Die Wiedergeburt Österreichs begann in den Gemeinden

1. Oktober 2005
Mit 136 Seiten Umfang war diese Ausgabe eine der stärksten in der Geschichte von KOMMUNAL. Dem Anlass entsprechend, müsste man sagen, wurde doch in dieser Ausgabe dem Ende des 2. Weltkriegs 1945, dem Abzug der Alliierten aus Österreich 1955 und dem Beitritt zur EU 1995 gedacht. Die Leistung der Gemeinden dabei wurde besonders gewürdigt. Bundespräsident Heinz Fischer formulierte es griffig: „Die Gemeinden waren immer die Ersten“. Auf rund 50 Seiten beleuchtete die Redaktion die Geschehnisse zwischen 1945 und 1955, machten sie Solidarität zwischen den Gemeinden West- und Ostösterreichs sichtbar, zeigten auf, welchen Gefahren die Ortschefs vor allem in Ostösterreich ausgesetzt waren – und zeigten nicht zuletzt auf, unter welchen Schwierigkeiten die Männer und Frauen in den Gemeindeverwaltungen die Versorgung der Menschen gewährleisteten. Den Weg zum EU-Beitritt 1995 holten Zeitzeugen in Erinnerung – vor allem an Alois Mock, den „Helden von Brüssel“.

KOMMUNAL 10/2005, von Hofrat Dr. Herbert Waldhauser

Diese Worte, die deutlich die entscheidende Rolle und die Leistungen der Gemeinden in der „Stunde Null“ unterstreichen, finden sich in der Regierungserklärung der Provisorischen Staatsregierung Dr. Karl Renner vom 27. April 1945, einem flammenden Appell an die Österreicherinnen und Österreicher, den Mut nicht zu verlieren und ihr Schicksal in die Hände zu nehmen. „Viele Gemeinden haben mit diesem Werk bereits begonnen“ – was dieser Satz an diesem 27. April 1945 bedeutete, wie viel Selbstbehauptungskraft und Überlebenswillen dahinter stecken, das kann man nur ermessen, wenn man sich das Datum etwas genauer anschaut. Es war drei Tage vor dem Selbstmord Hitlers, fast zwei Wochen vor der Kapitulation der deutschen Wehrmacht. Nördlich und östlich von Wien wurde noch erbittert gekämpft, Tausende – Soldaten und Zivilisten – verloren ihr Leben. Die sowjetische Armee hatte bis zu diesem Tag neben Wien 36 Bezirke mit mehr als 2000 Gemeinden in Niederösterreich, in der Steiermark und im Burgenland besetzt. In den anderen Ländern gaben noch NS-Gauleiter die letzten sinnlosen Durchhalteparolen und Befehle aus. Erst einen Tag später, am 28. April, überschritten die ersten amerikanischen Verbände in Tirol zwischen Pfronten und Vils die österreichische Grenze, einen Tag später marschierten französische Truppen bei Hohenweiler in Vorarlberg ein. Die ersten britischen Truppen kamen erst am 6. Mai nach Kärnten, zwei Tage vor dem Ende des Weltkriegs auf europäischem Boden. In den folgenden Wochen und Monaten des Jahres 1945 erfolgten die Weichenstellungen, die für zehn Jahre das Schicksal Österreichs bestimmen sollten.

  • In den Bundesländern bilden sich provisorische Landesregierungen – genehmigt von den Besatzungsmächten bzw. von diesen eingesetzt.
     
  • Am 4. Juli wird in London das 1. Kontrollabkommen über Österreich unterzeichnet. Als oberstes Entscheidungsorgan wird der „Alliierte Rat“ installiert, der von den Oberkommandierenden der Besatzungsmächte (später den Botschaftern) gebildet wurde. Alle Gesetzesbeschlüsse mussten dem Alliierten Rat vorgelegt werden, erst nach dessem Zustimmung traten sie in Kraft, wobei jede Besatzungsmacht das Vetorecht hatte. (Mit dem zweiten Kontrollabkommen im Juni 1946 wurde der Spielraum der österreichischen Politik erweitert, Gesetze waren zwar weiterhin dem Alliierten Rat vorzulegen, traten aber automatisch in Kraft, wenn dieser nicht innerhalb von 31 Tagen Einspruch erhob).
     
  • Am 9. Juli wurden die Besatzungszonen endgültig fest gelegt. Die Sowjetzone umfasste Niederösterreich, das Burgenland und Oberösterreich nördlich der Donau (Mühlviertel), die amerikanische Zone Salzburg und Oberösterreich südlich der Donau, die britische Zone Steiermark und Kärnten, die französische Zone Tirol und Vorarlberg. Wien wurde von allen vier Mächten besetzt, der 1. Bezirk war gemeinsam verwaltetes Gebiet („Die vier im Jeep“), die übrigen Gemeindebezirke wurden aufgeteilt.
     
  • Am 20. August trafen in Salzburg Vertreter der westlichen Bundesländer zusammen, um über eine Zusammenarbeit mit der „Renner-Regierung“ in Wien zu sprechen. Die provisorische Staatsregierung wurde von vielen als „Marionette der Sowjets“ gesehen, sie war weder von den westlichen Besatzungszonen, noch von den österreichischen Stellen außerhalb der russischen Zone anerkannt.
     
  • Dem entsprechend war die erste der drei historischen Länderkonferenzen am 24. und 25. September im niederösterreichischen Landhaus in Wien ein ganz entscheidender Schritt zur Erhaltung der Einheit Österreichs. Es wurde vereinbart, die provisorische Staatsregierung um Vertreter der westlichen Bundesländer zu erweitern und am 25. November freie Nationalrats- und Landtagswahlen ab zu halten.
     
  • Am 20. Oktober wurde die provisorische Staatsregierung von allen vier Besatzungsmächten anerkannt.
     
  • Am 25. November konnten die Österreicherinnen und Österreicher erstmals wieder frei und geheim wählen. Bei den Nationalratswahlen errangen die ÖVP 85, die SPÖ 76, die KPÖ 4 Mandate, Leopold Figl wurde Bundeskanzler. Vor allem das Abschneiden der Kommunisten ließ viele aufatmen: Hätten sie, wie von ihnen selbst erwartet, an die 30 Prozent erhalten, wäre das sicher eine schwere Hypothek für die Demokratie gewesen. Wären sie auf der anderen Seite überhaupt nicht in den Nationalrat eingezogen, hätte das womöglich zu Reaktionen seitens der sowjetischen Besatzer geführt. Gleichzeitig wurden auch die Landtage gewählt. In Wien und Kärnten ging die SPÖ als stärkste Partei hervor, in den übrigen Bundesländern lag die ÖVP vorne.

Schutt und Asche

Die Aufgaben, die sich den Verantwortlichen im Bund, in den Ländern und vor allem in den Gemeinden stellten, waren gigantisch, ja übermenschlich. Nach sieben Jahren NSHerrschaft und Krieg, gab es wieder ein Österreich. Aber es war ein Staat in Schutt und Asche. Ein Staat, dessen Menschen hungerten und froren. Unvergesslich für alle, die sie gehört haben, sind die Worte, die Bundeskanzler Figl am 24. Dezember 1945 über das Radio an die Bevölkerung richtete: „Ich kann Euch zu Weihnachten nichts geben. Ich kann Euch für den Christbaum, wenn Ihr überhaupt einen habt, keine Kerzen geben. Ich kann Euch keine Gaben für Weihnachten geben. Kein Stück Brot, keine Kohlen zum Heizen, kein Glas zum Einschneiden. Wir haben nichts! Ich kann Euch nur bitten: Glaubt an dieses Österreich!“ Zwischen August 1943 und dem Kriegsende waren etwa 70.000 Tonnen Spreng- und Brandbomben auf Österreich nieder gegangen, denen mehr als 35.000 Menschen zum Opfer fielen. 76.000 Wohnungen waren zur Gänze zerstört, mehr als 100.000 beschädigt, auch Zehntausende Betriebe, Bauernhöfe und öffentliche Gebäude lagen in Trümmern, ebenso die wichtigsten Straßen und Schienenwege, in Niederösterreich beispielsweise sämtliche Donaubrücken. In Wiener Neustadt waren 88 Prozent aller Gebäude zerstört oder beschädigt, in Villach 85 Prozent, in Klagenfurt 69 und in Innsbruck 60 Prozent. Insgesamt waren rund 2.000 Kommunen als „Kriegsschäden-Gemeinden“ registriert. Es mangelte an allem und jedem. Es fehlten Kohle und Benzin sowohl für die Industriebetriebe, soweit sie nicht zerstört oder demontiert waren, wie auch für die Haushalte. In den Krankenhäusern mangelte es an Medikamenten und sogar an Seife, sodass zusammen mit den Schäden an Wasserleitungen, Abwasserkanälen und Sanitätseinrichtungen Seuchen drohten, vor allem die Zahl der Typhus-Erkrankungen stieg dramatisch. Dazu kam ein Klima der Unsicherheit, nicht nur durch die fremden Soldaten, durch Vergewaltigungen, Brandschatzungen und Plünderungen, an denen zuweilen auch Einheimische beteiligt waren. Verschärft wurde die Lage durch ein Millionenheer von „Displaced Persons“ – Flüchtlinge und Vertriebene, befreite KZ-Insassen, ehemalige Zwangsarbeiter und Angehörige von fremden Hilfstruppen der Deutschen Wehrmacht. Besonders schlimm war in diesen Nachkriegswirren der Hunger. Gehungert wurde nicht nur in den Städten, sondern auch in den ländlichen Regionen. Dazu kam noch, dass auch infolge der ungünstigen Witterung 1945 die Ernte minimal ausfiel. Noch im Mai 1946 erklärte Fiorello La Guardia, der Generaldirektor der UNRRA (Hilfs- und Wiederherstellungsverwaltung der Vereinten Nationen), dass „das österreichische Volk zu jenen Völkern der Welt zählt, die dem Niveau des Hungertodes am nächsten sind.“ In dieser verzweifelten Lage waren es vor allem die Gemeinden, die inmitten von Trümmern und Mangel für ein einigermaßen geregeltes Leben, besser gesagt für das nackte Überleben zu sorgen hatten. Und sie waren dabei vor allem in den ersten Tagen und Wochen nach dem Krieg ganz auf sich allein gestellt. Denn die provisorischen Landes- und Bezirksverwaltungen waren erst im Aufbau und die zerstörte Infrastruktur machte es ihnen noch schwerer, den Kommunen beizustehen. Und eine Bundesregierung gab es aus der Sicht der westlichen Bundesländer zunächst überhaupt noch nicht.
An der Spitze der Gemeinden standen Bürgermeister und Gemeinderäte, die von den Besatzungsmächten ernannt waren. Oder die zumindestens von den Besatzern anerkannt und bestätigt wurden. Denn oft wurden die einziehenden Besatzungstruppen vor vollendete Tatsachen gestellt – es wurde ihnen ein Bürgermeister präsentiert. Wobei sehr oft auf erfahrene Kommunalpolitiker zurückgegriffen werden konnte, die 1934 oder 1938 aus ihren Ämtern entfernt worden waren. In Einzelfällen haben sich Bürgermeister auch selbst „ernannt“. Die ersten demokratische Gemeindewahlen der 2. Republik fanden erst 1950 (in einigen Städten 1949) statt.
Auf jeden Fall gehörte ungeheuer viel Mut und Zukunftsglauben dazu, in dieser Zeit eine solche Verantwortung zu übernehmen. Natürlich waren einzelne ernannte Bürgermeister ihren Aufgaben nicht gewachsen und wurden rasch ersetzt. Aber die überwiegende Mehrzahl hat Großartiges geleistet! Zu Recht hat Gemeindebund-Präsident Helmut Mödlhammer beim heurigen 52. Gemeindetag in Oberwart den Kommunalpolitikern der Stunde Null ein Denkmal gesetzt Natürlich waren die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für diesen Kampf ums Überleben in den einzelnen Besatzungszonen sehr unterschiedlich.