Hans Aubauer (UNIQA), Moderator Felix Lill, Michael Santer (Kommunalkredit), Gemeindebund-Präsident Johannes Pressl, Wilfried Pinggera (PVA) und Politologe Peter Filzmaier
Hans Aubauer (UNIQA), Moderator Felix Lill, Michael Santer (Kommunalkredit), Gemeindebund-Präsident Johannes Pressl, Wilfried Pinggera (PVA) und Politologe Peter Filzmaier

Kommunale Sommergespräche

Zwischen Demografie und Datenzentren – Gemeinden am Limit

Vom Pflegeheim bis zum Datenzentrum: Österreichs Gemeinden stehen vor einer doppelten Herausforderung. Bei den 20. Kommunalen Sommergesprächen in Bad Aussee wurde klar: Wer das Land retten will, muss kreativer sein als die Manga-Dörfer Japans – und härter als die Stromrechnung der Zukunft.

„Sterben wir wirklich aus?“ – Peter Filzmaier legt den Finger in die Wunde. Viele wussten schon vorher, was kommt: Karten, Zahlen, pointierte Sätze – und ein Schuss Ironie. „Der ländliche Raum stirbt aus?“ wiederholt er die provokante Frage. Dann schüttelt er den Kopf: „Das ist einer der dümmsten Sätze überhaupt. Wenn das stimmen würde, wären wir längst alle tot.“ Lachen im Saal, aber auch ein leises Unbehagen.

Filzmaier zeigt Folien mit farbigen Landkarten, die mehr über das Land verraten als manche Wahlrede. Dunkelrot heißt: Durchschnittsalter über 50. Dunkelblau: Bevölkerungsschwund. Wien und Graz leuchten in freundlichem Gelb – jung, dynamisch, zuziehend. Doch in Gegenden wie Heidenreichstein, im südöstlichen Burgenland oder in Murau zieht die Farbe ins Dunkle. „Das sind die Orte, wo es wirklich weniger Menschen gibt. Schrumpfen, ja. Aber Aussterben? Nein.“

Er verweist auf das Waldviertel, wo Regionalmanager Josef Wallenberger den alten Mythos von der Landflucht hinterfragt. „Es ziehen auch Junge zu – aber ebenso viele ziehen weg. Das Bild ist komplizierter, als Stammtischsätze glauben machen.“

Dann wird Filzmaier ernster. Er spricht von der „Altersluft“ in den Gemeinden, von der Tatsache, dass in vielen Orten die über 50-Jährigen die Mehrheit stellen – bei Abstimmungen, in der Vereinsarbeit, in der politischen Kultur. „Das ist nicht per se schlecht. Aber es ist ein Ungleichgewicht. Junge fühlen sich nicht mehr gebraucht – und wenden sich ab.“

Noch deutlicher wird der Unterschied bei der Bildung: In Städten ist der Anteil an AkademikerInnen doppelt so hoch wie am Land. Für Filzmaier ist das nicht nur Statistik, sondern eine Schlüsselfrage: „Wer betreut uns im Krankheitsfall, wenn es am Land kaum Ärztinnen und Ärzte gibt? Wer übernimmt Pflege, wenn die Fachkräfte fehlen?“

Auch die politische Polarisierung verschärfe sich zwischen Stadt und Land. Bei der Bundespräsidentenwahl 2016 wäre Norbert Hofer „mit zwei Dritteln Mehrheit Präsident geworden, wenn nur das Land gewählt hätte“. Städte hingegen wählten grün. Das gleiche Muster bei den Nationalratswahlen: urban SPÖ und Grüne, ländlich ÖVP und FPÖ.

Zum Schluss gönnt er sich einen Seitenhieb auf die eigene Zunft. „Kommunikationsstrategisch ist der Satz ‚der ländliche Raum stirbt aus‘ Gift. Wenn wir das seit zehn Jahren behaupten – was sollen wir in weiteren zehn Jahren sagen? Dass niemand mehr übrig ist, um herzukommen?“

Er plädiert dafür, die Debatte umzudrehen: nicht vom Untergang reden, sondern von den Leistungen der Gemeinden. Von Vereinbarkeit von Beruf und Familie, von Pflegeinitiativen, von ökologischen Notwendigkeiten. „Die 25 Prozent, die am Land leben, darf man politisch nicht fallen lassen. Wer das tut, gefährdet nicht nur Regionen, sondern auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt.“

Applaus brandet auf. Manche lächeln erleichtert, andere schauen nachdenklich. Die Botschaft ist angekommen: Aussterben ist keine Option – aber Wegschauen auch nicht.

Manga-Inseln gegen den Bevölkerungsschwund

Wenn in Österreich die Rede von Landflucht ist, dann fallen schnell Wörter wie „Abwanderung“ oder „Überalterung“. In Japan spricht man noch drastischer: „Shōmetsu Kanosei Toshi“ – Städte, die vom Aussterben bedroht sind. Journalist Felix Lill, der zwischen Tokio und Berlin pendelt, schildert die Realität: 900 Kommunen gelten dort als solche Wackelkandidaten.

Er nimmt die Zuhörer mit in die Kleinstadt Yokose, nur zwei Zugstunden von Tokio entfernt. Dort hat man die letzte Schule geschlossen – weil es schlicht keine Kinder mehr gab. Statt das Gebäude verfallen zu lassen, wurde es in eine Bühne für Cosplayer verwandelt: Jugendliche und Erwachsene mieten Klassenzimmer, ziehen Anime-Kostüme an und spielen Szenen ihrer Lieblingsserien nach. „Das bringt Geld, Tourismus und Leben zurück“, erzählt Lill. Selbst die ehemalige Bankfiliale hat eine neue Rolle: Aus dem Tresor wurde eine Fotokabine, oben im Gebäude schlafen heute Digitalnomaden.

Noch radikaler ging die Insel Takaikamishima vor: Von einst 300 Einwohnern sind noch elf geblieben. Doch statt Resignation bemalten die letzten Bewohner leere Häuser mit Manga-Figuren. Eine ehemalige Schule wurde zur „Manga-Schule“, wo Lehrkräfte aus Tokio Wochenendkurse geben. Lill fasst zusammen: „Die Insel ist jetzt ein Medienhit. Vielleicht stirbt sie nicht – sondern erfindet sich neu.“

Für die Bürgermeister im Saal ist das ebenso skurril wie inspirierend: Aus Schrumpfung kann Kreativität werden.

Alltag im Alter – Kommunen zwischen Pflege und Würde

Johannes Pressl, Bürgermeister von Ardagger und Präsident des Gemeindebunds, blickt nicht nach Japan, sondern in die Wohnzimmer seiner Gemeinde. „Wir sehen die Alterung nicht nur in Statistiken, wir spüren sie täglich in den Bedürfnissen der Menschen.“

Er erzählt von einer Nachbargemeinde, die eine Tagesbetreuungsstätte eröffnet hat – ein „Kindergarten für alte Menschen“, wie Pressl es nennt. Für viele Familien sei es die rettende Stufe vor dem Pflegeheim. Doch sofort tun sich neue Fragen auf: Wie kommen die Menschen dorthin, wenn sie nicht mehr mobil sind? Die Lösung: Rufbusse, die gezielt ältere Menschen abholen.

Darüber hinaus probiert seine Region neue Modelle: Gesunde Kleinregionen, die generationengerechte Angebote entwickeln. Community Nurses, die pflegende Angehörige beraten. Und sogar die Idee einer Senioren-Wohngemeinschaft, wo mehrere ältere Menschen sich eine 24-Stunden-Betreuung teilen.

Pressls Fazit: „Altern in Würde darf kein Schlagwort bleiben. Wir müssen es vor Ort organisieren – mit Kreativität, aber auch mit Geld.“ Der Saal applaudiert: Viele Bürgermeister erkennen ihre eigenen Kämpfe wieder.

Datenzentren als Stromfresser – und als Heizkraftwerke

Nach der Mittagspause verschiebt sich die Diskussion von grauen Haaren zu grauen Kästen: Rechenzentren. Die Kathedralen der Digitalisierung sind für Künstliche Intelligenz unverzichtbar – und verschlingen gigantische Mengen Energie.

Ein Investor rechnet vor: Der Strombedarf europäischer Rechenzentren könnte bis 2030 von 60 Gigawatt auf 300 Gigawatt steigen. Österreich sei dabei ein interessanter Standort – wenn es nicht den Flaschenhals gäbe: die Netze. „Wir haben Anfragen von rund 3000 Megawatt Leistung auf dem Tisch“, berichtet ein Vertreter der Austrian Power Grid. „Aber wir können nicht zusagen, dass wir diese Datenzentren ans Netz bekommen.“

Das Problem: Genehmigungen, Bürgerproteste und langsamer Netzausbau. „Not in my backyard“ lautet das Mantra vieler Gemeinden, wenn Leitungen verlegt werden sollen. Doch ohne Netze keine Rechenzentren – und ohne Rechenzentren keine digitale Transformation.

Immerhin gibt es auch kreative Lösungen: In Frankfurt wird die Abwärme eines Datenzentrums bereits genutzt, um eine Konzerthalle und Wohnblöcke zu beheizen. In Skandinavien speisen Serverparks bis zu zehn Prozent der Fernwärme ins Netz. „Das ist Kreislaufwirtschaft pur“, sagt ein Banker, „und das Geschäftsmodell der Zukunft.“

Der Widerspruch bleibt: Stromfresser oder Zukunftsmotor? Für Gemeinden ist klar: Sie werden zwischen Infrastrukturängsten und Standortchancen zerrieben.

Nahversorgung – das stille Sterben der Läden

Kaum ein Thema bringt die Bürgermeister so zum Seufzen wie dieses: leere Regale im Dorf. Marcel Haraszti, Chef von REWE International, spricht Klartext. Seit 2010 ist die Zahl der Nahversorger in Österreich um elf Prozent gesunken. „Heute haben 580 Gemeinden keinen einzigen Lebensmittelladen mehr“, sagt er.

Die Gründe: Personalkosten stiegen in drei Jahren um 20 Prozent, Energiekosten allein heuer um über 30 Prozent. „Unsere Margen liegen bei einem Prozent. Da kann man sich keine goldene Nase verdienen“, so Haraszti. Kleine Kaufleute halten das nicht mehr durch.

Dabei schwanke die Politik zwischen Widersprüchen: Mal seien es „zu viele Supermärkte“, mal fordere man Nahversorgung um jeden Preis. Besonders absurd sei die 72-Stunden-Regel, die unbemannte Boxen zwingt, nach drei Tagen zu schließen. „Wie soll das die Nahversorgung retten?“ fragt Haraszti spitz.

Sein Vorschlag: Hybridlösungen – Läden, die tagsüber bemannt, abends unbemannt laufen. Multifunktionale Zentren, die Post, Apotheke und Gastronomie verbinden. Oder Kooperationen, bei denen Gemeinden Flächen bereitstellen und Kaufleute das Geschäft führen. „Wir sind bereit. Aber die Politik muss endlich Dynamik zeigen.“

Die Bürgermeister nicken. Sie wissen: Ohne Kaufleute gibt es keine lebendigen Dörfer – nur noch Pendler-Schlafstätten.

Ralph Spiegler: Fakten brauchen Emotionen

Ralph Spiegler
Ralph Spiegler, Präsident des Deutschen Städte- und Gemeindebunds: „Wir Kommunen können fast alles.“

Zum Abschluss meldet sich ein deutscher Gast zu Wort: Ralph Spiegler, Präsident des Deutschen Städte- und Gemeindebunds. Er spricht mit der Gelassenheit eines Mannes, der seit 30 Jahren Bürgermeister ist – und mit der Schärfe eines Gewerkschafters.

„Wir Kommunen können fast alles“, sagt er. „Aber nur, wenn die Rahmenbedingungen stimmen.“ Und die stimmten längst nicht mehr. Viele Gemeinden in Deutschland seien chronisch unterfinanziert, in Österreich sehe es nicht besser aus.

Dann wird er grundsätzlicher: „Wir reden gern von Fakten. Aber Fakten allein erreichen niemanden. Die Rechten haben gelernt, Emotionen zu nutzen – und sie gewinnen damit.“ Für ihn ist klar: Wer die Bevölkerung halten und gewinnen will, muss Geschichten erzählen, die ankommen.

Sein Beispiel: Junge Familien ziehen nicht nur wegen günstiger Grundstücke aufs Land, sondern weil sie dort Kitas, Schwimmbäder und ein „heiles Umfeld“ finden. „Das müssen wir offensiv erzählen – sonst gewinnen andere mit Angst und Ressentiments.“

Der Saal hört aufmerksam zu. Nach einem langen Tag voller Zahlen und Krisenszenarien klingt Spieglers Appell wie ein letzter, wichtiger Hinweis: Politik muss nicht nur rechnen können. Sie muss auch reden können.

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