Pressekonferenz des Hilfswerks
„Da geht es um die Menschen!“: Elisabeth Anselm, Geschäftsführerin des Hilfswerks, und Hilfswerk-Präsident Othmar Karas fordern rasches Handeln über Parteigrenzen hinweg.

Pflege in Österreich: Droht der Systemkollaps?

Wer eine echte Pflegereform auf die lange Bank schiebt, gefährdet die pflegerische Versorgung in Österreich. Schon in den nächsten Jahren spitzen sich die Herausforderungen massiv zu, punktuelle Reparaturmaßnahmen können den ganzheitlichen Reformbedarf nicht verschleiern.

Das Hilfswerk Österreich forderte Ende Juni einen Runden Tisch, um die Weichen für ein künftiges Pflegesystem zu stellen, das bedarfsgerecht, leistungsfähig und fair ist. Denn auch in der Pflege muss gelten: Gleiche Leistung für gleiches Geld!

In ihrem aktuellen Programm bekennt sich die Bundesregierung dazu, „Pflege und Betreuung (…) für alle Menschen in Österreich in bestmöglicher Qualität nachhaltig sicherzustellen“. Möglich wird dies nur, wenn eine echte Reform rasch in Angriff genommen wird.

EU-Abgeordneter Othmar Karas, Präsident des Hilfswerks Österreich umreißt die zentralen Handlungsfelder: „Eine echte Reform muss klare Antworten auf drei Ebenen bringen: Wie wird eine nachhaltige Finanzierung der Pflege sichergestellt? Wie wird die Versorgungslandschaft bedarfsgerecht und innovativ, mit nachvollziehbaren Standards, fairen Selbstbehalten und volkswirtschaftlicher Vernunft weiterentwickelt? Wie begegnet man dem Personalnotstand in der Pflege, der sich in den kommenden Jahren noch verschärfen wird?“

Brennpunkt „Personal“

„Das Personalthema schwebt wie ein Damoklesschwert über dem gesamten Pflegesystem und duldet keinen Aufschub!“, betont Karas. Der Arbeitsmarkt hat bereits heute mit Personalmangel zu kämpfen, vor allem im gehobenen Dienst der Gesundheits- und Krankenpflege (diplomiertes Pflegepersonal), und hier insbesondere im Bereich der Langzeitpflege und bei den mobilen Diensten. Aktuell sind alleine beim Hilfswerk 256 Stellen offen. Was kann bzw. muss nun aber gegen die Personalnot in der Pflege getan werden?

Auf Basis realistischer Prognosen braucht es rasch eine differenzierte Ausbildungsoffensive. Sie muss sich klar am praktischen Bedarf orientieren. Und sie muss unterschiedliche Ausbildungsschienen – von der Hochschule bis hin zu Ausbildungen mit starkem Praxisbezug und niederschwelligem Einstieg – umfassen.

„Gleichzeitig müssen die Rahmenbedingungen für die Arbeit in der Pflege insgesamt verbessert werden“, fordert Elisabeth Anselm. Dafür braucht es adäquate Personalschlüssel und eine realistische zeitliche Bemessung unterschiedlicher Pflege- und Betreuungstätigkeiten. Noch besser wäre laut Anselm eine konsequente Ergebnisorientierung in der Pflege und Betreuung: „Letztlich geht es darum, dass Betroffene fachgerecht und zu ihrer Zufriedenheit umsorgt und die Angehörigen effektiv entlastet werden. Es geht nicht um überbordende Bürokratie, detailfreudige Vorschriften und mehrgleisige Dokumentation.“

Andererseits sind zügig Maßnahmen für eine faire Bezahlung in Pflegeberufen zu setzen. Gehaltsunterschiede zwischen öffentlichen und privaten Arbeitgebern bzw. zwischen stationärem und nicht-stationärem Bereich, wie sie in einigen Bundesländern gang und gäbe sind, müssen ausgeglichen werden. „Und schließlich brauchen wir Finanzierungssätze, die einen fachlichen Austausch und eine gute Abstimmung in den Pflegeteams einschließen. Das sind wir den engagierten Frauen und Männern schuldig, die sich dieser sinnvollen, aber fordernden Aufgabe stellen“, meint Anselm.

Brennpunkt „Versorgungslandschaft“ – Bedarfsgerechtigkeit herstellen! Pflege zu Hause stärken!

„Das österreichische Pflegesystem ist für Fälle wie den zuvor beschriebenen zu holzschnittartig ausgelegt: Reichen die Pflege durch Angehörige bzw. das verfügbare Angebot, das mobile Dienste derzeit bieten können, nicht aus, ‚kippen‘ Betroffene in das nächsthöhere, versorgungs- und kostenintensivere Pflegesetting“, erläutert Elisabeth Anselm, Geschäftsführerin des Hilfswerk Österreich.

Hier umzudenken, entspricht den Wünschen der zu Pflegenden und ihren Angehörigen – und ist auch aus Sicht der Staatsfinanzen sinnvoll: Pflege zuhause – durch mobile Dienste allein oder gemeinsam mit Angehörigen – ist volkswirtschaftlich die mit Abstand günstigste Variante. Ein Pflegeheimplatz kostet im Durchschnitt 34.600 Euro pro Kopf und Jahr, während mobile Dienste mit durchschnittlich 4.200 Euro pro Kopf und Jahr zu Buche schlagen.

Grafik Brutto-Kosten

84 Prozent aller pflegebedürftigen Menschen in Österreich werden aktuell zuhause betreut – der Großteil von Angehörigen (45 Prozent), gefolgt von mobilen Diensten (32 Prozent). 5,2 Prozent nutzen eine 24-Stunden-Betreuung.

In den vergangenen Jahren wurden die politischen Bekenntnisse zur Stärkung der Pflege zuhause und zum Ausbau mobiler Dienst mehrfach wiederholt. Die dafür notwenigen finanziellen Investitionen liegen jedoch zurück. Stattdessen pumpen Bund und Länder weiterhin erheblich mehr Mittel in stationäre Dienste, die teuerste Form der Pflege. Zwischen 2011 und 2016 stiegen die Bruttoausgaben für stationäre Dienste um 400,9 Millionen Euro (plus 18,4 %), jene für mobile Dienste um 126,2 Millionen Euro (plus 25,8 %). Im selben Zeitraum stieg die Zahl der betreuten Personen in stationären Einrichtungen um 3,3 Prozent (plus 2.413 Personen), die Zahl jener, die durch mobile Dienste betreut werden, dagegen um 19,3 Prozent (plus 23.777 Personen).

Grafik Ausgabesteigerungen

Runder Tisch für die Pflege!

Eine Gesamtreform für ein bedarfsgerechtes, leistungsfähiges und faires Pflegesystem muss auf folgenden Grundsätzen basieren:

  • Die positiven Ressourcen Betroffener und Angehöriger müssen anerkannt, gestärkt und bestmöglich unterstützt werden – insbesondere mit Blick auf die häusliche Pflege und Betreuung, aber auch auf Prävention.
  • Ein zeitgemäßes Pflegesystem bietet ein Portfolio differenzierter, in ihrer Intensität ansteigender Pflegeleistungen.
  • Österreichweit harmonisierte Versorgungsstandards nach evidenzbasierten Kriterien sind für ein faires System unabdingbar. Es braucht rasch mehr Vergleichbarkeit und Transparenz bei Leistungen und Eigenbeiträge.
  • Eine Ausbildungsoffensive für Pflegeberufe und verbesserte Rahmenbedingungen sowie faire Entlohnung für die Arbeit in der Pflege und Betreuung sind Gebote der Stunde.

Wer den Kollaps verhindern will, muss die dringend notwendige Gesamtreform der Pflege in Österreich rasch angehen. Ein erster Schritt wäre es, die Verantwortungsträger/innen aller Ebenen (Bund, Länder, Gemeinden) sowie Expertinnen und Experten aus der Pflegepraxis, aus Demographie und Volkswirtschaft an einen runden Tisch zu holen, an dem ohne Tabus und Scheuklappen an einem nachhaltigen Pflegesystem der Zukunft gearbeitet wird.

Othmar Karas abschließend: „Frau Bundesministerin Hartinger-Klein, Herr Bundesminister Löger – wir warten auf Ihre Einladung zu einem Runden Tisch!“

Mehr Infos auf der Website des Hilfswerks Österreich