Mit dem Durchgriffsrecht ist keine Zwangseinweisung erlaubt, der Bescheid ersetzt aber alle nach bundes- und landesrechtlichen Vorschriften vorgesehenen Bewilligungen, Genehmigungen oder Anzeigen. Mit anderen Worten ist damit eine völlige Genehmigungsfreischreibung, insbesondere von Baubewilligungen und anderen durch Gemeinden zu vollziehenden Bewilligungen vorgesehen. Foto: Shutterstock

Gesetz lässt jede Menge Fragen offen

Der Nationalrat hat am 23. September 2015 das Bundesverfassungsgesetz über die Unterbringung und Aufteilung von hilfs- und schutzbedürftigen Fremden (BVG Unterbringung), BGBl I 120/2015, beschlossen. Dieses zur Gänze im Verfassungsrang stehende Gesetz berührt Gemeindeinteressen in erheblicher Weise.





Die Bereitstellungspflicht der Gemeinden setzt zunächst eine Verordnung der Bundesregierung voraus, mit der ein entsprechender „Bedarf“ festgestellt wird (Art. 2 Abs. 2 BVG Unterbringung). Wenn dieser Bedarfsfall festgestellt wird, ist jede Gemeinde ex lege verpflichtet, „die erforderliche Anzahl von Plätzen für die Unterbringung von hilfs- und schutzbedürftigen Fremden bereitzuhalten“. Als Gemeinderichtwert für die erforderliche Zahl von Unterbringungsplätzen sind 1,5 Prozent der „Wohnbevölkerung“ vorgesehen, dieser kann aber per Verordnung erhöht oder herabgesetzt werden. Da das Gesetz den Begriff der Wohnbevölkerung nicht definiert, ist unklar, ob zu den Personen mit regulärem Hauptwohnsitz auch noch Personen mit Zweitwohnsitz oder etwa – in Gemeinden, die Strafvollzugsanstalten beherbergen – auch die Zahl der dort angehaltenen Strafgefangenen hinzuzurechnen ist; meines Erachtens ist nur auf Personen mit Hauptwohnsitz abzustellen.



Weiters ist fraglich (aber wohl zu verneinen), ob solchermaßen untergebrachte Fremde die „Wohnbevölkerung“ vermehren, was zur Folge hätte, dass die Erfüllung der Unterbringungspflicht zu einer Erhöhung der bereitzustellenden Plätze führen könnte. Jedenfalls sind hilfs- und schutzbedürftige Fremde, die in Einrichtungen des Bundes (z. B. in Traiskirchen) oder der Länder (nicht jedoch in solchen karitativer Einrichtungen) untergebracht sind, auf die Erfüllung des Gemeinderichtwerts anzurechnen. Zwar wird die Missachtung der Bereitstellungspflicht der Gemeinden – wenn man einmal vom „Durchgriffsrecht“ des BMI absieht – durch das BVG Unterbringung nicht unmittelbar sanktioniert. Dennoch drohen den Gemeinden finanzielle Risken, wenn man jene Rechtsprechung des OGH (24.2.2003, 1 Ob 2727/02k) bedenkt, wonach karitative Einrichtungen ihre Unterbringungsaufwendungen, die nach dem Gesetz eine Gebietskörperschaft hätte tragen müssen, bei dieser Gebietskörperschaft einklagen können. Auf die Regressmöglichkeit der Gemeinden nach Art. 5 des sogenannten Konsultationsmechanismus sei hingewiesen.



Nicht minder problematisch ist das sogenannte „Durchgriffsrecht“ (Art 3 BVG Unterbringung). Demnach wird die BMI ermächtigt, mit Bescheid „die Nutzung und den Umbau von bestehenden Bauwerken oder die Aufstellung beweglicher Wohneinheiten“ (z. B. Wohncontainer) „auf Grundstücken, die im Eigentum des Bundes oder diesem zur Verfügung stehen“ (also etwa angemietete Bauwerke oder Flächen) anzuordnen. Zwar ist damit keine Zwangseinweisung (in der Art einer Beschlagnahme von Privat- oder Gemeindegrundstücken) erlaubt, der Bescheid ersetzt aber alle nach bundes- und landesrechtlichen Vorschriften vorgesehenen Bewilligungen, Genehmigungen oder Anzeigen. Mit anderen Worten ist damit eine völlige Genehmigungsfreischreibung, insbesondere von Baubewilligungen und anderen durch Gemeinden zu vollziehenden Bewilligungen (z. B. nach Landes-Luftreinhalterecht) vorgesehen. Im Detail gilt Folgendes:



Der Nutzungsbescheid der BMI setzt zunächst voraus, dass das betroffene Bundesland seine Unterbringungspflicht nach Art. 1 Abs. 4 des Art. 15a-Grundversorgungsvereinbarung nicht erfüllt hat und dass im betroffenen politischen Bezirk bei der Unterbringung hilfs- und schutzbedürftiger Fremder der Bezirksrichtwert (= Gemeinderichtwert = grundsätzlich 1,5 Prozent der Wohnbevölkerung) nicht erreicht wurde. Weiters sind primär Grundstücke in Gemeinden zu nutzen, die den Gemeinderichtwert nicht erfüllen; von dieser Voraussetzung kann aber abgewichen werden, sodass – zumindest nach dem Gesetzestext – auch Gemeinden betroffen sein können, die den Gemeinderichtwert durchaus erfüllen. Zwar sieht Art. 3 Abs. 3 BVG Unterbringung vor, dass auf einem „Grundstück“ nicht mehr als 450 hilfs- und schutzbedürftige Fremde untergebracht werden dürfen, eine Missachtung dieser Vorgabe durch die BMI wäre allerdings nicht sanktioniert; die Regelung ist überdies dadurch belastet, dass die Anknüpfung an „Grundstücke“ nicht geeignet erscheint, den intendierten Zweck zu erfüllen: Sofern nur mehrere „Grundstücke“ nebeneinander genutzt würden, könnten daher weit mehr als 450 hilfs- und schutzbedürftige Fremde auf engem Raum gesetzeskonform untergebracht werden.



Wie schon festgehalten, ersetzt der Anordnungsbescheid der BMI alle Bewilligungen und Genehmigungen, die nach Bundes- und Landesrecht sonst erforderlich wären. Damit wird auch erheblich in die Gemeindeautonomie eingegriffen (das ist mit ein Grund, weshalb das Gesetz im Verfassungsrang abgesichert werden musste). Das bedeutet weiter, dass die Gemeinden keinen behördlichen Zugriff auf solche Unterbringungseinrichtungen haben; bau- und raumordnungsrechtliche Vorschriften sind grundsätzlich nicht mehr anwendbar (Art. 3 Abs. 5 B-VG Unterbringung). Folglich könnte die BMI Unterbringungseinrichtungen etwa auch im Grünland schaffen. Nachdem die BMI zunächst einen vorläufigen Anordnungsbescheid erlassen hat (der allerdings die Unterbringung bereits wirksam zulässt), hat die Bezirksverwaltungsbehörde zu prüfen, ob die geplante Unterbringung den Kriterien von „Festigkeit, Brandschutz, Hygiene, Nutzungssicherheit und Umweltverträglichkeit ... im erforderlichen Ausmaß“ entspricht. Verneinendenfalls hat sie dies der BMI mitzuteilen, woraufhin die BMI „jene Maßnahmen zu ergreifen (hat), die – im Hinblick auf den Verwendungszweck und die voraussichtliche Nutzungsdauer – Festigkeit, Brandschutz, Hygiene, Nutzungssicherheit und Umweltverträglichkeit im unerlässlichen Ausmaß gewährleisten“, und den endgültigen Nutzungsbescheid erlassen kann; dieser ersetzt den vorläufigen Nutzungsbescheid und wie dieser alle sonst erforderlichen bundes- und landesrechtlichen Bewilligungen und Genehmigungen.



Adressat solcher Nutzungsbescheide ist der „Grundstückseigentümer“, also entweder der Bund selbst oder jene Person, die das Grundstück dem Bund zur Verfügung überlassen hat, daher insbesondere nicht die betroffene Gemeinde. Bemerkenswert ist auch die Zustellung solcher Nutzungsbescheide der BMI. Sie hat nämlich nicht nach dem sonst üblichen Zustellgesetz, sondern „durch Kundmachung an der Amtstafel der Gemeinde oder durch Kundmachung auf dem Grundstück zu erfolgen“.



Insgesamt bewirkt also das BVG Unterbringung erhebliche Eingriffe in die bundesstaatliche Kompetenzverteilung, in die Gemeinde-autonomie, aber auch in die Rechte künftiger Nachbarn solcher Einrichtungen: Da Genehmigungs- und Bewilligungsverfahren nach den verschiedenen Materiengesetzen nicht mehr erforderlich sind, entfallen auch die diesbezüglich vorgesehenen Parteistellungen und Mitsprachemöglichkeiten von Nachbarn. Dies führt zur Rechtschutzfrage: Zwar sind Bürgermeister betroffener Gemeinde mindestens eine Woche vor Erlassung der Nutzungsbescheide sowie vor Beginn der Unterbringung zu verständigen, eine Parteistellung der Gemeinden ist jedoch nicht vorgesehen und nach den Absichten des Gesetzgebers wohl auch nicht gewünscht. Folglich ist auch unklar (nach den Gesetzesabsichten aber wohl eher zu verneinen), ob die Gemeinden Rechtsmittel (Bescheidbeschwerde) gegen solche Nutzungsbescheide des BMI erheben können. Wenn das – wie wahrscheinlich – nicht der Fall ist, könnten sich Gemeinden auch gegen rechtswidrige Nutzungsbescheide (etwa solche, die Gesichtspunkten der Hygiene oder des Brandschutzes nicht ausreichend Rechnung tragen) nicht zur Wehr setzen. Ähnlich schlecht ist der Rechtsschutz für betroffene Anrainer und andere Nachbarn ausgestaltet: Das Gesetz sieht ihn schlechthin nicht vor. Einzelne Bestimmungen ließen sich aber auch anders interpretieren. So ordnet Art. 3 Abs. 6 letzter Satz an, dass das Bundesverwaltungsgericht auf Antrag des „Beschwerdeführers“ (wer das sein kann, sagt das Gesetz leider nicht) einer Beschwerde aufschiebende Wirkung zuerkennen muss, „wenn aufgrund der Nutzung des Grundstückes eine Gefahr für Leben und Gesundheit Dritter droht“; diese Bestimmung könnte so gedeutet werden, dass zumindest die Nachbarn, deren Leben oder Gesundheit (etwa infolge statischer Mängel) bedroht wäre, binnen vier Wochen ab Kundmachung des Bescheides an der Amtstafel Beschwerde erheben können. Ob dies der Fall ist und ob auch andere Nachbarn oder Gemeinden vielleicht doch beschwerdelegitimiert sind, wird erst durch die Rechtsprechung zu klären sein. Im Rahmen einer solchen Beschwerdeführung könnte letztlich (Art. 144 B-VG) auch getestet werden, ob das BVG Unterbringung mit seinen erheblichen Eingriffen in Länderkompetenzen, in die Gemeindeautonomie und in den rechtsstaatlichen Schutz der Nachbarn allen bundesverfassungsrechtlichen Anforderungen (Art. 44 Abs. 3 B-VG) entspricht.



Der Nutzungsbescheid des BMI ersetzt zwar alle bundes- und landesrechtlichen Genehmigungs- und Bewilligungserfordernisse, schneidet aber den zivilrechtlichen Nachbarschutz nicht ab. Nachbarn, die sich durch Unterbringungseinrichtungen im Sinne von § 364 AGBG als unzumutbar belästigt erachten (etwa durch Lärmemissionen), könnten daher eine Unterlassungsklage gegen den Betreiber der Einrichtung bei den Zivilgerichten erwägen. § 364a AGBG steht dieser Klagemöglichkeit nicht in Wege, (wenn und) weil die Nachbarn im Verfahren zur Erlassung des Nutzungsbescheids keine Mitspracherechte haben. Auch wird man nicht sagen können, dass die tatsächliche Unterbringung auf solchen Grundstücken selbst in Hoheitsverwaltung erfolgen würde, sodass die Unterlassungsklage aus diesem Grund unzulässig wäre.



Das BVG Unterbringung gilt befristet bis zum 31. Dezember 2018. Nach den Gesetzesmaterialien soll das Außerkrafttreten des BVG Unterbringung allerdings „die Rechtswirkungen der Bescheide, die aufgrund dieses Bundesverfassungsgesetzes erlassen worden sind, unberührt“ lassen, sodass die Unterbringungseinrichtungen weiter für die Unterbringung hilfs- und schutzbedürftiger Fremder genutzt werden dürfen.



In rechtspolitischer Würdigung des Gesetzes fallen nicht bloß die angesprochenen Eingriffe in Länderkompetenzen, in die Gemeindeautonomie und in den rechtsstaatlichen Nachbarschutz auf, sondern gilt es auch Folgendes zu bedenken: Die sogenannte „Flüchtlingskrise“ (die pauschale Qualifikation aller Migrationswilligen als „Flüchtlinge“ gilt in den Leitmedien als ausgemacht) kam weder unvorhergesehen noch ist sie unabwendbar. Sie kündigte sich seit geraumer Zeit an und ihr Ausmaß hängt auch damit zusammen, dass sowohl das Schengen-Recht (Kontrolle der EU-Außengrenzen) als auch das Dublin-Recht (über die unionsinterne Zuständigkeitsverteilung in Asylangelegenheiten) als auch das österreichische Grenzkontroll- und Fremdenpolizeirecht – gelinde gesagt – nur halbherzig vollzogen wurden und werden. Dass anstelle der Durchsetzung der bestehenden Unions- und nationalen Rechtsordnung mit einem Maßnahmen-Verfassungsgesetz sowohl die Gemeindeautonomie als auch grundlegende Rechte der Staatsbürger beschnitten werden, hat einen mehr als bloß unangenehmen Beigeschmack.