Kommunale Auftraggeber sind verpflichtet, bei jedem Beschaffungsvorgang im Einzelfall zu prüfen, welche Bestimmungen der Vergabe-RL gegebenenfalls mittelbar oder unmittelbar für die jeweilige Ausschreibung wirksam sind; allenfalls widersprechende Bestimmungen des BVergG dürfen nicht angewendet werden.

Ist das Bundesvergabegesetz noch anwendbar?

Durch die fehlende Umsetzung der EU-Vergabe-Richtlinie entsteht ein rechtlicher Graubereich zwischen den Regeln des BVergG und der EU-Vergabe-RL. Gemeinden werden dadurch einem besonderen Risiko ausgesetzt.

Vor rund zwei Jahren sind die neuen Vergabe-Richtlinien (bestehend aus der Richtlinie [RL] für klassische Auftragsvergaben, der Sektoren-RL sowie der Konzessions-RL). Damit ist die größte Reform des europäischen Vergaberechts seit zehn Jahren in Kraft getreten. Mit dem Entfall der sogenannten prioritären Dienstleistungen und der Einführung einer eigenen Konzessions-RL wurde nicht nur der Anwendungsbereich des Vergaberechts erheblich erweitert, sondern gleichzeitig - insbesondere aus Sicht der kommunalen Aufraggeber - bedeutsame Erleichterungen und Klarstellungen geschaffen: Konkret erweiterte (ausschreibungsfreie) Möglichkeiten der interkommunalen Kooperation, ausschreibungsfreie Vertragsänderungen oder ein erheblich erleichterte Beschaffung von „sozialen und sonstigen Dienstleistungen“.

Umsetzungsverzug bewirkt (un)mittelbare Anwendbarkeit der Vergabe-RL



Die Frist zur Umsetzung der Vergabe-RL ist am 18 April dieses Jahres abgelaufen. Österreich hat bisher – im Rahmen der BVergG Novelle 2015 – nur die Subunternehmerregelungen und das Bestbieterprinzips entsprechend angepasst. Wesentliche Bereiche der Vergabe-RL sind daher im BVergG nicht gespiegelt; mit anderen Regelungen der Vergabe-RL steht dieses sogar im offenkundigen Widerspruch. Damit steht die zentrale Frage im Raum, nach welchen Regeln Beschaffungen durchzuführen sind. Wer meint, dass die fehlende Implementierung der Vergabe-RL dazu führt, dass diese schlicht außer Acht gelassen werden dürfen, unterliegt einem fatalen Irrtum. Im Gegenteil: Die Bestimmungen der Vergabe-RL entfalten aufgrund des Umsetzungsdefizits Wirksamkeit in Österreich. Kommunale Auftraggeber sind verpflichtet, bei jedem Beschaffungsvorgang im Einzelfall zu prüfen, welche Bestimmungen der Vergabe-RL gegebenenfalls mittelbar oder unmittelbar für die jeweilige Ausschreibung wirksam sind; allenfalls widersprechende Bestimmungen des BVergG dürfen nicht angewendet werden. Das Ergebnis dieser Prüfung ist für die Ausgestaltung des Beschaffungsvorgangs von entscheidender Bedeutung: es hat etwa Einfluss auf die Verfahrensart (Stichwort: e-Katalog und Innovationspartnerschaft), die Zulässigkeit einer vergaberechtsfreien Verwaltungskooperation, die Mindestfristen, die anwendbaren Ausschluss- und Eignungskriterien oder auf das Vergaberegime für nicht prioritäre DL und DL-Konzessionen auszuschreiben sind.



Damit ist eines vorweg klar: Das Unterlassen dieser Prüfung und die „gebetsmühlenartige“ Anwendung des (veralteten) BVergG kann zur Nichtigkeit des Beschaffungsprozesses führen.

Gemeinden müssen das BVergG richtlinienkonform auslegen



Vor jeder Auftragsvergabe müssen Gemeinden die anwendbaren Bestimmungen des BVergG auf deren Übereinstimmung mit dem jeweiligen Regelungsregime der Vergabe-RL überprüfen. Die im Ergebnis festgestellten Differenzen zwischen dem BVergG und der Vergabe-RL sind soweit wie möglich durch eine richtlinienkonforme Auslegung zu lösen. Auf diese Weise können Aufraggeber bereits jetzt von vielen Erleichterungen der Vergabe-RL profitieren, unterliegen aber gleichzeitig neuen oder zusätzlichen Verpflichtungen und Beschränkungen:


  • Gemeinden können mit anderen öffentlichen Auftraggebern gemeinsam Aufgaben im Rahmen einer Verwaltungskooperation erledigen, ohne einer Ausschreibungspflicht zu unterliegen. Dies gilt auch für die Zulässigkeit ausschreibungsfreier Beauftragungen zwischen kommunalen Schwestergesellschaften oder im Rahmen anderer In-house-Strukturen.

  • Das Verhandlungsverfahren kann im Vergleich zu den restriktiven Regelungen des BVergG großzügiger angewendet werden, etwa im Falle von Aufträgen, die konzeptionelle oder innovative Lösungen umfassen oder die die Anpassung bereits verfügbarer Lösungen erfordern.

  • Auch die Anwendung neuer und erweiterter Eignungs- und Ausschlussgründe lässt sich unter Umständen auf diese Weise begründen; in diesem Zusammenhang ist insbesondere in Erinnerung zu rufen, dass Auftraggeber im Rahmen der finanziellen Leistungsfähigkeit grundsätzlich nicht mehr als den zweifachen Auftragswert als Mindestjahresumsatz verlangen dürfen.

  • Umgekehrt sind Gemeinden gut beraten, bereits jetzt Maßnahmen zur wirksamen Verhinderung, Aufdeckung und Behebung von Interessenkonflikten bei Vergabeverfahren zu ergreifen. Besonders bei der Zusammensetzung von Vergabe- und Bewertungskommissionen ist hierauf zu achten.




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Eine RL-konforme Auslegung des BVergG scheitert aber dort, wo das Auslegungsergebnis sich nicht mehr mit dem Wortlaut des BVergG in Einklang bringen lässt. Daher scheint etwa die Anwendung der in den Vergabe-RL signifikant verkürzten Mindestfristen oder der neuen Innovationspartnerschaft vor deren Umsetzung in Österreich nicht zulässig.

Unternehmen können sich bereits jetzt unmittelbar auf einzelne RL-Bestimmungen berufen



Bewerber oder Bieter können sich unmittelbar auf die RL-Bestimmungen berufen  (ohne über eine Auslegung des BVergG zu arbeiten), und entgegenstehende Bestimmungen des BVergG dürfen nicht angewendet werden (!). Insbesondere bei der Vergabe von DL-Konzessionen oder von nicht prioritären DL sind kommunale AG daher mE gut beraten, wenn diese sich primär an die neuen (und erheblich strengeren) Ausschreibungsvorgaben der Vergabe-RL halten.

Fazit



Durch die fehlende Umsetzung der Vergabe-RL entsteht ein gefährlicher Graubereich: Das BVergG gilt zwar weiterhin, allerdings dürfen vielen Bestimmungen nicht mehr angewendet werden; stattdessen sind direkt die Bestimmungen der Vergabe-RL anzuwenden. Andere Regelungen des BVergG sind RL-konform und damit gänzlich anders auszulegen. Für die Prüfung und Feststellung des so anwendbaren Regelungsmosaiks sind die Gemeinden selbst verantwortlich: in Anbetracht der Komplexität der Materie ein extrem riskantes Unterfangen.