„Angst essen Europas Seele auf“

Man kann Rainer Werner Fassbinder mögen oder auch nicht. Sein Werk „Angst essen Seele auf“ passt leider perfekt zu dem, was sich in Europa gerade abspielt.





Trotzdem bemerkt das Umfeld im Lauf der Zeit, wie gut man den kräftigen Marokkaner für kleine Handreichungen und sonstige Hilfsdienste einsetzen kann. Und sogar Emmi beginnt, Ali als nützliches Objekt zu sehen. Was der Beziehung nicht gut tut, worauf Ali sich wieder in die Kneipe zurückzieht. Emmi versucht Ali zurückzugewinnen.



Mitten im Gespräch bricht Ali zusammen, und Emmi kommt dahinter, dass er ein Magengeschwür hat, das – als Gastarbeiter hat er kein Anrecht auf einen Kuraufenthalt – nicht richtig behandelt wird und er es deshalb immer wieder bekommen wird. Das Ende bleibt offen.



Das alles wiederholt sich derzeit in Europa täglich - verstärkt durch die Anzahl der „Alis“, die nach Europa strömen und ins Groteske verstärkt durch die feigen und mörderischen Anschläge einiger weniger Fanatikerinnen und Fanatiker. Im Grund haben viele Menschen einfach nur Angst. Angst vor der Veränderung, vor dem Umbruch, der auf Europa zukommt.



Wir sind keine Insel der Seligen, wir können uns vor unseren notleidenden Nachbarn nicht abschotten. Das wird nicht funktionieren. Und ja: Viele haben Angst davor, in einen Terroranschlag zu geraten, verletzt oder getötet zu werden. Deshalb müssen wir auch genau hinschauen, wer kommt und wachsam sein.



Wenn wir aber Europa mit einer Mauer und vielen kleinen Zäunen umgeben, dann haben die Verbrecher des „ISIS“ oder „Daesh“ – wie immer man sie nennt - schon ein Ziel erreicht.



Europas Angst vor dem Terror wird sich legen und Europas Wohlstandsgesellschaft wird dahinter kommen, wie wichtig Zuwanderer sind.



Schon jetzt klagen Wirtschaftsbosse über die immer weniger werdende Zahl der Lehrlinge und der Arbeiter für ihre Fabriken. Gleichzeitig wird unsere Gesellschaft immer älter mit allen dazugehörigen Problemfeldern. Grob gesagt: Es fehlt an Pflegepersonal und es fehlt an einer jüngeren Generation, die die ältere trägt. Jedenfalls solange der „Generationenvertrag“ noch halbwegs gilt, aber das ist ein anderes Kapitel.



Da tut sich aber die nächste Fallgrube auf: Wir können und dürfen die Menschen, die auf der Flucht vor Krieg und Not zu uns kommen, nicht einfach nur als nützliche Arbeitskräfte sehen.



Wir müssen die Menschen, die bleiben wollen, bei uns integrieren. Wir müssen sie motivieren, sich unserer offenen Gesellschaft anzupassen. So wie wir offener werden sollten, müssen Zuwanderer das aber auch tun. Überspitzte Ehrbegriffe, die zu Vendettas führen, haben in „meinem Europa“, das ist es ja auch, keinen Platz mehr. Ein „Ehrenmord“, weil die Tochter unerlaubt heiratet, ist inakzeptabel.



Der einzige Weg aus diesem Dilemma, den ich sehe, ist der Weg, den die Gemeinden jetzt schon gehen. Es ist die Arbeit, die in vielen Gemeinden geleistet wird, wo die Menschen zusammenkommen, wo versucht wird, Integration zu leben. Keine Frage: Es wird von Zeit zu Zeit krachen, es wird Rückschläge geben, es wird Streit geben – auch klar. Es werden sich unter die Fliehenden auch einige wenige Verbrecher mischen, die uns Böses wollen. Aber das wird sich trotz aller Sicherheitsvorkehrungen, trotz aller Zäune, aller Sperrmaßnahmen, aller Kontrollen, aller Überwachung nicht vermeiden lassen. Vor allem, weil viele ja schon hier sind.



Alle Maßnahmen, die Europa und wir hier bei uns setzen können, treffen uns auch, das muss uns klar sein. Es ist unsere Reisefreiheit, die aufgehoben wird – wir sperren uns mit Zäunen ja selbst ein. Es ist unsere Gewissheit, in einer Demokratie und nicht in einem Polizeistaat zu leben, die wir verlieren. Es ist unser Gemeinschaftsgefühl, es sind unsere Menschen- und Bürgerrechte, die durch Kriegsrhetorik und Terrorangst vernichtet werden könnten. Es ist im Grunde eine alte Angst, die im neuen Kleid vor uns steht. Es ist die Frage, die die Älteren unter uns noch aus dem Kalten Krieg kennen: Wie viel Sicherheit wollen wir gegen wie viel Freiheit aufwiegen?



Ich bin auch sehr im Zweifel, ob noch mehr Bomben die Lage in den Herkunftsländern bessern werden. Kein Zweifel, ISIS gehört weg, aber vermutlich wird es bei uns erst „besser werden“, wenn wir akzeptieren, dass wir in einer Zeit des massiven Umbruchs in allen unseren Lebensbereichen leben. Die Frage ist, ob wir bereit sein wollen, „Ali“ als vollwertiges Mitglied unserer Gesellschaft zu sehen – mit allen Rechten und Pflichten! Dann braucht Ali keine Angst mehr zu haben – und wir auch nicht.