Martin Staudinger
„Ich bin kein Oppositions­politiker, der kritisiert, sondern jemand, der gestalten möchte.“ Martin Staudinger über seine Ambitionen in der Politik.
© Frederick Sams

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Der Polit-Profi vom Bodensee

Martin Staudinger, der Bürgermeister von Hard am Bodensee, kann eine ungewöhnliche Karriere vorweisen: vom Bund ins Land und vom Land in die Gemeinde. Als Ortschef lautet sein Credo: Umsetzen statt immer nur planen!

Der Lebenslauf von Martin Staudinger liest sich wie der Plot zu einem Hollywood-Film. Als junger Bursch verlässt er seine Heimat, um in der Ferne sein Glück zu suchen. Dort studiert er und legt alsbald eine rasante Karriere in der Politik hin. Fast 20 Jahre später kehrt er als gestandener Mann und versierter Polit-Profi wieder zurück und schafft es, mit einem fulminanten Wahlsieg nicht nur den Bürgermeistersessel zu erobern, sondern auch die politische Mehrheit in seiner Gemeinde nach 70 Jahren erstmals zu drehen. Happy End. 

Gemeinde Hard mit Bodensee
Blick über das Binnenbecken auf das winterliche Hard. Die größte Bucht der Marktgemeinde wird unter anderem von Häfen, Parks und dem Strandbad gesäumt. Foto: Frederick Sams

Gleichwohl der Film hier wohl enden würde, geht es damit im realen Leben für Staudinger erst so richtig los.

Doch alles der Reihe nach: Der kleine Martin wächst in den 80er- und 90er-Jahren in der gar nicht so kleinen Vorarlberger Marktgemeinde Hard auf. Mit rund 14.000 Einwohnern liegt sie auf Platz 50 der bevölkerungsreichsten Gemeinden und ist tatsächlich größer als die meisten österreichischen Städte.

Staudinger ist ein ausgezeichneter Schüler und hat ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden, daher scheut er auch nicht davor zurück, sich für seine Klassenkameraden einzusetzen und mit den Lehrern zu streiten, wenn diese einen Mitschüler schlecht behandelt haben. Dieser Sinn für Gerechtigkeit sollte später auch seine Hauptmotivation werden, sich politisch zu engagieren - gemeinsam mit dem Wunsch zu gestalten. Diesem Wunsch folgend beabsichtigt Staudinger ursprünglich etwas wie Industriedesign oder Architektur zu studieren.

Nach der Matura nach Wien

Nach der Matura geht er nach Wien, entscheidet sich letztendlich aber für Volkswirtschaft und Politikwissenschaft. Während des Studiums tritt Staudinger dem Verband Sozialistischer StudentInnen Österreichs (VSStÖ) bei, weil er seine Grundwerte bei der SPÖ am ehesten erfüllt sieht, und wird Finanzreferent der ÖH an der Uni Wien - just zu der Zeit, als die Studiengebühren eingeführt werden und aufgrund der rückläufigen Inskriptionszahlen plötzlich 20 Prozent weniger Budget zur Verfügung steht. Die Strukturen dennoch aufrechtzuerhalten ist die erste große Prüfung für den Vorarlberger Studenten. 

Der begradigte Neue Rhein mit der Rheinbrücke
Der begradigte Neue Rhein mit der Rheinbrücke, die Fußach (links) mit Hard (rechts) verbindet. Die Staatsgrenze verläuft weiterhin dem ursprünglichen, weiter westlich gelegenen Flussverlauf folgend, daher sind hier beide Rheinseiten österreichisch. Foto: Asurnipal

2006 schließt Staudinger beide Diplomstudien erfolgreich ab und wird Bezirksrat in der Inneren Stadt, dazu stellvertretender Klubobmann sowie Bezirksgeschäftsführer. Zwei Jahre später wechselt er in die Bundespolitik, konkret ins Kabinett von Sozialminister Rudolf Hundstorfer. In den folgenden sieben Jahren konzipiert und verhandelt er in dieser Position unter anderem die Mindestsicherung, die Pflegegeldreform und den Pflegefonds. „In dieser Zeit habe ich sehr viel dazugelernt und sie hat mich stark geprägt“, erinnert sich Staudinger zurück. 
       
Nach 18 Jahren Wien zieht es Staudinger zurück in die Heimat. Er leitet fortan die Landesstelle Vorarlberg des Sozialministerium­service, promoviert in Politikwissenschaft und wird Landesparteivorsitzender der SPÖ, die unter seiner Führung Zugewinne bei Europa- und Landtagswahlen verzeichnen kann. Staudinger zieht in den Landtag ein und wird Klubvorsitzender. 

Immer wieder fragen ihn Menschen aus Hard, ob er sich nicht auch in seiner Heimatgemeinde engagieren möchte. „Das Bürgermeisteramt war kein Sandkastentraum von mir und eigentlich nie ein Lebensziel“, bekennt Staudinger, doch mit der Zeit findet er immer mehr Gefallen an dem Gedanken. „Mich hat die konkrete Gestaltung der eigenen Heimat zunehmend gereizt. Es ist eine spannende Aufgabe, weil es um die Zukunft des Ortes geht, in dem man selbst lebt, und die Arbeit im täglichen Umfeld unmittelbar erlebbar wird.“

Erdrutschsieg gegen die Vorgängerin

2020 stellt sich Staudinger mit der Liste „Dr. Martin Staudinger – Mitanand für Hard“ der Wahl und katapultiert die SPÖ von 8 auf 28 Prozent. In der direkten Stichwahl kann er gegen die Amtsinhaberin sogar zwei Drittel aller Stimmen für sich verbuchen.

Wie ­angekündigt legt Staudinger seine Parteifunktionen auf Landesebene zurück und konzentriert sich auf seine Verantwortung als Ortschef, „denn das ist zweifellos ein Full-Time-Job.“ Ein Job, der dem heute 44-Jährigen sehr entgegenkommt, denn „ich bin kein Oppositionspolitiker, der kritisiert, sondern jemand, der gestalten möchte“.

Damit das möglich wird, legt der Makroökonom und frühere Finanzreferent seinen Fokus auf die Gemeindefinanzen. „Vor dem politischen Wechsel wurde sehr viel geplant, etwa was das Ortszentrum oder die Entwicklung am Hafen betrifft.

Die Grundgedanken waren zwar gut, aber die Pläne waren zu bombastisch – mit zu vielen internationalen Beratern – und sind von der Bevölkerung einfach nicht goutiert worden. Es sind sechsstellige Summen für Planungen ausgegeben worden. Für das Strandbad gab es beispielsweise 2014 einen Wettbewerb, bei dem das Siegerprojekt 70.000 Euro bekommen hat. Gebaut wurde dann allerdings nichts.“

Der jetzige Ortschef konzentriert sich heute daher sehr darauf, nicht nur große Pläne zu machen, sondern auch wirklich in die Umsetzung zu gehen. „Für einige Projekte wurde wiederum sehr viel Geld ausgegeben, sodass die finanzielle Situation von Hard eine extrem schwierige geworden ist“, berichtet Staudinger. „Ich muss also schauen, dass ich einerseits die budgetäre Situation in den Griff bekomme und andererseits gleichzeitig doch die Gemeindeentwicklung weiterführe.“ 

Alle Parteien werden eingebunden

Anstatt großer Sprünge, die dann doch nur im Ansatz verharren, sind nun kleine Schritte angesagt. „Das Strandbad reißen wir seit August ab und werden es über den Winter neu bauen. Die weitere Gemeindeentwicklung werden wir stückweise vorantreiben - in enger Abstimmung mit den Bürgern und mit allen Parteien, damit das finanziell überhaupt möglich wird.“  

Als Landespolitiker kennt Staudinger die Oppositionsrolle nur zu gut und in der Koalition auf Bundesebene hat er die Mechanismen und Effekte des Kompromissfindens gelernt. Auf Gemeindeebene bemüht er sich daher darum, immer alle Parteien miteinzubinden. 

„Einiges wird ja von der Verwaltung gemacht und ist unstrittig, aber bei den großen Entwicklungsprojekten erstelle ich immer eine Arbeitsstruktur, bei der alle fünf Parteien in der Gemeinde vertreten sind. Alle paar Monate legen wir die nächsten Schritte vor, diskutieren sie und schauen, ob es eine Mehrheit dafür gibt. Ich nehme dabei einerseits die Rolle des Managers ein, der die Sache vorantreibt, aber andererseits auch die Rolle des Moderators der Demokratie. Jede Partei kann ihre Abänderungswünsche einbringen und ich lasse über jeden Wunsch mit freien Mehrheiten abstimmen. Natürlich wird es immer Kompromisse geben müssen, weil wir nicht unendlich viel Geld ausgeben können. Aber was die Mehrheit entscheidet, das ist für mich in Ordnung“, erklärt der Bürgermeister. Man könne ohnehin immer nur so viel weiterbringen, wie man auch an Mehrheit hinter sich habe. 

Eine Veränderung könne nur so groß und stark sein, dass eine Mehrheit noch damit leben kann. Daher werde man nie radikale ­Schritte machen, sondern immer solche, die zum jeweiligen Zeitpunkt und Ausmaß vom Großteil mitgetragen werden, meint Staudinger. Das gelte natürlich auch in der Gemeindepolitik. 

Martin Staudinger
In der Vergangenheit wurde in Hard viel geplant, aber wenig realisiert. Staudinger pocht darauf, dass auch umgesetzt wird – finanziell vertretbar, in kleineren Schritten, aber dafür jetzt und nicht irgendwann. Foto: Frederick Sams

Dass Staudinger den gegenteiligen Karriereweg beschritten hat als zumeist üblich, nämlich die Verwaltungsebenen Bund/Land/Gemeinde hinunter anstatt hinauf, sieht er keineswegs negativ: „Für mich ist das kein Abstieg, sondern der Weg zurück in die Heimat und dorthin, wo man eigentlich hingehört. Und dabei fühle ich mich sehr wohl.“

Gemeinde wird vom Rhein geprägt

Seine Heimatverbundenheit hört man Staudinger auch an, sobald er über Hard zu sprechen beginnt. Wer bei der Vorarlberger Gemeinde allerdings an Berge denkt, ist auf dem Holzweg. Hard ist brettleben, da es im Rheintal unmittelbar westlich von Bregenz und direkt am Südufer des Bodensees liegt.

Die Grenze zur Landeshauptstadt bildet die Bregenzer Ach. Gegenüber, Richtung Fußach, ist es hingegen der Alpenrhein, der die Grenze markiert und in diesem Abschnitt seit seiner Begradigung Ende des 19. Jahrhunderts Neuer Rhein genannt wird. Die Vorstreckung, also die künstliche Verlängerung des Flussbetts mittels Dämmen in den Bodensee hinein, wurde notwendig, weil die Fußacher und Harder Bucht zu verlanden begannen. Die gesamte Damm-Struktur der Rheinmündung gehört ebenso zum Gemeindegebiet von Hard. Die Marktgemeinde ist somit in drei Himmelsrichtungen von Gewässern umgeben. 

Seepanorama Hard
Hard von Osten. Am oberen Bildrand ist die künstlich verlängerte Mündung des Rheins in den Bodensee zu sehen. Foto: Herbert Heim CC BY-SA 4.0

Wenig verwunderlich, dass Staudinger den Bodensee als besonders identitätsstiftend bezeichnet. Hard ist charakterisiert durch viele Buchten und Häfen und kann über 1.000 Bootsliegeplätze vorweisen. Diese sind bei den Hardern heiß begehrt, denn im Ort haben nicht nur reiche Leute ein Boot. „Das geht tief in die Bevölkerung rein. Viele Harder haben ein kleines Boot mit Außenbordmotor.“ Dementsprechend lang sind die Wartelisten. Hinzu kommt, dass die Harder Bevölkerung weit mehr vom See hat als die Menschen andernorts. „Im Gegensatz zu vielen anderen Seen in Österreich, aber auch zu den Ufern des Bodensees in Deutschland und der Schweiz, ist praktisch das gesamte österreichische Seeufer öffentlich zugänglich“, erklärt Staudinger stolz. Und das wird auch so bleiben.

Die Harder freut’s, denn sie wissen, dass dieser Umstand ein Luxus ist, den nicht viele vor ihrer Haustür in Anspruch nehmen können. Zum Vergleich: Am Attersee sind nur 13 Prozent des Seeufers öffentlich zugänglich, am Wörthersee neun Prozent und am Ossiacher See gar nur noch sieben Prozent. 

Zur Person

Martin Staudinger

Alter: 44
Gemeinde: Hard (am Bodensee)
Einwohnerzahl: 13.786 (Jänner 2023)
Bürgermeister seit: 27. September 2020
Partei: SPÖ