alte Frau
In Österreich werden aktuell etwa 16 Prozent der pflegebedürftigen Menschen in Heimen betreut. 84 Prozent der Menschen mit Unterstützungsbedarf leben zu Hause.
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Alt werden neu denken

Pflege und Betreuung sind mit Sicherheit die Themen der Zukunft. Nicht nur für Gemeinden, sondern für uns als Gesellschaft. Menschen werden älter und sind heute länger als „nur ein paar Jahre“ in Pension. Großfamilien, die die Pflege übernehmen, gehören der Vergangenheit an. Und damit auch unser gesamtes System der Betreuung.

"Eine Viertelstunde brauch’ ich mit der blöden Apparatur, um aufs Klo zu gehen", hat meine Mutter mit 70 Jahren geschimpft, als ihr Kampf gegen den Krebs auf das Ende zuging.

Die „blöde Apparatur", das war ein Sauerstoffgerät, mit dem sie Luft schöpfen sollte. In unserem riesigen Haus – im Grunde waren es zwei große Häuser unter einem Dach und alles dimensioniert für eine Großfamilie – im südlichen Niederösterreich lebte außer der Urgroßmutter mit ihren 95 Jahren niemand mehr. Mein Lebensmittelpunkt war schon lange in Wien, an den Wochenenden bin ich mit meiner Familie oft zu Besuch gekommen, zumindest solange meine Mutter das auch wollte. Die restlichen Familienmitglieder waren auch schon längst ausgezogen, wohnten aber zumindest in der Nähe. Mein Bruder, meine Tanten und Onkels und Cousinen und Cousins und die Freundinnen meiner Mutter kamen öfter auf Besuch, auch das Hilfswerk, aber im Grunde haben die beiden alten Frauen allein gelebt.

Meine Mutter hat schließlich den Kampf gegen den Krebs verloren – und es ist so schnell gegangen, dass sie die Familie nicht wirklich betreuen oder sich um eine Pflege kümmern musste. Für die Urgroßmutter, die noch fünf Jahre gelebt hatte, wurde später eine Vollzeitbetreuung organisiert. Mutter und Tochter aus Ungarn, die „im Radl" die 99-Jährige betreut haben. Sie ist mit über 100 Jahren zu Hause gestorben. Auch sie hat die Betreuung nicht sehr lange gebraucht.

Wunsch und Wirklichkeit in Betreuung und Pflege

Meine Mutter und meine Großmutter würden heute zu den rund 85 Prozent der älteren und alten Menschen in Österreich gehören, die bis zum Schluss zu Hause leben und auch dort sterben wollen. Dieser Wunsch gilt nach allem, was wir wissen, für den überwältigenden Großteil der Menschen. Aber zum einen ist eine große Familie (in der Nähe) nicht immer da, zum anderen fehlen immer öfter auch Personen, die die notwendige Betreuung und Pflege übernehmen könnten. Organisationen wie Caritas, Hilfswerk, Volkshilfe und viele andere tun was sie können, aber die Probleme werden immer größer. Abgesehen davon, dass das Geld hinten und vorne nicht reicht, ist auch nicht in Sicht, wer die Aufgabe künftig übernehmen soll. Es fehlen schlicht die Menschen, die so einen Beruf zu dem ihren machen.

Es fehlt im Grunde an „einer besser abgestimmten Steuerung zwischen Gesundheits- und Pflegesystem", wie Elisabeth Anselm, Geschäftsführerin des Hilfswerks Österreich, meint. Ein „echtes Zusammenführen" des Gesundheits- und Pflegesystems in Österreich wäre ein Systemwechsel massiven Ausmaßes und müsste „auf Grund der komplexen Implikationen und Wechselwirkungen sehr grundsätzlich und höchst umsichtig abgewogen werden". Eine deutlich wirksamere Koordination des Gesundheits- und Pflegesystems in Österreich und eine besser integrierte Herangehensweise wären aber in jedem Falle zielführend und notwendig, um „Qualitätsdefizite und Ineffizienzen an den Schnittstellen der Systeme zu reduzieren bzw. zu minimieren", wie es in einem Positionspapier des Hilfswerks heißt.

Es hätte für die Betroffenen, aber auch für die Volkswirtschaft Sinn, Patientinnen und Patienten möglichst rasch wieder in die häusliche Pflege und Betreuung zu entlassen oder sie möglichst lange dort zu halten. „Diese Vorgangsweise erfordert jedoch eine entsprechende qualitative und quantitative Aufstellung des ambulanten Bereichs und eine bestmögliche Koordination in der Versorgungskette", so Anselm.

Kann Technik bei der Betreuung helfen?

Zurecht fragen viele, ob moderne Technologien bei Betreuung und Pflege helfen können.

Der Sozialrechtler Wolfgang Mazal berichtet im Interview von einem Zugang mit der Bezeichnung „Ambient Assistent Living" (AAL), auf Deutsch grob übersetzt „umgebungsunterstütztes Leben". AAL-Systeme können Sturzmeldesysteme sein, die mittels Sensoren im Boden oder in Schuhen einen Sturz erkennen und Alarm auslösen können. Oder Hilferufanlagen zum Tragen am Körper. Über diese kann etwa im Notfall ein Hilferuf abgesetzt werden.

Auch spezielle universelle Fernsteuerungen, mit deren Hilfe diverse Haushaltsgeräte bedient werden können, sollen den Alltag älterer Menschen erleichtern. Genauso wie Systeme, die neben integriertem TV, Telefon und Internet-Zugang unter anderem die vergessene eingeschaltete Herdplatte und offene Fenster melden. Und zur sozialen Integration älterer Menschen können zudem an deren Bedürfnisse angepasste Internet-Portale mit speziellen Services (Gedächtnistraining, Lebensmittellieferung etc.) oder – noch fortgeschrittener – menschlich aussehende Roboter beitragen.

AAL-Systeme können in verschiedensten Bereichen den Alltag unterstützen, so zum Beispiel bei der Beschaffung von Medikamenten, dem automatischen Rufen eines Arztes über Notfallsysteme oder dem Organisieren von Einkäufen.

Jedenfalls ist AAL als Unterstützung für Pflege- und Betreuungsbedürftige sowie Betreuer ein äußerst komplexer Bereich mit hoher Dynamik. AAL-Technologien befinden sich aber meist im (fortgeschrittenen) Forschungsstadium und sind daher oft nur als Prototypen oder Einzellösungen erhältlich.

Der demographische Trend fordert gerade in naher Zukunft einen steigenden Bedarf an Alltagsunterstützung, besonders für Ältere und Hilfsbedürftige. Die Gesundheits-, Betreuungs- und Pflegesysteme müssen aber auch für einen durchdachten Einsatz von AAL moderner und effizienter werden. Weiters müssen finanzielle Unterstützungen gefunden werden und es muss Hilfe bei der Umsetzung geben – sprich Schulungsmöglichkeiten sowohl für Anwender als auch für Betreuer und Betreuerinnen.

Einsatzmöglichkeiten von Ambient Assisted Living-Produkten
Einsatzmöglichkeiten von Ambient Assisted Living-Produkten

Ohne Menschen geht es nicht

Und noch etwas sollte berücksichtigt werden: Gerade für Pflegebedürftige ist der persönliche Kontakt mit anderen Menschen enorm wichtig. Eine Betreuung durch Menschen ist also alternativlos. Hier kommen wieder Organisationen wie Caritas und Hilfswerk, aber vor allem auch Gemeinden ins Spiel.

Die Gemeinden sind gleichzeitig die Ebene, zu der die Menschen sowohl das meisten Vertrauen haben also auch diejenigen, die Pflege und Betreuung vor Ort rasch ermöglichen können – und das auch ungeachtet der Kosten tun.

Der Vorarlberger Landeshauptmann Markus Wallner hat unlängst in einem „Standard"-Interview gemeint, dass die Diskussion ausschließlich über den Kostenfaktor gespielt wird. „So geht man nicht mit älteren Menschen um", war sein Kernsatz. Aber es ist klar, dass über die künftigen Kosten gesprochen werden muss.

Ist die Finanzierung wirklich der Knackpunkt?

Folgt man den Szenarien, die berechenbar sind (beispielsweise dem WIFO in „Österreich 2025, Pflegevorsorge - Künftiger Finanzierungsaufwand und regionalwirtschaftliche Verflechtung"), wird der Anstieg der Ausgaben für das Pflegegeld von 2,52 im Jahr 2015 auf 2,83 im Jahr 2025 und schließlich auf 4,20 Milliarden Euro im Jahr 2050 ansteigen. Im Bereich der Ausgaben für Pflegedienstleistungen steigen die Zahlen noch stärker an – von zwei Milliarden im Jahr 2015 auf 2,90 im Jahr 2025 bis auf neun Milliarden Euro im Jahr 2050. Der Finanzierungsbedarf nach unserem alten, herkömmlichen System ist also gewaltig. Genau so gewaltig, wie die Ausgaben derzeit schon sind.

So werden die Ausgaben für Pflegegeld, 24-Stunden-Betreuung und andere Pflegedienstleistungen 2025 bei rund 5,6 Milliarden Euro liegen. Das steigt weiter: 2030 rechnet man mit knapp sieben Milliarden, 2040 mit 9,1 und 2050 mit rund 13,5 Milliarden Euro.

Was läge also näher, als sich einmal den Aufwand anzusehen? Zu klären, welche Schritte zu setzen sind, um die Menschen so lange wie möglich gesund „zu Hause halten zu können" und was dafür an Technik unterstützend hilfreich ist? Dann muss man entscheiden, wer welche Aufgabe übernehmen kann und soll. Erst dann kann man realistisch entscheiden, wie die gewaltigen Mittel, die Österreich für Gesundheit, Pflege und Betreuung einnimmt, angewendet werden. Immerhin reden wir hier von 100,8 Milliarden Euro, die der Staat aus Steuern 2017 eingenommen hat. Rechnet man Steuern und Sozialbeiträge zusammen, kommt eine Summe von 156,8 Milliarden Euro heraus.

Auch wenn das nicht so ganz einfach gegenzurechnen ist, sollte Geld in Österreich nicht das Problem sein!

Anmerkung

Bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe trafen sich die Finanzchefs der Länder in Wien. Zentrales Thema: das gemeinsame Vorgehen beim Thema Pflegeregress. Die Frage, inwieweit der Bund die durch den Wegfall entstehenden Mehrkosten übernehmen soll, stellt zurzeit das Verhältnis zwischen Landeshauptleuten und Bundesregierung auf die Probe. Das Land Tirol ruft in Sachen Pflegeregress deshalb auch den Verfassungsgerichtshof (VfGH) an, um Rechtssicherheit zu erlangen.