„Das unheilige Wohnsitzgespenst“

1. März 2001
Mit einer wahren „Gruselgeschichte“ wartete KOMMUNAL im März 2001 auf: Die Frage nach dem Hauptwohnsitz, gestellt bei der großen Volkszählung. So grimmig wurde der Streit geführt, dass erstmals – und das einzige Mal – der Autor des Beitrag lieber unter einem Pseudonym schrieb (die Identität des Autors der Redaktion bekannt). Quintessenz der Geschichte: Obwohl die Beschlüsse rund um die Hauptwohnsitze nicht zur Geisterstunde, sondern am helllichten Tag getroffen wurden, waren einige der Beratenden der festen Überzeugung, dass während der Gespräche das Wohnsitzgespenst mit im Zimmer war.

KOMMUNAL 3/2001, Ghostbusters e.V.

Es war einmal - so fängt wohl jede ordentliche Geschichte an - im vorigen Jahrtausend ein wunderschönes kleines Land mitten im Herzen Europas. In diesem Land lebten fleißige und ordnungsliebende Menschen, die von ehrenwerten Herrschern regiert wurden. Diese Herrscher, sie wurden allgemein Politiker genannt, achteten ihre Bürger und räumten ihnen viele Freiheiten ein, um sie glücklich zu machen - aber auch um ihre Gunst zu erringen, wenn in gewissen Abständen neuerlich Herrscher gewählt wurden, denn dieses Land war eine Demokratie, in der alles Recht vom Volk ausging.
So durfte zum Beispiel jeder Bürger seinen Wohnsitz nehmen, wo er wollte und er durfte deren so viele haben, als er benötigte und sich leisten konnte. Da aber das Volk - wie ich schon sagte - ein sehr ordnungsliebendes war, hatte jeder den Auftrag, sich dort, wo er wohnte, registrieren zu lassen, damit er gefunden werden könne, falls jemand nach ihm suchen sollte. Sie nannten das „Meldung“ und bezeichneten in ihrer Ordnungsliebe die Unterkünfte als „ordentliche Wohnsitze“. Je besser es dem Volk im Laufe der Zeit ging, desto größer wurde die Zahl derer, die bereits über zwei (oder gar mehr) solcher „ordentlicher Wohnsitze" verfügten. Das wäre ja nun an sich nicht weiter schlimm gewesen, wenn es nicht einige Probleme nach sich gezogen hätte. Mit einem solchen ,,ordentlichen Wohnsitz" waren nämlich gar nicht so selten auch Vergünstigungen verbunden welche die Herrschenden ihren Bürgern zuteil werden ließen. So konnte man zum Beispiel an manchen Orten eine geförderte Wohnung bekommen, ja in manchen Grafschaften sogar billig ein Haus bauen. Man bekam Unterstützung, wenn man täglich an einen fernen Arbeitsort fahren musste oder erhielt verbilligten Zutritt zu den Freizeiteinrichtungen. Lang wäre die Liste, die ich Euch hier noch aufzählen könnte.
Das verleitete so manchen, hurtig einen „ordentlichen Wohnsitz“ auch dort anzugeben, wo er in Wirklichkeit gar keinen hatte, um dieser Benefizien habhaft zu werden und solcherart Geld zu sparen. Dieses Geld drohte nun aber im Lauf der Zeit den Herrschenden an allen Ecken und Enden auszugehen!
Groß wurde auch die Verbitterung jener Beamten, die im Auftrag der Herrschenden die Register der Meldungen zu betreuen hatten und diesem Treiben ohnmächtig zuschauen mussten. Alle zehn Jahre schlug aber für die Herrschenden in den Städten und Gemeinden die Stunde der Wahrheit. Dann wurde nämlich das Volk gezählt und je mehr eine Kommune an Bürgern aufweisen konnte, desto mehr Geld bekam sie fürderhin von den Landesfürsten, die dieses Geld ihrerseits vom Säckelwart der Staatsherrscher erhielten.
Natürlich durfte jeder Mensch nur ein Mal gezählt werden, sodass alsbald ein heftiges Ringen um jene einsetzte, die über mehrere „ordentliche Wohnsitze“ verfügten.
Das, liebe Leute, war der Zeitpunkt, an dem das Wohnsitzgespenst zum Leben erwachte. Lang hatte es geruht, ehe es vor nunmehr dreißig Jahren erstmals - vorerst noch eher unscheinbar - aus einer Ritze kroch. Es entfachte damals einen kleinen Streit zwischen zwei Gemeinden, der von den höchsten Richtern des Landes aber alsbald beigelegt werden konnte und entschwand dann wieder.

Die Ruhe war trügerisch

Zehn Jahre später, als es wieder galt, die Häupter zu zählen, da zeigte das Wohnsitzgespenst urplötzlich seine Macht. Es säte Zank und Hader, entzweite Städte und Gemeinden und ließ die Herrschenden erstmals zu einem Mittel greifen, das seit damals als „Wohnsitzreklamation“ in die Schriften der Rechtsgelehrten Einzug gefunden hat. Wieder wurden die höchsten Richter angerufen und diesmal hatten sie keine andere Wahl - sie ordneten an, dass weite Teile der Zählung wiederholt werden mussten. Groß war der Triumph des Wohnsitzgespenstes und aus jedem der zigtausend Streitfalle schöpfte es neue Kraft.
Eine kleine tapfere Schar von Beamten nahm den verzweifelten Kampf auf und in wochenlangem Ringen gelang es, neue Ergebnisse der Zählung vorzulegen, die letztlich - wenn auch mit Heulen und Zähneknirschen der Herrschenden in Städten und Gemeinden - bei den Höchstrichtern Zustimmung fanden.
Wieder schien es, als ob das Wohnsitzgespenst zurückgedrängt worden wäre. Doch diesmal wollte man vorsichtiger sein! Als in dem besagten Lande neuerlich eine Zählung des Volkes bevorstand, setzten sich Vertreter der Städte und Gemeinden zusammen, um eine Lösung zu finden, die das Wohnsitzgespenst bannen sollte. An einem grauen Herbsttag wurde dann tatsächlich - nach jahrelangem Ringen - zu mitternächtlicher Stunde in jenen heiligen Hallen, die von der Göttin der Weisheit bewacht werden, eine Vereinbarung beschworen, die klare Wohnsitzregeln ergeben sollte. Doch ach und weh - wie hatten sich alle getäuscht. Kaum nahte der Tag der Zählung, erwachte auch das Wohnsitzgespenst wieder und siehe, es war mächtiger denn je!
Es nistete sich in die Köpfe der Stadthäuptlinge und der Dorfältesten ein und veranlasste diese zu ganz unterschiedlichen Aktionen. Während manche die umstrittenen Bürger zum Abendessen einluden, um sie für sich zu gewinnen, schreckten andere nicht davor zurück, ältere Leute daran zu erinnern, dass die Pfütze in den Altersheimen vornehmlich Einheimischen zustünden und dies im übrigen auch für Grabstätten gelte. Kurzum, der Streit trieb manch garstige Blüten. Und so kam es, wie es kommen musste und wie das Wohnsitzgespenst es gewollt hatte: Am Ende der Zählung blieben 126.000 Bürger umstritten und die Beamten, die als Schiedsrichter aufgerufen waren, hatten alle Hände voll zu tun. Es gab nur acht winzige Dörfer, die nicht in diesen Trubel hineingezogen worden waren. Dem Wohnsitzgespenst war es gelungen, fast das ganze Land in seinen Bann zu ziehen!
Eineinhalb Jahre später und mit einem Aufwand von 50 Millionen kostbarer „Alpendollar“ (so nannten sie ihre Münzen liebevoll) konnte jedoch auch dieser Spuk gebannt werden. Landauf, landab wurde zwar über das Ergebnis der Zählung gejammert, aber siehe - es lief keine Gemeinde zu den hohen Richtern und letztlich waren doch (insgeheim) alle zufrieden.
Doch eines war jetzt klar: Mit dem Wohnsitzgespenst musste nun ein für allemal aufgeräumt werden! Wieder setzten sich die Verantwortlichen zusammen und zwar diesmal mit dem festen Vorsatz ganz neue Lösungen zu suchen. Der „ordentliche Wohnsitz“, der seinem Namen nicht gerecht werden konnte, wurde aus den Schriften der Rechtsgelehrten verbannt und musste dem „Hauptwohnsitz“ weichen. Jeder Bürger durfte fortan nur mehr einen solchen „Hauptwohnsitz“ haben und damit dies ganz eindeutig sei, beschloss man, diese Bestimmungen in die höchsten Vorschriften, die sie „Verfassung“ nannten, aufzunehmen.
Obwohl diese Beschlüsse nicht zur Geisterstunde, sondern am helllichten Tag gefasst worden waren, werden seither einige der Beratenden den Verdacht nicht los, dass das Wohnsitzgespenst mit im Raum war - und die Entwicklung der letzten Zeit scheint ihnen Recht zu geben. Als der Hauptwohnsitz eingeführt wurde, schien am Anfang alles klar und eindeutig: Hatte jemand zwei Wohnsitze, so musste er prüfen, ob er auch an beiden wirklich „lebte" und wenn ja, dann hatte er selbst seinen Hauptwohnsitz nach dem „überwiegenden Naheverhältnis“ zu bestimmen. Aber gerade an dieser Selbstbestimmung knüpfte das Wohnsitzgespenst mit großer Arglist an. An Stelle des „überwiegenden Naheverhältnisses“, welches in den Rechtsvorschriften für familiäre und soziale Eingebundenheit stand, traten alsbald zutiefst materielle Umstände wie „Parkpickerl“, „Wunschkennzeichen“ usw. Aber damit nicht genug. Auch manche Stadtoberhäupter oder Gemeindeherrscher hatten sehr bald erkannt, dass bei der Bestimmung des Hauptwohnsitzes der eine oder andere Bürger den Verlockungen des schnöden Mammons erliegen könnte und alsbald setzte daher ein garstiges Treiben ein. Bezahlte der eine das neue Autokennzeichen, versprach der andere Gutscheine, der dritte verloste ein Auto und der vierte überlegte gar, ein Grundstück unter den anmeldewilligen neuen „Hauptwohnsitzern“ auszuspielen. Das alles nur, weil sie glaubten, im Interesse ihrer Gemeindefinanzen so handeln zu müssen. Manche verstiegen sich sogar zur Feststellung, dass diese Meldung ohnehin nur zum Zeitpunkt der Zählung des Volkes gelten müsse - danach könne der Bürger wieder tun und lassen, wie es ihm beliebe. Das Wohnsitzgespenst schwebte über der ganzen Szene und freute sich diebisch über das Ungemach, das es anrichtete - den aufrechten Bürgern aber graute vor all diesem unwürdigen Kuhhandel und diesen nahezu betrügerischen Machenschaften. Wie lange - so fragten sie sich - sollen wir hier noch zuschauen und wie lange sollen wir uns von diesem Wohnsitzgespenst und denen, die seinen Einflüsterungen erliegen, noch auf der Nase herumtanzen lassen?
Darum, oh Rat der Weisen in den heiligen Hallen, Ihr Stammesfürsten, Häuptlinge und Dorfältesten hütet Euch, auf dass nicht das Volk, um endlich von diesem unseligen Wohnsitzgespenst befreit zu sein, diejenigen, die es immer wieder heraufbeschwören, mit Fluch und Verdammnis belegt. Wisset, dass Ihr und nur für, indem Ihr den Hauptwohnsitz von allen unnötigen Benefizien befreit und die Bürger endlich frei und unbeeinflusst entscheiden lasset, es seid, die das Wohnsitzgespenst endgültig bannen können. Und an eines möchte der Erzähler Euch am Schluss seiner Geschichte auch noch erinnern: Gespenster sterben - wie wir alle wissen - nie, man kann sie nur durch gute Taten erlösen. Darum gehet endlich in Euch und setzet diese guten Taten!