Französische Flagge vor blauem Himmel
Nationalfahne von Frankreich, Symbolfoto für Patriotismus, Souveränität, Diplomatie

Kinderkrippe? Pflegeheim? Was wird geschlossen?

In der Konfrontation zwischen Budgetkürzungen und der Belastung der französischen Gemeinden wurden jetzt in einer Art Aktionismus die ersten Guillotinen aufgestellt, Symbol der Terrorherrschaft von 1793/94.

Griechenland beherrschte lange die Schlagzeilen. So sehr, dass mitunter vergessen wird, dass auch andere Länder ihren Bürgern einiges abverlangen.



Frankreich ist so ein Fall. Die zweitgrößte Volkswirtschaft der Eurozone nähert sich einem öffentlichen Schuldenstand von 98 Prozent, die EU-Kommission gewährte Anfang des Jahres eine Frist bis 2017, um das Haushaltsdefizit auf drei Prozent zu drücken. Aber welche Maßnahmen wurden beschlossen und wie wirken sich diese auf die gut 36.500 französischen Gemeinden aus?



Nun, das der EU-Kommission im April 2014 notifizierte Sparprogramm betrifft die kommunale Ebene massiv und sorgt für eine noch nie dagewesene Konfrontation zwischen dem großen französischen Bürgermeisterverband AMF (Association des Maires de France) und der sozialistischen Regierung unter Premierminister Valls. Im Jahr 2014 trat das Finanzgesetz in Kraft, welches die jährlichen Transfers für die Kommunen um 3,67 Mrd. Euro kürzt. Diese direkten Mittelkürzungen führen nach Berechnungen der AMF zu einem jährlichen Wohlstandsverlust von 4,3 Mrd. Euro, da die kommunale Ebene auch in Frankreich der größte öffentliche Investor ist.



Kommunale Leistungen und sozialer Zusammenhalt in Gefahr? Die AMF warnt davor, dass viele der 36.000 französischen Gemeinden Leistungen zurückfahren oder einstellen müssen, in vielen Bereichen auch Gebührenerhöhungen anstehen werden. Problematisch erscheint dies auch im gesamtwirtschaftlichen Kontext, da viele kommunale Leistungen darauf abzielen, Arbeitnehmern eine Vollzeitbeschäftigung zu ermöglichen. Zu nennen sind etwa Kinderkrippen, Schulkantinen, Nachmittagsbetreuung, Pflegeheime und mobile Pflegedienste. Insbesondere in ländlichen Gemeinden droht den freiwilligen Angeboten wie Kinderkrippen oder Kantinen jedoch das Aus.



Was dies für den ländlichen Raum bedeutet, kann man sich ausrechnen. Auch sportliche oder kulturelle Angebote sind von Einsparungen betroffen. Entweder durch Kürzung der Vereinsförderung oder durch Unterlassen notwendiger Reparaturen und demzufolge Zusperren von Freizeiteinrichtungen wie Schwimmbädern oder Mehrzweckhallen.



Der französische Bürgermeisterverband befürchtet, dass durch einen Rückgang bei Freizeitangeboten und ein allfälliges Vereinssterben der ohnehin schon bröckelnde soziale Zusammenhalt gefährdet ist. Vorausschauende Politik sollte die aktuellen Einsparungen mit absehbaren Problemen und deren Kosten in Verbindung setzen und die entsprechenden Schlüsse ziehen.



Einsparungspotenzial in den Gemeinden? In den Gemeinden selbst wurden bereits viele Maßnahmen gesetzt, um den Effekt fehlender Mittel aus der Zentralkasse abzufedern. Beklagt wird jedoch, dass die Regierung den Kommunen immer wieder neue Aufgaben überträgt sowie Regelungen beschließt, die sich direkt auf die kommunalen Haushalte auswirken. Auf den Kosten bleiben die Gemeinden sitzen; die Mitspracherechte sind gering, einen Konsultationsmechanismus wie hierzulande gibt es nicht.



Eine zentrale Forderung der AMF richtet sich daher gegen die weitere einseitige Belastung der kommunalen Ebene durch Beschlüsse der Pariser Regierung. Damit tritt der französische Bürgermeisterverband wohl auch der Einschätzung der EU-Kommission entgegen, die in der aktuellen länderspezifischen Empfehlung für Frankreich dezidiert den Anstieg der Verwaltungskosten auf kommunaler Ebene kritisiert und die Reduktion der staatlichen Transfers befürwortet.



Man fragt sich, wie die Kommission zu diesem Schluss kommt. Wurde auch die Zunahme der lokalen Aufgaben berücksichtigt? Gesetze über die Anhebung des Mindestlohns, von denen viele Gemeindebedienstete profitieren, die sich allerdings direkt auf die Gemeindebudgets auswirken? Die erhöhte Nachfrage nach Sozialleistungen, die von den Gemeinden erbracht werden? Die AMF betont jedenfalls, dass die 30-prozentige Kürzung der staatlichen Zuweisungen nicht Subventionen, sondern Ausgleichszahlungen für Steuerausfälle bzw. für die Übertragung zusätzlicher Aufgaben betrifft. In Summe müssen die Gemeinden also mehr leisten, bekommen dafür aber weniger Mittel.



Zusammenlegungen auch in Frankreich? In Anbetracht der angespannten Finanzlage stellt sich die Frage, ob nicht auch in Frankreich Gemeindezusammenlegungen als Mittel der Effizienzsteigerung geplant sind. Vordergründig ist die Zusammenlegung von Regionen beschlossene Sache, bei der Gemeindezusammenlegung wird jedoch auf Freiwilligkeit gesetzt. Finanzielle Anreize gibt es für jene Gemeinden, die sich noch in diesem Jahr mit Nachbarn ihrer Wahl zusammenschließen. Das entsprechende Gesetz trat im Frühjahr 2015 in Kraft, bisher haben 70 Kommunen mit einer Gesamteinwohnerzahl von 64.000 Personen davon Gebrauch gemacht. So entstanden 25 neue Gemeinden.



Frankreich kennt allerdings nicht nur Kommunen, sondern auch über 2000 Gemeindeverbände. Diese erfüllen zahlreiche lokale Aufgaben, sind aber ein reines Verwaltungskonstrukt.



Ein von der Regierung vorgelegter Reformvorschlag wurde auf Druck der französischen Bürgermeister zwar dahingehend geändert, dass die Mitglieder der Verwaltungsräte weiterhin von den beteiligten Gemeinden ernannt und nicht – wie in der Regierungsvorlage vorgeschlagen – direkt von den Bürgern gewählt werden. Auch das beabsichtigte Einzugsgebiet von mindestens 20.000 Einwohnern konnte nach Intervention der AMF auf 15.000 reduziert werden. Ausnahmen gibt es jedoch nur für dünn besiedelte Regionen und Bergregionen, d. h. politische, wirtschaftliche und geografische Realitäten anderer Art spielen keine Rolle mehr.



Die Verbände werden aber auch ohne die Einführung der Direktwahl gestärkt, die Gemeinden verlieren die Zuständigkeiten für Wasserversorgung, Abwasserentsorgung und Tourismus. Alles in allem Grund genug, wachsam zu bleiben. Dass die Verbände die Gemeinden mittel- bis langfristig „schlucken“ werden, steht im Raum.



Aufgrund all dieser Entwicklungen ruft die AMF zu einem nationalen Mobilisationstag am 19. September auf, wo v.a. die Bürger über die Auswirkungen der Sparpolitik informiert werden sollen. Doch viele Gemeinden und Regionalverbände warten nicht bis zum Herbst. Großes Aufsehen erregte die Gemeinde Givors im Süden Lyons, wo Anfang Juni eine Guillotine als Symbol für die Kürzung der Gemeinde-finanzen aufgestellt wurde. Und die Bevölkerung wird sich insgesamt unangenehme Fragen stellen müssen. Um mit den Worten eines Bürgermeisters zu sprechen: „Sollen wir eher die Kinderkrippe oder das Pflegeheim schließen?“