Großstadt in der Glaskugel
Noch scheint ein Blick auf die Kommune der Zukunft einer in die berühmte Glaskugel zu sein. Allerdings werden wir auch aus heutiger Sicht höllisch aufpassen müssen, dass uns die Entwicklung nicht überrollt.
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Wir haben die Wahl, es liegt bei uns

Egal, ob Stadt oder Dorf, die Kommune der Zukunft wird schneller kommen als wir denken. Und die Änderungen werden tiefgreifender sein, als wir uns heute vorstellen können. Oder wollen! Aber wir haben die Wahl, wie weit wir uns auf neue Optionen einlassen wollen. KOMMUNAL hat sich auf eine Spuren-suche begeben und wirft einen Blick mit gemischten Gefühlen auf die Zukunft.

Gleich vorweg ist eines festzuhalten: Die Zukunft bringt nicht immer nur das Schlimmste. Es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn das Leben für die Menschen durch technische Entwicklungen besser und leichter wird. Leistbar muss es halt auch für alle sein. Gleichzeitig werden wir aber ebenso aufpassen müssen wie die sprichwörtlichen „Haftlmacher“, dass die Entwicklung nicht in eine Richtung geht, die wir gar nicht wollen.

Vor dem Blick in die Zukunft sollte der Blick zurück kommen



„Wer sich an seine Geschichte nicht erinnert, ist dazu verdammt sie zu wiederholen.“ Dieser Satz ist vom amerikanischen Philosophen, Schriftsteller und Literaturkritiker George Santayana (1863–1952; eigentlich Jorge Augustín Nicolás Ruiz de Santayana) geprägt worden. Er stammt aus dem 1905 erschienenen ersten Band seines Werkes „The Life of Reason“. Die gesamte Textstelle lautet in der Übersetzung in etwa: „Fortschritt, nicht im Sinne bloßer Veränderung,  hängt von Merkfähigkeit ab. Bei einem totalen Wechsel bleibt keiner übrig, der eine Verbesserung herbeiführen, oder zumindest eine mögliche Richtung für Verbesserung vorgeben könnte. Wenn Erfahrung nicht berücksichtigt wird, verharrt die Entwicklung, wie bei den Wilden, in einer frühkindlichen Phase. In der ersten Phase des Lebens ist der Geist bedachtlos und manipulierbar. Er ist (noch) nicht entwickelt, da es ihm an Wissen um Zusammenhänge und an Persistenz mangelt. Das ist der Zustand von Kindern und Barbaren,  in dem der Instinkt nichts durch Erfahrung gelernt hat.“



Wenn wir also nicht wollen, dass Zustände wie bei den industriellen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunders wieder bei uns einziehen, müssen wir uns vor Augen führen, was damals alles passiert ist, die Fehler von früher identifizieren und ein Augenmerk darauf lenken, dass so etwas künftig nicht mehr geschieht. Wer die elende Lage der „Ziegelböhm“ in Wien oder generell die des Proletariats dieser Zeit vor Augen hat, wird kaum in die Versuchung kommen, das nicht zu tun. Und wenn vorher festgehalten wurde, dass es in Zukunft für „die Menschen“ besser wird, dann sind alle Menschen gemeint. Und beleibe  nicht nur jene, die es sich leisten können. Es sind alle Menschen gemeint, nicht nur jene in Europa, auch die in Afrika, Asien, Südamerika und wo immer sie sind



Und sofort sind wir bei einer weitere Besonderheit: Gerade in Ländern auf diesen Kontinenten sprießen die Millionenstädte, die Metropolen und Megastädte nur so aus dem Boden. Nigerias Hauptstadt Lagos beispielsweise ist von knapp 100.000 im Jahr 1921 auf 14,5 Millionen 2013 gewachsen. Mexiko-Stadt ist von 900.000 im Jahr 1920 auf fast neun Millionen im Jahr 2010 gewachsen, im Ballungsraum der mexikanischen Hauptstadt drängen sich allerdings mehr als 20 Millionen Menschen - Zuwachsrate rund eine Million pro Jahr! Indonesiens Hauptstadt Djakarta ist von rund 250.000 Einwohnern im Jahr 1920 regelrecht explodiert auf knapp zehn Millionen. Und die leben in der Stadt – die Metropolregion Djakarta hat rund 30 Millionen Einwohner.



Und so geht es weiter. Die Liste der Millionenstädte auf Wikipedia umfasst 315 Städte und endet bei Kathmnandu mit 1,001.000 Einwohner – wäre also locker weiterzuführen (Wien als zweitgrößte deutschsprachige Stadt liegt auf Platz 135). Die Liste der Metropolregionen setzt da noch eines drauf: 65 Einträge angefangen mit Tokio mit fast 38 Millionen Einwohnern bis Houston mit knapp über sechs Millionen.



Dieser Trend zur Verstädterung hält weltweit seit dem Zweiten Weltkrieg mehr oder weniger kontinuierlich an, der Verstädterungsgrad betrug 2007 rund 50 Prozent. Dieser Prozess ist weiter gegangen und wird auch künftig weiter gehen.

Die Megastadt



Warum wird einem beim Wort „Megastadt“ unwohl und wieso ist es negativ belegt? Seit Fritz Langs Film „Metropolis“ aus dem Jahr 1927 hat sich in den Köpfen der Menschen das Bild einer unmenschlichen Megastadt eingepflanzt. Die kollektive Erinnerung an die urbanen Zustände der industriellen Revolution werden das Ihrige tun.



Die Zeitung „Der Standard“ brachte vor einiger Zeit einen bemerkenswerten Beitrag[i], in dem die Entwicklung des urbanen Raums aus Sicht des Science-fiction-Genres betrachtet wird. Quinzessenz: Wird die Stadt außerhalb der Funktion als Kulisse für einen Film zum Thema, geschieht dies meist in einem negativen Kontext: als Ort der Entfremdung und der sozialen Konflikte. Die Stadt wird zum Ressourcen und Menschen verschlingenden Moloch.



Abgesehen von diesem eher schwer greifbaren Vorbehalt gibt es dazu aber auch konkrete Beispiele: So stieg die Bevölkerung von Nouakchott, der Hauptstadt Mauretaniens, von 1958 (500 Einwohner) bis 2008 auf 800.000, möglicherweise sogar auf zwei Millionen, also um mindestens 160.000 Prozent (das Tausendsechshundertfache), wobei ein permanent steigender Anteil der Bevölkerung unter Plastikplanen und in ähnlichen Quartieren „wohnt“. Die indische Wirtschaftswissenschaftlerin Yayati Gosh, Trägerin des ILO-Forschungspreises 2010, kritisiert den Zusammenbruch der Stadtplanung unter dem Einfluss neoliberaler Reformen in vielen Ländern und beschreibt ihn als „tendency to create urban monstrosities of congestion, inequality and insecurity“, also eine „Tendenz, städtische Monstrositäten von Überfüllung/Überlastung, Ungleichheit und Unsicherheit zu erschaffen.“[ii]

Das Internet of things



Ist das „Internet of things“, das Internet der Dinge, der Vorreiter der Megastadt? Ob Megastädte noch Science Fiction oder schon nahe Zukunft sind, ist bei der Betrachtung der nächsten Zukunftsfrage nebensächlich. Weil die Frage nicht lautet, ob das Internet of Things kommt. Es ist mit vielen Anwendungen schon da.



Auf den ersten Blick bringt diese totale Vernetzung praktisch nur Vorteile: Selbstfahrende Autos oder selbstständig einkaufende Kühlschränke oder ein Sicherheitssystem für das Haus, das über das Smartphone gesteuert wird, sind da fast schon alte Hüte.Genauso wie die „offenen Büros“, wo es keine Arbeitsplätze mehr gibt, aber sich das Licht nach Ihren gespeicherten Vorgaben ausrichtet und Ihr Laptop sich automatisch via Leuchte insWLAN hängt.



Mittlerweile gibt es Dinge wie Haarbürsten, die aus dem Kämm-Geräusch auf den Gesundheitszustand der Haarpracht schließen – und das geeigente Pflegeprogramm vorschlagen. Oder Betten, die mithören, ob der Schläfer schnarcht. Falls ja, wird der Kopf automatrisch angehoben, bis wieder Ruhe ist. Und am Morgen wird einem in der App mitgeteilt, wie erholsam der Schlaf war. Zahnbürsten, die via App Tipps zum Putzverhalten der Beisser geben, Milchpumpen für stillende Mütter, die melden, wann der Behälter voll ist, Alco-Locs (Wegfahrsperren fürs Auto), Smart Grid und Smart Meter und Smart irgendwas ... kurzum, wir sind dabei, unser gesamtes Leben elektronisch durchstylen zu lassen.



Selbst sinnvolle Sachen, wie der Hausroboter, der allein wohnenden alten Menschen vorsorglich Hindernisse aus dem Weg räumt oder zu Hilfe eilt und den heruntergefallenen Schlüssel aufhebt, damit sich diese nicht mehr bücken müssen (Gefahr des Schlaganfalls oder des Sturzes), gibt es schon. Und damit die alten Menschen nicht immobil werden, hilft der Roboter zwar, verlorene oder verlegte Dinge zu finden, bringt aber beispielsweise die TV-Fernbedienung oder das Telefon nicht zum Sucher. Holen muss er sich‘s schon selber. Und falls doch einmal was passiert und die Atmung aussetzt, alarmiert der Roboter (er nennt sich übrigens „Hobbit“ und ist eine österreichische Erfindung) selbstständig Hilfe.



Die Möglichkeiten des Internets der Dinge gehen ja noch viel weiter. Beispielsweise können die Masten einer intelligenten Straßenbeleuchtung auch mit Mikrofonen bestückt werden. Der Vorteil: im Fall eines Unfalls auf der Straße lokalisieren die Mikros den Unfall und schicken selbstständig Hilfe oder, wenn ein Schuss fällt, die Polizei. Verkehrsplaner können mit vernetzten Kameras Staubildungen vermeiden, indem sie den Verkehr umleiten. Die Frage, ob Kommunen, in deren Zuständigkeit die Installation dieser Dinge liegt, das auch tun sollten, wird nicht gestellt. Das Problem liegt in der weiteren Nutzung der Angebote. Alles, was einen Unfall orten kann, kann auch Gespräche (oder Streitereien) mithören und sich in häusliche Angelegenheiten einmischen. Und völlig offen ist die Frage, wer da mithört und wer entscheidet, was mit den Daten geschieht. Wendet man sich an die Anbieter derartiger Tools, kommt die Antwort, dass man „nur die Möglichkeit schaffe“. Über den Einsatzrahmen muss die Kommune entscheiden. Das ist ein bisschen so, wie wenn der Hersteller eines Sturmgewehrs sagt, er hat das Ding nur gebaut. Geschossen hat wer anderer.

Und was haben die Gemeinden mit all dem zu tun?



Jedes dieser Dinge für sich genommen hat sicher Vorteile. Und abgesehen davon, dass der Autor dieser Zeilen aus einer anderen Zeit (wenn schon nicht von einem anderen Stern) stammt und einer eher „altvaterischen“ zwischenmenschlichen Lebensweise den Vorzug gibt, lässt sich nicht viel dagegen einwenden.



Festzuhalten ist, dass alle diese neuen Entwicklungen etwas brauchen, ohne das sie nicht funktionieren: Sie brauchen Hochgeschwindigkeits-Internet. Breitband! Glasfaserkabel! Irgendwas in der Richtung. Und hier stoßen wir (und mit uns der ländliche Raum) an unsere Grenzen. Selbst Städte sind in ihren Randbezirken schwer zu verkabeln, aber die kleinen Gemeinden in die Tälern, deren oft einzige Chance die Anbindung an das Internet ist, brauchen definitiv eine Breitbandanbindung. Und sie werden mehr Hilfe brauchen als ein einsames „Leerverrohrungs-Förderprogramm“.Eigentlich ist es Sache des Staates, seine Bürger alle gleich zu behandeln, allen die gleichen Chancen zu bieten, unabhängig davon, wo sie leben. Nur wird der ländliche Raum mit den meisten Problemen allein gelassen.



Nun haben Staaten (und auch Länder) auf allen Ebenen mit zunehmend komplexeren Problemen zu kämpfen, wobei immer weniger Ressourcen zur Verfügung stehen, wie Beth Simone Novecek in ihrem Beitrag zur Festschrift „70 Jahre NÖ Gemeindebund“ anmerkt[iii]. „Herausforderungen von Armut bis Einwanderung erfordern neue Wege in der Arbeit von großen und kleinen Institutionen, wobei diese sich neue Technologien zum Erhalt besserer Daten (datengestützte Innovation) und vielfältigere Ideen und Mithilfe (kooperative Innovation) zunutze machen können“, wie Novecek ausführt. „Diese Innovationen in Regierungsinstitutionen sind unter dem Begriff „Open Government“ zusammengefasst, da damit die Verwendung digitaler Kommunikationstools zur Öffnung öffentlicher Organisationen für Informationen und Ideen von außerhalb der institutionellen Grenzen hervorgehoben wird. Open Government ist mehr als Transparenz. Mit Open Government soll nicht einfach breitere Verantwortlichkeit erzielt werden, sondern die Beziehung zwischen Staat und Bürgern sollte sich grundlegend ändern. Letztendlich sollen neue Wege der Problemlösung gefunden werden.“



Novecek führt in ihrem Beitrag fünf Punkte an, auf die das Sammeln und die verantwortungsvolle Verwendung von Daten sowie die Freigabe von nicht personenbezogenen öffentlichen Daten zur freien Verwendung hoffen lässt:


  • Regierungen und Bürger können in höherem Maße evidenzbasierte Entscheidungen treffen, zum Beispiel wenn Regierungen durch das Analysieren ihrer Ausgaben Möglichkeiten zum Sparen von Steuergeldern entdecken.

  • Probleme werden schon im Vorfeld erkannt und es wird nicht nur darauf reagiert.

  • Mehr Bewusstsein für die öffentliche Meinung und Stimmung, beispielsweise durch die Analyse von Datenströmen auf Twitter.

  • Mehr demokratisches Engagement und Bürgerbeteiligung durch die Freigabe von Daten

  • Die Herausforderung des Regierens liegt nicht in einem Mangel an Informationen. Sie besteht künftig vielmehr darin, Daten zu verstehen und aus ungefilterten Informationen operative Erkenntnisse zu gewinnen, die eine effizientere Leistungserbringung ermöglichen.






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Glücklicherweise gibt die Autorin auch sieben Empfehlung ab, wie „Regierende“ - hier sind auch Gemeinden gemeint - mit diesen neuen Möglichkeiten umgehen können oder sollen.


  • Tipp 1: Erweitern Sie die analytischen Fähigkeiten in der gesamten Verwaltung durch Schulungsprogramme im Bereich der angewandten Datenanalyse für lokale Beamte. Warum? Die Hoffnungen auf solch datengestützte, evidenzbasierte Entscheidungsfindungsprozesse haben sich bisher großteils nicht erfüllt, weil die Beamten kaum Erfahrung darin haben, aus Daten umsetzbare Erkenntnisse zu gewinnen. Sie wissen nicht, wie man Daten auf verantwortungsvolle Weise sammelt, analysiert, verwendet, weitergibt und speichert.

  • Tipp 2: Stärken Sie durch die Investition in eine benutzerfreundliche, auf lokale Gegebenheiten ausgerichtete Dateninfrastruktur das lokale Unternehmertum und schaffen Sie wirtschaftliche Möglichkeiten.

  • Tipp 3: Fragen Sie Menschen nicht nur nach ihrer Meinung, sondern bitten Sie sie, ihr Wissen und ihre Ideen auf entsprechenden Plattformen der Welt mitzuteilen.

  • Tipp 4: Verbinden Sie die Aufgaben mit Preisen und schaffen Sie so Anreize für die Menschen, Informationen weiterzugeben.

  • Tipp 5: Konzentrieren Sie sich stärker auf eine Gestaltung, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt.

  • Tipp 6: Jede lokale Verwaltung sollte mindestens eine besondere Fähigkeit seiner Beamten in den Akten führen.

  • Tipp 7: Entwickeln Sie ein eigenes Pulsepoint für Österreich und bringen Sie Menschen und Möglichkeiten zusammen, um Leben zu retten, Kinder zu unterrichten, Unternehmen zu gründen und vieles mehr.






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Wie wird es weitergehen?



Hier reicht es vermutlich, Jürgen Doppler zu zitieren: „Das Wachstum geht munter weiter. Deshalb sollte es auch nicht verwundern, dass (ein) Stadtmoloch als Motiv alles andere als tot ist. Wie zum Beweis veröffentlichte der russische Bestsellerautor Dmitry Glukhovsky 2013 den Roman ,Futu.re‘, in dem die Erde von einer satten Billion Menschen bevölkert ist. Die Massen drängen sich in kilometerhohen Wohntürmen zusammen, die ihrerseits fast die gesamte planetare Landfläche bedecken: ein irdisches Pendant von Trantor in Isaac Asimovs ,Foundation‘-Reihe oder von Coruscant in ,Star Wars‘. Doch Glukhovsky treibt damit nur einen seit langem anhaltenden Trend auf die satirische Spitze: 1950 lag der Urbanisierungsgrad der Weltbevölkerung bei 30 Prozent, 2007 überschritt er erstmals die 50-Prozent-Marke. 2050 werden laut UNO-Prognosen 70 Prozent aller Menschen in Städten leben.“



Wie es für die 30 Prozent auf dem Land verbliebenen Menschen weitergeht, dafür gibt es einige schlüssigen Visionen oder Konzepte. Und die kleinen und mittleren Gemeinden werden mit Lösungen nicht allein bleiben. Alles andere wäre der reine Wahnsinn.



[i] Jürgen Doppler „Science-Fiction-Städte: Nach Metropolis kommt die Metastadt“, Der Standard, 12. Jänner 2017, http://derstandard.at/2000050166887/Science-Fiction-Staedte-Nach-Metropolis-kommt-die-Metastadt



[ii] Wikipedia-Stichwort „Urbanisierung“



[iii] Die US-Amerikanerin Beth Simone Novecek studierte in Harvard und Yale sowie an der Universität Innsbruck. Als Technologie-Expertin des Weißen Hauses leitete sie die Open-Government-Initiative von Ex-Präsident Barack Obama. Das Magazin „Foreign Policy“ zählt sie zu den Top 100 Global Thinkers.