Mann zieht Wagen
Krisenmanagement ist eh und war immer schon Sache der Gemeinden. Auch dieses Mal, bei der historischen Herausforderung Corona, ist es im Prinzip nichts anderes. Nur intensiver, zäher, mit mehr Aufs und Abs.
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Bürgermeisterinnen und Bürgermeister - Die Kraft vor Ort

Schon ein ganzes Jahr lang hatte die Corona-Pandemie das Leben der Menschen in Europa bestimmt, als drei deutsche Oberbürgermeister endlich mitreden wollten, bei allem. Bei der Frage, ob Schulen geschlossen bleiben müssen oder Baumärkte wieder öffnen dürfen, was mit Restaurants ist, mit Blumenläden und Sportvereinen. Kurzum also mit all dem, was eigentlich Kerngeschäft einer Stadt ist- ein Geschäft, das die Pandemie, wie jede andere Art von Geschäft auch, komplett verändert hatte. „Die Kommunen sind die Keimzellen der Demokratie“ schrieben also die Oberbürgermeister von Rostock, Tübingen und Münster Anfang März 2021 in einer Pressemitteilung. Bislang habe man in der Pandemie Verordnungen und Vorschriften von übergeordneten Behörden jedoch nur durchsetzen müssen. Jetzt, hieß es weiter, benötige man „flexible, ortsangepasste und praktisch umsetzbare Lösungen“. Jetzt schlage die Stunde der Kommunen.

Jetzt erst? Ein ganzes Jahr nach Beginn der Krise? Rupert Dworak sitzt in seinem Büro, dreht eine FFP2-Maske in den Händen und ist anderer Meinung. Dworak ist Bürgermeister von Ternitz in Niederösterreich und er findet, dass Krisenmanagement eh und immer schon Sache der Gemeinden gewesen sei. Auch dieses Mal, bei der historischen Herausforderung Corona, sei es im Prinzip nichts anderes. Nur intensiver, zäher, mit mehr Aufs und Abs.

„Gemeinden halten den Laden am Laufen“

Die Gemeinden sind es, sagt Dworak, „die den ganzen Laden am Laufen halten“. Sie organisierten das Impfen und das Testen, die Kinderbetreuung und die Veranstaltungsabsagen. Dworak ist, so sagt er das, auf der Straße gestanden und hat den Menschen erklärt, warum man jetzt so strikt sein müsse. Dworak ist, auch das erzählt er, Anfang Februar, als in Österreich die Schnelltest-Straßen in den Gemeinden entstanden, am Wochenende von sechs Uhr Früh an im Testzentrum gestanden und mitgeholfen. „Wir haben wieder Ordnung und Struktur in das aufkeimende Chaos gebracht“, sagt Dworak. „Die Gemeinden haben dem Bund wieder einmal die heißen Kastanien aus dem Feuer geholt.“ 

Rupert Dworak
Rupert Dworak, Bürgermeister von Ternitz: „Die Gemeinden haben dem Bund wieder einmal die heißen Kastanien aus dem Feuer geholt.“ 

Es gibt ein Kinderspiel, bei dem etwas sehr Heißes, eine Kartoffel oder eine Kastanie, von einem zum anderen weitergereicht werden muss - schnell, damit man sich nicht die Finger verbrennt. Aber auch präzise, denn wer fallen lässt, der verliert.

Den Gemeinden bleiben die heißen Kartoffeln

In dem Spiel ist die Kastanie oder die Kartoffel natürlich nicht wirklich heiß. In der Politik kann das schon vorkommen: Manche Aufgaben sind wie heiße Kastanien, man reicht sie weiter, in dem Fall: nach unten durch. Wenn Bürgermeister oder Bürgermeisterinnen so eine heiße Kastanie in die Hände bekommen, dann können sie sie nicht einfach weitergeben. Sie sind die Letzten in der Reihe. Sie müssen den Menschen erklären, warum Hausarztpraxen nicht mehr besetzt werden, wann die Schlaglöcher gestopft werden und warum eigentlich der Gehweg schon wieder nicht gekehrt ist.

Nicht für viele klingt das nach einem Traumjob und wer Bürgermeisterinnen und Bürgermeister befragt, jenseits von Pandemie-Zeiten, warum um alles in der Welt sie das bloß machen, dem sagen sie Dinge wie: Abends nach Hause kommen und wissen, dass etwas geklappt hat, das sei das Beste. Oder sie sagen: Wenn man etwas bewegen kann, dann ist das doch schön.

Motivation, wenn er darum geht, das Schlimmste zu verhindern

Bürgermeister ziehen ihre Kraft aus dem Gelingen, aus dem Gestalten. Was aber, wenn auf einmal nichts mehr gelingt, weil alles nur noch abgesagt werden muss, das Weinfest, die Schulaufführung, sogar der Schulunterricht? Was, wenn kein Bürgermeister und keine Bürgermeisterin mehr etwas gestalten kann, sondern es eigentlich nur noch darum geht, das Schlimmste zu verhindern?

Es stimmt schon, was Rupert Dworak sagt, der Bürgermeister von Ternitz: Bürgermeisterinnen und Bürgermeister waren schon immer Krisenmanager. Aber gilt das, was Bürgermeister in ihrem Job antreibt, was es ihnen ermöglicht, ihre Aufgaben gut zu machen, auch bei einer Krise diesen Ausmaßes? Wenn es nicht um den Neubau von Schulen geht, auch nicht um, sagen wir, einen heftigen Wintereinbruch, sondern um das Wichtigste, um Leben und Tod? Reicht zur Bewältigung der Krise das, was man als Chef oder Chefin im Rathaus eh können muss? Oder braucht es einen neuen Typus Bürgermeisterin, eine andere Art von Bürgermeister? 

Zentralismus ist in der Pandemie gescheitert

Sowohl Deutschland als auch Österreich wollten zumindest am Beginn dieser Krise offenbar nicht so recht daran glauben, dass die Kraft zur Krisenbewältigung vor Ort liegt. Beide Länder versuchten es zuerst mit Zentralismus. Mit Verordnungen auf Bund- und Länderebene, die manchmal mittwochs angekündigt wurden, Freitagnacht in den Gemeinden ankamen und montags umgesetzt sein mussten.

In Deutschland musste, das zeigt auch die Pressemitteilung aus Tübingen, Münster und Rostock, mehr als ein ganzes Pandemie-Jahr vergehen, bis sich das langsam änderte. Nicht etwa, weil die Bundesregierung in Berlin das so wollte. Sondern weil die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister einfach loslegten.

Krefeld zum Beispiel, eine Großstadt im Westen Deutschlands, begann Anfang März in Eigenregie damit, Lehrerinnen und Lehrer gegen Covid-19 zu impfen, weil plötzlich genug Impfstoff da war, mehr als man brauchte. Das war zu einer Zeit, als im Rest des Landes auf Geheiß der Bundesregierung noch unter großem bürokratischen Aufwand darauf geachtet wurde, dass niemand geimpft werde, der juristisch gesehen noch gar nicht dran war - und all das, obwohl zu diesem Zeitpunkt schon mehrere Millionen Dosen verschiedener Impfstoffe in Kühlschränken lagerten.

Der Landkreis Böblingen in Baden-Württemberg ist ein anderes solches Beispiel. Er war schon Mitte Februar der einzige im Land, der allen Bürgern kostenlose Schnelltests auf das Virus anbot. Damals war die Bundesregierung noch mit der Zertifizierung solcher Tests befasst sowie mit der Ausarbeitung einer Teststrategie. „Die Kraft der Kommunen“, sagt Patrick Kunkel, Bürgermeister in Eltville nahe Wiesbaden, „hätte man viel früher nutzen können.“ 

Energie zur Krisenbewältigung liegt vor Ort

Auch in Österreich zeigte sich schon früh am Beginn der Pandemie, dass die Energie zur Krisenbewältigung nahe liegt, vor Ort nämlich. Bevor sie groß darüber redeten, hatten Städte und Gemeinden schon monatelang einfach gemacht.

Zum Beispiel in Stuhlfelden im Salzburger Land. Dort ist Sonja Ottenbacher Bürgermeisterin und sie sagt: „Man reagiert vor Ort schon sehr hellhörig, das liegt im Naturell der Gemeinden.“ So habe man zum Beispiel im Frühjahr 2020 viele Dinge schon umgesetzt, bevor sie Vorschrift geworden sind.

Ottenbacher nennt etwa die schnelle Einrichtung eines Krisenstabs und die Absage der ersten Veranstaltung. „Daran erinnere ich mich noch genau“, sagt sie, schließlich sei es um eine Veranstaltung gegangen, die jedes Jahr ein Highlight in Stuhlfelden ist. „Für die Theateraufführungen der Salzburger Bildungswerke proben die Verantwortlichen monatelang, aber uns war  im Frühjahr 2020 klar, noch bevor es dafür eine Regel gab: Eine Veranstaltung mit mehr als 200 Menschen, das geht nicht“, sagt Ottenbacher. „Die Gemeinden arbeiten viel mit Eigeninitiative und Hausverstand.“ 

Aber auch in Österreich, so berichten es die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, hat es eine Weile gedauert, bis die Bundesregierung verstand hatte, dass man den Gemeinden auch ganz offiziell etwas zutrauen kann in dieser Pandemie. Für Johannes Pressl, Bürgermeister in Ardagger in Niederösterreich, kam der Wendepunkt im Dezember 2020, beim landesweiten Massentest auf das Coronavirus. „Das war das erste Mal, dass man stark auf die Gemeinden gesetzt hat“, sagt Pressl. Zusammen mit den übergeordneten Behörden habe man die Tests innerhalb von drei Tagen organisiert. „Aber die Treiber des Geschehens waren wir als Gemeinden, ohne uns hätte das nicht funktioniert“, sagt Pressl. 

Zusammenhalt vor Ort hilft

Aber sind Bürgermeisterinnen und Bürgermeister tatsächlich die besseren Krisenmanager als Verantwortliche an zentraleren Stellen? Und wenn ja, was genau hilft ihnen eigentlich dabei?

Der Zusammenhalt im Ort sei ein wichtiger Punkt, so sagen das alle Bürgermeister, die man zu diesem Thema befragt. „Wir sind in Österreich ein Land der Freiwilligen“, sagt etwa Rupert Dworak, der Bürgermeister von Ternitz. „Und in dieser Krise haben wir das ganz klar gemerkt: Die Menschen helfen sich schon, wenn’s eng wird.“ So seien auch in großen, bislang eher anonymen Häusern Mieterinitiativen entstanden, um einander zu unterstützen, beim Einkaufen etwa. Um dieses Potenzial zu heben, ist es allerdings nötig, das Netzwerk und die Menschen vor Ort zu kennen.

In Gemeinden wird schnell reagiert

Johannes Pressl, Bürgermeister in Ardagger, erzählt dazu etwa die Geschichte, dass die Sozialgemeinderätin seines Ortes innerhalb kürzester Zeit ein Freiwilligensystem inklusive Einsatzzeiten organisiert habe, um im Frühjahr 2021 die Schnellteststraßen am Laufen halten. „Ich bin schwer begeistert, wie wir in jeder Phase dieser Krise auch immer wieder eine Antwort gefunden haben und es immer wieder Menschen gab, die das Erforderliche getan haben“, sagt Pressl. 

Johannes Pressl
Johannes Pressl, Bürgermeister von Ardagger: „Ich bin schwer begeistert, wie wir in jeder Phase dieser Krise auch immer wieder eine Antwort gefunden haben und es immer wieder Menschen gab, die das Erforderliche getan haben.“

Inzwischen schauen viele wie durch einen Nebel zurück auf die Zeit vor der Corona-Pandemie, aber sicher ist: Es gab sie, diese Zeit. Andrea Kaufmann muss manchmal daran denken, aus einem ganz bestimmten Grund. Kaufmann ist Bürgermeisterin von Dornbirn in Vorarlberg und in der Stadt hat es vor drei Jahren einen Wechsel an der Spitze des örtlichen Katastrophenschutzes gegeben. Das brachte Bewegung, alles Mögliche wurde neu geprobt, Felsstürze, Erdbeben. „Da war die Pandemie so weit weg und viele von uns haben gedacht: Boah, schon wieder drei Stunden lang Übung“, sagt Kaufmann. Heute ist sie froh, dass die Strukturen in ihrer Stadt so gewissenhaft aufgebaut worden sind. „Dass wir so gut aufgestellt waren in der Stadteinsatzleitung, hat uns gerade am Beginn der Pandemie extrem geholfen“, sagt sie. 

Es gibt noch eine andere wichtige Säule, die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister nennen, wenn man sie fragt, was beim Krisenmanagement geholfen hat: die Vernetzung zwischen den Gemeinden. Wo die vertikale Kommunikation innerhalb des Staatsgefüges, also der Austausch mit den übergeordneten Behörden, manchmal holprig gewesen sei, hätten die ­horizontalen Netzwerke geholfen. Über den Austausch zwischen Gemeinden direkt und auch über den Kontakt mit dem Gemeindebund komme man als Bürgermeisterin oder Bürgermeister oft schneller an wichtige Informationen als über den offiziellen Behördenweg. 

Und was ist mit den Bürgermeistern und Bürgermeisterinnen selbst?

Braucht es für diesen Posten nicht spezielle Eigenschaften in Zeiten einer weltumspannenden Krise? „Ärmel hochkrempeln und anpacken – das können wir“, sagt etwa Rupert Dworak aus Ternitz und spricht damit etwas aus, was auch in Gesprächen mit anderen Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern deutlich wird: das unmittelbare Handeln, das schnelle Entscheiden und dafür Hinstehen, die Kommunikation mit den Bürgern - wer das nicht kann, der konnte noch nie, auch jenseits von Krisenzeiten, ein guter Bürgermeister oder eine gute Bürgermeisterin sein. 

Dennoch ist es aber so: Zwar nehmen die Gemeinden in Deutschland und Österreich für sich in Anspruch, die Krise bislang gut organisiert zu haben - so gut es eben geht bei einer Bedrohung, auf die man nur bedingt Einfluss hat. Die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister glauben aber nicht, dass es nach Bewältigung der Pandemie so weitergehen kann wie davor.

Johannes Pressl, der Bürgermeister von Ardagger, beschreibt es etwa so: „Wir müssen uns schon das Verwaltungshandeln insgesamt ansehen und reflektieren, was wir besser machen können.“

Mit Verwaltungshandeln meint er vor allem die Zusammenarbeit zwischen den Gemeinden, den Ländern und dem Bund. „Das ist keine Kritik, sondern eine offene Frage“, sagt Pressl. „Wir müssen uns fragen: Was braucht man, um solche Krisen optimal zu behandeln?“ So seien manche Verwaltungsebenen in der Krise einfach ausgelassen worden und gerade auch die Eigenverantwortlichkeit der Gemeinden sei gelegentlich ausgebremst worden - etwa bei der Frage, ob Bürgermeister die Namen von mit Corona Infizierten wissen dürfen oder nicht. „Manche Verwaltungsschritte braucht man vielleicht gar nicht, andere dafür umso mehr“, sagt Pressl und plädiert dafür, dass diese Reflexionsarbeit nach dem Ende der Pandemie unbedingt geleistet werden müsse. 

Kommune ist immer erster Ansprechpartner für die Menschen

Patrick Kunkel, der Bürgermeister aus Eltville in Deutschland, geht noch einen Schritt weiter. Für ihn ist die Krise ein Anlass, sich die ganz großen Gedanken zu machen über unser Zusammenleben in Städten und Gemeinden. Ende Jänner 2021 hat er ein Positionspapier veröffentlicht, überschrieben mit: „Die neue Stadt - wie es jetzt weitergeht!“

Für Kunkel hat die Krise vor allem gezeigt, dass die Kommune immer der erste Ansprechpartner ist für die Menschen, die darin leben. „Es muss deswegen in Zukunft so etwas geben wie eine wehrhafte Stadt“, sagt Kunkel. Dazu brauche es eine Verwaltung, die sich eher als ein Dienstleister verstehe, der sich zuständig fühlt für alle Sorgen, die die Bürgerinnen und Bürger haben, und der nach Lösungen suche. „Die Aufgabe ist es, klassische Projektsteuerung aus der Wirtschaft in die Verwaltung zu holen“, sagt Kunkel. „Und wir Bürgermeister, wir müssen das steuern.“ Wer sonst, fügt er noch an, sollte das auch machen? 

Dieser Beitrag ist ein gekürzter Vorabdruck aus dem „Zukunftsbericht 2021“ des Österreichischen Gemeindebundes. Dieser wird in Buchform zum Österreichischen Gemeindetag 2021 erscheinen und auf www.gemeindebund.at zum Download zur Verfügung stehen.

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