanziert - liegt mit etwa 1,3 Prozent des BIP weit hinter uns.
Die Tabelle zeigt, dass rund 80 Prozent der Pflegegeld-Bezieher in den eigenen vier Wänden und rund 20 Prozent in stationären Einrichtungen bzw. vergleichbaren Wohnformen betreut werden. Bei den stationären Einrichtungen war von 2017 auf 2018 (Stichwort bundesverfassungsgesetzliches Pflegeregressverbot) ein deutlicher Anstieg von über 15 Prozent zu verzeichnen.
Die Zahlen zu den Pflegegeldbeziehern anteilig zur Wohnbevölkerung zeigen auch, dass im Ländervergleich das Burgenland, Kärnten und die Steiermark vor noch größeren Herausforderungen in der Pflege stehen.
Pflegend Angehörige sozialrechtlich absichern
Um dem vorrangigen Wunsch der Menschen nach Pflege und Betreuung in den eigenen vier Wänden Rechnung zu tragen, ist es auch dringend geboten, die Situation der aktuell rund eine Million an betreuenden Angehörigen in unserem Land weiter zu verbessern und sozialrechtlich abzusichern.
Jeder, der schon unmittelbar mit Pflegebedürftigkeit und Demenz zu tun hatte, weiß, wie erfüllend, aber auch wie anstrengend und emotional fordernd die Betreuung und Pflege sein kann, vor allem auch dann, wenn das eigene (Berufs-)Leben immer mehr in den Hintergrund tritt.
Die Maßnahmen des Regierungsprogramms
Eine kürzlich von Kommunalnet durchgeführte Befragung der Kommunen zeigte einmal mehr, dass das Thema Pflege und Betreuung sowohl organisatorisch wie auch finanziell eine enorme Herausforderung für die Gemeinden darstellt – nicht zuletzt deshalb, weil die Pflege von Angehörigen innerhalb der Familien in den letzten Jahren mehr und mehr bröckelt und die Gemeinde auch im Pflegebereich häufig die erste Ansprechpartnerin ist.
Auch wird in den Umfrageergebnissen die Einbindung der Gemeindeebene in die Entscheidungen auf Bundes- und Landesebene als ausbaufähig erachtet (Stichwort Abschaffung des Vermögensregresses in der stationären Pflege ohne Einbindung der kommunalen Interessensvertretungen während des Kern-Wahlkampfs zur Nationalratswahl 2017).
Nachstehend nun eine Aufstellung (Punktation) einiger im Regierungsprogramm vorgesehener Maßnahmen im Bereich der Pflege und Betreuung sowie einige Anmerkungen dazu:
So viel wie möglich daheim und ambulant – so viel wie nötig stationär
- Um Menschen zu ermöglichen, weiterhin in ihrem Zuhause betreut zu werden, wird zur Entlastung der pflegenden Angehörigen die mobile Pflege und Betreuung ausgebaut und weiterentwickelt.
- Wohnortnahe und dezentrale Angebote schaffen
- Schaffung einer Möglichkeit zur Beschäftigung einer 24-Stunden-Betreuung für mehrere Kunden
- Verbesserung der Pflegegeld-Einstufung: Entwicklung eines Pflegegeldsystems, in dem alle Bedarfe berücksichtigt sind; Neubewertung der Einstufung nach betreuendem, pflegerischem und medizinischem Bedarf unter besonderer Berücksichtigung der Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung; Weiterentwicklung des Pflegegeld-Einstufungsprozesses (Mehr-Augen-Prinzip); Verbesserung der Demenzbewertung
Bereits jetzt gibt es eine Vielzahl an Pflege- und Betreuungssettings, von Privatinitiativen, Besuchsdiensten und der 24-Stunden-Betreuung über professionelle mobile Pflegedienste, die teilstationäre Tagesbetreuung, die stationäre Kurzzeitpflege bis hin zu alternativen Wohnformen und stationären Einrichtungen für Betreuungs- und Pflegebedürftige.
Dass angesichts der demografischen und gesellschaftlichen Entwicklungen die Kapazitäten in allen Bereichen ausgebaut werden müssen, steht außer Frage – und auch dass die Kräfte und finanziellen Mittel besser gebündelt werden könnten. So braucht es etwa auch Klarheit in der Frage, wie die Finanzierung vonstatten geht, wenn ein älterer Mensch im räumlich weitaus näheren Pflegeheim der Nachbargemeinde aufgenommen werden soll, die zufällig im Nachbarbundesland liegt.
Frühzeitige Information ermöglicht selbstbestimmte Entscheidungen
Neben der Aufstockung von Betreuungsangeboten und Pflegepersonal und damit letztlich auch finanziellen Mitteln (der Bund muss hier eine deutlich größere Verantwortung übernehmen als bisher) müssen die Menschen aber auch besser informiert und vorbereitet werden, noch bevor das Thema Pflege und Betreuung akut wird.
Wer gut und rechtzeitig informiert ist, kann frei, selbstbestimmt und möglicherweise noch vor stärkeren Einschränkungen seiner Gesundheit und Bewegungsfreiheit seine Entscheidungen treffen – sei es nun der Verbleib in den eigenen vier Wänden mit Unterstützung von mobilen Diensten oder der Umzug in eine alternative Wohneinrichtung mit Betreuungs- und eventuell auch Pflegeangebot vor Ort.
Auch wenn man Inhalte und die fachliche Diskussion in den Vordergrund stellen will, wird letztlich dennoch die Finanzierung den Rahmen der Reform darstellen.
Das betrifft sowohl die Pflegebedürftigen und deren Angehörige (die angekündigte stärkere Berücksichtigung demenzieller Erkrankungen bei der Pflegegeld-Einstufung ist ausdrücklich zu begrüßen) als auch die staatliche Finanzierung, die in Österreich von Bundesseite in Form von Geldleistungen und von Gemeinde- und Landesseite vor allem über die Bereitstellung von Sachleistungen erfolgt.
Vermögensregress-Verbot sollte adaptiert werden
Das überhastete und unüberlegt in Wahlkampfzeiten eingeführte Vermögensregress-Verbot sollte zum einen ein mahnendes Beispiel sein, wie man Reformen nicht machen sollte (im Alleingang vorbei an Ländern und Gemeinden), und zum anderen sollte über eine Adaptierung nachgedacht werden, um die gesetzten Anreize (Run auf die Pflegeheime) und die Finanzierungsfolgen für den Staat zu mildern.
Das Ziel des Erhalts von Eigentum in der Familie ist gerechtfertigt und verständlich, ebenso aber auch das Leisten eines Beitrags für das Gemeinwohl (nicht alle Lebensrisiken – zu denen auch Pflege und Betreuung gehören – können zur Gänze dem Staat übertragen werden).
In diesem Sinne könnte das Vermögensregressverbot in der stationären Pflege etwa auf 70 Prozent des Vermögens bzw. Immobilienwerts begrenzt und gleichzeitig eine langfristige Finanzierungsmöglichkeit für die einantwortenden Erben geschaffen werden, um das Elternhaus im Familieneigentum halten zu können.
Pflegende Angehörige, Information und Zivilgesellschaft
- Pflegefreier Tag als Unterstützung für pflegende Angehörige und Burn-out-Prophylaxe […] Verbesserung der Vereinbarkeit von Pflege und Beruf
- Ausbau und Flexibilisierung von ambulanten Diensten im Bereich Pflege und Betreuung; Ersatz- und Entlastungspflege für pflegende Angehörige (z. B. im Krankheitsfall): Sicherstellung von finanzieller Unterstützung
- In Zusammenarbeit mit den Ländern: Ausbau der kostenlosen und wohnortnahen Beratung zu Pflege und Betreuung für pflegebedürftige Menschen und deren Angehörige bzw. Case-Management in Fragen zu Unterstützungsangeboten, Finanzierung, Rechtsfragen; zur Gestaltung von individuellen Pflege- und Betreuungsarrangements
- Etablierung einer umfassenden Informationsplattform für Betroffene und Angehörige
- Stärkung der Selbsthilfe und Zivilgesellschaft sowie des ehrenamtlichen Engagements: Stärkere Förderung von Angehörigengruppen, Besuchsdiensten und Koordination von Freiwilligen
Personaloffensive und Projekt „Community Nurses“
- Personal und Ausbildung: Prüfung der Etablierung eines Ausbildungsfonds; Ansprechen von neuen Zielgruppen (zweiter und dritter Bildungsweg, Angehörige mit Pflegeerfahrung); GuKG-Novelle zur Kompetenzausweitung für Pflegefachassistenz
- Prüfung der Reduktionsmöglichkeiten von Dokumentations- und Bürokratieverpflichtungen (Entbürokratisierung, u. a. auch
- OPCAT), Abbau von Doppelgleisigkeiten
- Verbesserung der Arbeitsbedingungen für Bedienstete in Sozial- und Pflegeberufen, z. B. Gesundheitschecks etc.
- In 500 Gemeinden sollen sogenannte „Community Nurses“ Ansprechperson für Angehörige werden und die Koordination von mobilen Pflege- und Betreuungsdiensten, medizinischen und sozialen Leistungen sowie von Therapien, aber auch Präventionsmaßnahmen (Hausbesuche ab dem 75. Lebensjahr, Ernährung, Mobilität etc.) übernehmen
- Die Verbesserung der Information und die Stärkung der (sozialrechtlichen) Situation der Angehörigen sind dezidiert zu begrüßen und die Notwendigkeit der Entlastung und der Aufstockung der Berufsgruppen in Pflege und Betreuung steht außer Frage. Die im Regierungsprogramm angedachte Einführung von sogenannten „Community Nurses“ (die nach schwedischem Vorbild sowohl koordinierende und beratende wie auch therapeutische Aufgaben übernehmen sollen) kann eine sinnvolle Ergänzung des aktuell noch wenig ausgebauten Care- und Case-Managements auf lokaler Ebene sein. Auch hier wird es im anstehenden Reformprozess Fragen der Zuständigkeit, der Diensthoheit und letztlich auch der Finanzierung zu klären geben.
Weitere Schritte
Wie in anderen Politikfeldern wird die Corona-Krise auch in der Pflege viele Standpunkte und Blickwinkel auf notwendige Reformen verändern und möglicherweise mehr Flexibilität und Kompromissbereitschaft in Aufgaben-, Kompetenz- und Koordinationsfragen ermöglichen. Leider wird aber wohl auch der finanzielle Spielraum für den (zeitlich aktuell nicht abschätzbaren) Reformprozess deutlich gemindert werden.
Gerade jetzt ist es notwendig, Zuversicht zu haben - im Fall der Pflegereform, dass am Ende des Diskussionsprozesses eine nachhaltige Sicherung samt Finanzierung unseres in weiten Bereichen hervorragenden Pflegesystems herauskommt, das regionale Stärken berücksichtigt und mit weniger Bürokratie für die Betroffenen und das Pflege- und Betreuungspersonal auskommt.